
Foto: Reiner Ott
Hamburg (kobinet) Reiner Ott hat das Glück, dass sein Wohnwagen auf einer Anlage steht, die Kleingartencharakter hat und keinen Öffentlichkeitsverkehr hat. So kann er nun in der Corona-Krise dort "campen" weil er sich dort wesentlich wohler fühlt. Diese Zeit nutzt der Psychiatrie-Erfahrene aber auch, um andere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen einer täglichen Hotline zu unterstützen. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führt mit ihm folgendes Interview:
kobinet-nachrichten: Sie haben die Corona-Krise sozusagen dazu genutzt, ins Freie zu ziehen. Wo wohnen Sie derzeit und wie kam es dazu?
Reiner Ott: Ich lebe seit 4 Jahren in den Sommermonaten auf dem Campingplatz im Osten von Hamburg. Mein „Winterquartier“ besitzt nur 23 m² und so zieht es mich jetzt schon länger raus auf den Campingplatz, wo ich für mich einfach mehr Platz zur Verfügung habe. Als Betroffener von schweren depressiven Episoden ist mir inzwischen bewusst geworden, wie wichtig für mich ein Ort ist, wo ich von meiner tägliche Arbeit als Genesungsbegleiter in der ambulanten Sozialpsychiatrie (Eingliederungshilfe) runterfahren kann.
Das nun ausgerechnet die Corona-Krise mit meinem Saison-Start zusammen fällt, ist purer Zufall. Ich hatte ursprünglich für die letzten 2 Wochen im März Urlaub gehabt, wo ich den Umzug ins „Sommerquartier“ vorbereiten wollte. Als sich Anfang März das mit Corona zugespitzt hat, habe ich mich darauf vorbereitet, meinen Urlaub komplett autonom auf den Campingplatz zu verbringen. Wie wichtig das war, mich vorzubereiten, musste ich schneller als mir lieb war, erfahren. In meiner ersten Urlaubswoche hatte ich Symptome entwickelt, die mich dann in die gesetzliche „Quarantäne“ verbannt hat, da nicht auszuschliessen ist, mich selber an dem Corona-Virus angesteckt zu haben. Inzwischen bin ich über den Berg, bin symptomfrei und wenn nicht noch etwas passiert, darf ich ab den 4. April wieder aus der Quarantäne raus.
kobinet-nachrichten: Sie nutzen diese Zeit aber auch, um andere Menschen mit psychischen Herausforderungen zu unterstützen. Was bieten Sie dafür genau an?
Reiner Ott: Als sich die Lage mit dem Corona-Virus immer mehr zuspitzte, hatten wir uns vom Verein Genesungsbegleitung und Peerberatung Hamburg e.V. (www.gbph.de) Gedanken gemacht, wie können wir den Menschen, die jetzt zu Hause eingesperrt sind, eine Unterstützung zukommen lassen können. Wir vom Verein sind alle selbst Psychiatrieerfahrene Menschen oder Menschen aus der Angehörigensicht und uns ist aus dem eigenen Erleben bewusst, wie wichtig soziale Kontakte sind. Aus diesem Grunde haben wir ganz unkompliziert innerhalb einer Stunde, die Mail- und Telefonbegleitung ins Leben gerufen.
Gegenwärtig bieten wir eine Mailbegleitung an, wo Menschen, die nicht telefonieren möchten oder können, uns einfach eine Mail schreiben und wir versuchen, ihnen in dieser Zeit zur Seite zu stehen. Parallel bieten wir seit dem 16. März täglich eine zweistündige Telefonbegleitung (jeden Tag von 17:00 – 19:00 Uhr) an, wo die Menschen uns anonym anrufen können, um Ihre Themen mit einem Psychiatri-Erfahrenen Menschen auszutauschen.
Dazu haben wir inzwischen eine Angehörigen-Telefonnummer geschaltet, wo jeden Abend ab 18:00 Uhr eine ausgebildete Angehörigenbegleitung erreichbar ist. Uns ist es wichtig, auch diesem Umfeld einen kompetenten Ansprechpartner zu geben, denn zu jedem psychiatriebetroffenen Mensch gehören auch Angehörige, die ebenfalls unter der ganzen Situation leiden.
kobinet-nachrichten: Wie wird die telefonische Beratungsmöglichkeit bisher genutzt und welche Fragen bzw. Themen beschäftigen die Menschen, die anrufen besonders?
