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Solidarität, um drohendes Unrecht abzuwenden

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Brüssel / Berlin (kobinet) "Risikogruppe Menschen mit Behinderung – was wir jetzt tun müssen". Zu deisem Thema hat Katrin Langensiepen, Abgeordnete des Europäishen Parlaments der Grünen, letzten Freitag zu einem Webinar eingeladen. Solidarität zwischen allen Menschen mit Behinderung, ein reger Austausch sowie Vernetzung und Wachsamkeit, um als starkes Bündnis diese Krise zu meistern und drohendes Unrecht abzuwenden, sei das Gebot der Stunde. Dies berichtet Jessica Schröder von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) u.a. in ihrem Bericht über das Webinar für die kobinet-nachrichten.



Bericht von Jessica Schröder

„Risikogruppe Menschen mit Behinderung – was wir jetzt tun müssen“ – Webinar der Grünen

Die Corona-Pandemie und ihre handlungsleitenden Konsequenzen wie Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen, die stark eingeschränkte Verfügbarkeit von medizinischen, pflegerischen, therapeutischen und medizinisch-therapeutischen Angeboten, stellt Menschen mit Behinderung, chronischen Krankheiten und psychischen Beeinträchtigungen vor gravierende Herausforderungen. Die komplette Umstrukturierung des Alltags, die Minderung der Lebensqualität, weil wesentliche Bedarfe nicht abgedeckt werden können, die Bewältigung von Ängsten, die durch die Isolation, die Coovid-19-Prognosen für Risikogruppen und kursierende Empfehlungen der intensivmedizinischen Fachgesellschaften geschürt werden und eine Vielzahl anderer lebenseinschränkender Faktoren, müssen von uns gegenwärtig geschultert werden. Um die Last ein wenig erträglicher zu machen, den Austausch zwischen Menschen mit Behinderung und psychischen Beeinträchtigungen und deren Organisationen zu forcieren und neue Gedankenansätze für ihre politische Arbeit zu erhalten, haben Katrin Langensiepen und Corinna Rüffer, am 3. April ein barrierefreies Webinar inszeniert.

Corinna Rüffer ist die bundespolitische Sprecherin von Bündnis90 / Die Grünen und hat der Bundesregierung in der laufenden und vergangenen Legislaturperiode durch viele Anfragen in Bereichen wie unabhängige Teilhabeberatung, den Ausbau digitaler Barrierefreiheit und zur Barrierefreiheit der Infrastruktur ordentlich Druck gemacht und durch vielfältige Denkanstöße und Lösungsvorschläge in Bezug auf Gesetzesinitiativen die bundespolitische Landschaft stark geprägt. Katrin Langensiepen ist seit Mai 2019 ein neues Gesicht im Europaparlament, ebenfalls parteipolitisch verortet bei den Grünen. Sie ist Vorsitzende der fraktionsübergreifenden Gruppe zu Behinderung im EU-Parlament und Vizevorsitzende im Soozialausschuss. Sie ist die einzige deutsche Abgeordnete mit sichtbarer Behinderung im EU-Parlament und verstärkt ihre Sichtbarkeit durch eine Vielzahl von Aktivitäten, beispielsweise zur Wiederbelebung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie sowie der Erarbeitung von Partizipationsstandards von Menschen mit Behinderung in allen politischen Bereichen und Ebenen.

Damit auch die außerparteiliche Ebene ein Gesicht in diesem Webinar erhielt und um anhand einer Bevölkerungsgruppe exemplarisch aufzuzeigen, wo gravierende Nachholbedarfe seitens des Bundes und der Länder bestehen, wurde Julia Propst, gehörlose Aktivistin und Bloggerin, als Rednerin und Vertreterin der gehörlosen Menschen in Deutschland zu diesem Webinar eingeladen. Julia Propst hat sich mit einer vielbeworbenen Petition auf Change.org, für die Bereitstellung von barrierefreien Informationen zur Corona-Pandemie in den öffentlich-rechtlichen Medien, auf den Informationskanälen der Bundesregierung und allen relevanten Akteuren, wie dem Robert-Koch-Institut eingesetzt. Ihr Einsatz und die damit verbundenen Forderungen stießen auf rege Resonanz in den sozialen Medien und führten in Konsequenz zu einem stärkeren Ausbau der Informationsangebote mit Gebehrdensprach-Dolmetschung zur Corona-Pandemie.

