Grimma (kobinet) Heute vor vier Jahren protestierten behinderte Menschen am Spreeufer, unweit des Reichstages für ihre Gleichstellung und Selbstbestimmung. Über Nacht hatten sich einige am Geländer der Spree in der Bannmeile angekettet. Herausgekommen ist leider nicht die erhoffte Verpflichtung zur Barrierefreiheit im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz, aber ein gelungener Auftakt für eine Bewegung, die hart für jedes Stück Selbstbestimmung im Bundesteilhabegesetz kämpfte. Jens Merkel erinnert in seinem Blog der LIGA Selbstvertretung Sachsen an diese Zeit und fragt sich in seinem Beitrag, ob wir eine Behindertenbewegung 3.0 brauchen.
Beitrag von Jens Merkel
Heute vor vier Jahren sollte im Bundestag das neue Behindertengleichstellungsgesetz BGG verabschiedet werden. Und natürlich stand auch die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetz so langsam auf der Tagesordnung. Die Behindertenbewegung hatte für diesen 11./12. Mai 2016 eine Aktion vorbereitet, die es – so meine Erinnerung – seit den Protesten rund um das Frankfurter Urteil nicht gab. Daraus entwickelte sich in den 1980er Jahren eine Behindertenbewegung rund um die Themen „selbstbestimmt Leben“ sowie „politische Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen“.
Nach der politischen Wende in Deutschland kam die Bewegung auch in die neuen Bundesländer. 1993 beantragte ich zum ersten Mal für mich Leistungen zur persönlichen Assistenz. Als ich an dem Punkt war, dass eine Klage beim Sozialgericht lag und der Richter mich persönlich anrief und mich im Vorfeld der mündlichen Verhandlung darüber informierte, dass er den Antrag ablehnen müsste und werde, gab ich auf und sicherte meine Assistenz in den nächsten 9 Jahren über verschiedene Pflegedienste. Natürlich nicht bedarfsgerecht, aber man arrangierte sich.
Im Mai 2001 war ich zu einem Vortrag zur persönlichen Assistenz in Leipzig. Dies war für mich dann der Anlass, es nochmal zu versuchen. Am 8. Juni 2001 ging der Antrag zum damalig zuständigen Kostenträger. Es dauerte knapp 11 Monate bis ich schließlich, wie berichtet, am 1. Mai 2002 mit meinem ersten Assistenten den ersten Tag im Arbeitgebermodell verbrachte. Vor 11 Tagen wurde meine Assistenz also volljährig. Eine Zeit also, um ganz wenig zurück zu schauen, aber vor allem nach vorn!
Zurückblickend war vieles gut, was in diesen 18 Jahren alles geschah. Vieles davon ging aber viel zu langsam. Und aus heutiger Sicht war aber auch so einiges verkehrt. Die Kostenträger nahmen (und nehmen) uns doch gar nicht ernst! Nehmen wir doch nur mal die Assistenz im Krankenhaus. Gerade jetzt zu Zeiten des Corona-Virus weiß doch nur eine Minderheit sämtlichen Krankenhauspersonals geschweige denn der Kostenträger, weshalb dieses Instrument der Assistenz im Krankenhaus so wichtig für uns Menschen mit Assistenzbedarf ist.
Aber zurück zur Behindertenbewegung. Von Mai bis Dezember 2016 flackerte sie richtig derb. Da gab es Aktionen, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Da hatten wir in der Nacht vom 11. zum 12. Mai 2016 richtig Glück mit dem Wetter, als sich etwa 100 Leute am Reichstagsufer gegenüber den Grundgesetztafeln anketteten und so auf die Situation von Menschen mit Behinderungen aufmerksam machten. Ich glaube, ich war zu dieser Zeit gefühlt einmal pro Woche in Berlin. Wir diskutierten über Mail und persönlich mit den Verantwortlichen in den Ministerien und in den Parlamenten von Bund und Ländern.
Auch wenn ich heute sage, dass es mir persönlich damals zu langsam ging, haben wir doch gezeigt, dass wir es doch immer noch können. Ja wir können nicht nur Gespräche an runden und eckigen Tischen oder Proteste an Spreeufern oder Ministerien, nein wir können auch diplomatisch sein. Damals entstand übrigens der Hashtag „#NichtmeinGesetz“, mit dem wir es für kurze Zeit sogar auf Platz 1 der Twitter-Trends geschafft hatten. Und es entstand die „Behindertenbewegung 2.0“.
Aber vier Jahre nach dem Flackern der Behindertenbewegung müssen wir m. E. mal wieder ein paar Scheid Holz nachlegen. Ja wir brauchen nach meiner Meinung nach eine neuere Behindertenbewegung, wir brauchen eine Behindertenbewegung 3.0!
Was ist dabei zu tun? Nicht nur ist sämtliches Krankenhauspersonal inklusive Ärzte und leitendes Personal über die Notwendigkeit von Assistenz im Krankenhaus aufzuklären, nein es müssen zuallererst sämtliche Kostenträger über die Notwendigkeit und den Sinn von Assistenz im Alltag für Menschen mit Behinderungen aufgeklärt werden.
Wir als Menschen mit Behinderungen im Allgemeinen und Menschen mit Assistenzbedarf im Besonderen müssen endlich die Zügel wieder straffer ziehen.
Und ich erinnere schon jetzt daran: spätestens im Herbst nächsten Jahres sind Bundestagswahlen. Wenn wir unsere Rechte, unsere Menschenrechte umsetzen wollen, dann müssen wir als Abgeordnete für eine der demokratischen Parteien in den Parlamenten kandidieren. Wir müssen auf uns aufmerksam machen. Aber das nicht nur zu Wahl(kampf)zeiten! Also ran an die Arbeit. Und wie sang einst die Band Keimzeit: „Irre ins Irrenhaus, die Schlauen ins Parlament!“ Übrigens Videokonferenzen funktionieren nicht nur zu Corona-Zeiten!
Es geht gerade jetzt zu Corona-Krise-Zeiten nicht nur um Leben und Tod, es geht einfach nur ums Menschenrecht!