Reiner Ott: Seit dem 16. März bis zum 1. April sind insgesammt 43 Anrufe eingegangen. Im Schnitt dauert ein Anruf ca. 20 Minuten. Anfangs war es etwas zögerlich, inzwischen wird die Telefonsprechstunde recht gut genutzt. Aktuell sind es in diesen täglichen 2 Stunden 3 bis 5 Anrufe, von Menschen aus ganz Deutschland.
Die Themen sind sehr vielfältig, die von den Menschen an uns heran getragen werden. Schwerpunktmässig handelt es sich um folgende Themen:
- Umgang mit der Einsamkeit und den Ängsten (nicht nur Angst vor Corona)
- Umgang mit der eigenen Depression
- wie schaffe ich es, trotz Kontaktverbot mir eine Tagesstruktur aufzubauen/beizubehalten
kobinet-nachrichten: Wie ist das mit der Mailberatung. Nutzen das die Leute und was steht dabei im Mittelpunkt?
Bernd Andreas Czarnitzki (Für die Mailbegleitung verantwortlich): Bisher haben drei Menschen die Mailberatung genutzt, wobei ein Kontakt „nur“ Fragen zur Durchführung unseres Angebotes hatte. Bei den anderen beiden stand hauptsächlich das Mut-Zusprechen im Fokus. Bei einer Person sollte aufgrund der Krise die Therapie enden, bei der anderen war es starke Verzweiflung. Verständnis und Hoffung verbreiten, haben beiden sehr geholfen. Vermutlich wird die Mailberatung erst in Kürze so richtig anlaufen, wenn die Corona-Krise am Höhepunkt angelangt ist.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie derzeit zwei Wünsche frei hätten, welche wären das?
Reiner Ott: Bei zwei Wünschen in dieser Zeit, ist es sehr schwierig, sich zu begrenzen. Es hakt an vielen Fronten. Das war schon vor Corona so und ist durch die Corona Krise nicht besser geworden. Wenn man sich die generelle Versorgung von Menschen mit Einschränkungen, wie zum Beispiel die Wohnungslosenhilfe oder die Zunahme an Forensik-Patienten im psychiatrischen Kontext, anschaut. Auch was den Pflegenotstand in Deutschland betrifft oder die vielen Menschen, die jetzt als systemrelevant bezeichnet werden, aber oft am unteren Ende der Verdienstspirale angesiedelt sind.
Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Menschen die Coronakrise jetzt nutzen und sich auf die inneren Werte und die jetzt geleistete Solidarität besinnen und dieses auch nach Corona noch weiter anhält.
Weiterhin würde ich mir sehr wünschen, dass von der Politik nicht nur viele Milliarden in die Wirtschaft als Hilfe gesteckt werden, sondern auch unkonventionelle Hilfsangebote jetzt mit finanziellen Ressourcen ausgestattet werden. Wir können gegenwärtig die Hotline nicht auf weitere Schultern verteilen und ausweiten, weil uns die finanziellen Ressourcen als kleiner Verein fehlen.
In diesem Sinne würde ich mir sehr wünschen, das Prinzp des „fördern und fordern“ nicht nur auf SGBII-Empfänger anzuwenden, sondern auch auf Wirtschaftsunternehmen, die jetzt Gelder vom Staat beanspruchen. Als ein mögliches Beispiel, Hotels nicht mit Geld ohne Gegenleistung zu „verwöhnen“, sondern ganz klar sagen, ihr müsst jetzt in euren leeren Hotels auch wohnungslose Menschen aufnehmen. Da gibt es viele Möglichkeiten. Um es kurz zu sagen: Einfach mal neue Konzepte der Unterstützung überdenken und diese unkompliziert und schnell mit finanziellen Mittel ausstatten. Denn die Not ist jetzt da und wird wohl in naher Zukunft noch weiter zunehmen.
kobinet-nachrichten: Danke für das Interview.
Reiner Ott: Ihnen möchte ich auch mein Dankeschön aussprechen und bitte bleiben Sie gesund!
Hintergrund:
Zu erreichen ist die Genesungsbegleitungshotline von Montag bis Sonntag zwischen 17 und 19 Uhr unter der Telefonnummer: 0176 / 54 82 00 62
Wer nicht telefonieren möchte oder kann, erreicht die Mailberatung unter: [email protected]
Angehörige können sich ab 18:00 Uhr an die Telfonnummer 0178 669 5266 wenden.
Link zum Bericht über das Beratungsangebot in den kobinet-nachrichten