In dem anderthalbstündigen Webinar wurde schnell klar, dass besonders das Thema der medizinischen und Infektionsschutz geleiteten Behandlung von sogenannten Risikogruppen, wie alten, chronisch kranken Menschen und solchen mit einer Behinderung, verbunden mit einer Störung der Immunabwähr und/oder körperlichen und muskulären Erkrankungen, die vermeintlichen Rückschluss auf die prognostizierte Lebensqualität und Lebenserwartung zulassen, allen Teilnehmenden und Rednerinnen des Webinars große Sorge bereitet. Nachdem die Fachgesellschaften zur Intensivmedizin ihre Empfehlungen zur Triage veröffentlicht hatten, die bei der Zuteilung von knappen Ressourcen zur Beatmung, Menschen mit einer prognostizierten niedrigeren Lebenserwartung, einem instabilen Gesundheitszustand und anderer Faktoren wie Immunabwehr, Vorerkrankungen der Nieren, Herz, Leber und Lunge, etc., in der Ressourcenzuteilung nachrangig behandeln, blieben diese Empfehlungen seitens der Medien weitestgehend unkommentiert. Lediglich Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderung und deren Plattformen hatten genug Weitblick, um zu erkennen, welche lebensbedrohlichen Konsequenzen diese Empfehlungen für sie haben werden und kommentierten diese in Stellungnahmen und in den kobinet-nachrichten.

In ihrem Statement empörte sich Corinna Rüffer über diese Informationslücke und den fragwürdigen Umgang der öffentlichen Medien mit diesem Thema und plädierte für einen breiten politischen und medialen Diskurs, um diese Empfehlungen in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung sowie deren Organisationen, Vertreterinnen der Justiz, der Ärzteschaft und Pflegefachverbänden grundlegend zu überarbeiten und auf eine menschenrechtliche Perspektive zu stellen, die keine Hintertür für eine Depriorisierung von Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen zulässt. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Corinna Rüffer im stetigen Austausch mit Selbstvertretungsorganisationen und ehemaligen Richtern des Bundesverfassungsgerichtes, um auch rechtlich gegen die Empfehlungen argumentieren zu können.

Die Wortbeiträge der Teilnehmenden verdeutlichten, dass insbesondere Menschen mit Behinderung, bei denen seid ihrer Geburt eine geringe Lebenserwartung prognostiziert wurde, oftmals diese Prognose weit überschritten haben und medizinische Ansätze sich mit der realen Situation oft überhaupt nicht decken und so nicht als Kriterium genutzt werden dürfen, um einem Menschen die Beatmung zu verweigern, oder aufgrund knapper Ressourcen zu entziehen. Betont wurde außerdem, dass in jedem individuellen Fall die Angehörigen unbedingt in die Entscheidung miteinbezogen werden müssen.

Julia Propst illustrierte an einem sehr anschaulichen Beispiel, wie wichtig barrierefreie Informationen für gehörlose Menschen gerade in Krisensituationen sind. Fast eine Woche lang durchstreifte sie die Supermärkte nach Toilettenpapier und war ob dessen kontinuierlichen Mangels sehr irritiert. Nur durch hörende Freunde wurde sie darauf aufmerksam gemacht, dass Toilettenpapier im Zuge der Hamsterkäufe ein begehrtes und rares Gut ist, dass nur unter erschwerten Bedingungen noch zu erwerben sei. Trotz des großen Erfolges ihrer Petition beklagt sie, dass die verlässliche Bereitstellung von Gebehrdensprachdolmetschung in den öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen und den Webseiten der Bundes- und Landesregierungen immer noch große Lücken aufweist und das sich die Gehörlosencommunity hier weiter mit Nachdruck einsetzen muss. Viel zu lange wurde das Thema Gebehrdensprachdolmetschung von den Medien eher stiefmütterlich behandelt und eine stetige Sensibilisierung aller gesellschaftlichen Akteure ist dringend geboten.

In den Statements und Fragen der Teilnehmenden während des Webinars war deutlich spür- und hörbar, wie unsicher und alleingelassen sich Menschen mit Behinderung in der aktuellen Situation fühlen. Pflege und Therapiemaßnahmen werden oft nur ungenügend oder gar nicht gewährleistet, Informationen sind oft schwer verständlich, irreführend und lückenhaft, die Angst vor dem Virus und seinen Konsequenzen ist allgegenwertig und blinden Menschen fällt das Abstandhalten besonders schwer, weil sie Bodenmarkierungen nicht sehen und auf taktile Reize/Berührung angewiesen sind.

Trotz all dieser Ungewissheit schafften es die Organisatorinnen den Teilnehmenden das Gefühl zu geben, dass sie ihre Anliegen ernst nehmen und in die politische Arbeit hineintragen werden. Alle Rednerinnen plädierten für Solidarität zwischen allen Menschen mit Behinderung, regen Austausch, Vernetzung und Wachsamkeit, um als starkes Bündnis diese Krise zu meistern und drohendes Unrecht abzuwenden.