
Foto: Franziska Vu ISL
Kassel (kobinet) kobient-Redakteur Ottmar Miles-Paul verfolgt seit einigen Wochen die Entwicklung und Berichterstattung zum Coronavirus. Da dieses Thema mittlerweile auch behinderte Menschen betrifft beschäftigt er sich in seinem Kommentar mit der aktuellen Situation in Sachen Corinavirus-Epidemie zwischen angemessenen Vorkehrungen und Hamsterkäufen.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Während wir die Entwicklung in Sachen Coronavirus in den ersten Wochen nach dessen Auftreten in China sozusagen aus der Perspektive der sichergeglaubten Ferne betrachten konnten, ist der Virus und die damit verbundene Epidemie mittlerweile ein gutes Stück an uns herangerückt. Bei heute Morgen vom Robert-Koch-Institut gemeldeten 534 bestätigten Infizierten mit dem Virus ist die Schnittmenge zu den über 82 Millionen Bundesbürger*innen zwar noch äusserst gering, die Auswirkungen dieser Entwicklung sind aber bereits jetzt enorm.
Neben der persönlichen Frage, wie man mit dieser Herausforderung selbst umgeht, dominieren die Nachrichten über die Verbreitung und Auswirkungen des Virus mittlerweile in hohem Maße unser wirtschaftliches und persönliches Leben. Dabei werden auch so manche Entwicklungen zu Tage gefördert, die man sich vor zwei Wochen hierzulande so noch nicht vorstellen hätte können. Wir bewegen uns dabei nach kurzer Zeit zwischen der Frage nach angemessenen Vorkehrungen, die wir als Einzelne und Gesellschaft treffen sollten, und beängstigenden Phänomenen wie Hamsterkäufe und Angstreaktionen, die große Gefahren bergen.
Ein deutlicher Indikator über die Bedeutung dieser Krise ist wie so oft die Reaktion der Wirtschaft und die Entwicklung an den Börsen. Wenn eine noch überschaubare Virusverbreitung in solch kurzer Zeit die Börsenkurse so zum Purzeln bringen, wie dies die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 verursachte, dann sind dies erhebliche Warnzeichen und Herausforderungen, die auch bald bei den Menschen ankommen dürften. Diese Epidemie zeigt uns daher mehr als deutlich auf, wie sich die Dinge in Zeiten der Globalisierung entwickelt haben und an konkreten Beispielen ernsthafte Probleme bereiten können.
Werden Lieferketten von Produkten und Materialien unterbrochen, kommen ganze Systeme ins Wanken. Wenn Grundstoffe für wichtige Medikamente von China nicht mehr nach Indien kommen, wo sie verarbeitet und weiter exportiert werden, können für Patient*innen wichtige Medikamente knapp werden. Wenn Länder dann noch Ausfuhrstopps verhängen, um diese Medikamente im eigenen Land verfügbar zu halten, verschärft dies die Situation. Atemmasken, Desinfektionsmittel etc. werden da plötzlich zu horenden Preisen schamlos gehandelt, wenn solchen Entwicklungen kein Riegel vorgeschoben wird. Auch hier ist der Raubtierkapitalismus nicht weit und sich schnell jeder selbst der Nächste. Wir haben ja in den letzten Jahren dazu gelernt, wenn America First geht, dann geht auch Ich Zuerst.
Auch wenn es zum Teil nur wenige Menschen sind, so machen die Hamsterkäufe, über die verstärkt aus verschiedenen Ländern und auch aus Deutschland berichtet wird, deutlich, wie schnell der Egoismus von Einzelnen in Notsituationen die Szene dominieren kann. Gerade bei Desinfektionsmitteln und Atemmasken kommt es mittlerweile zu Engpässen bei den Institutionen und Menschen, die dies dringend brauchen. Und das, nur damit diese meist nutzlos bei Hamsterern zu Hause rumliegen. Wie von einer Beatmungs-WG aus Bayern zu hören war, werden dort genau diese Produkte mittlerweile für die beatmeten Menschen, die diese brauchen, richtig knapp. Daher hat die Aktion Mensch mit ihrem Aufruf gegen solche Hamsterkäufe gestern ein wichtiges Zeichen gesetzt. Ob Hamsterkäufe bei Klopapier, Nudeln oder Tütensuppe, wie heute gemeldet wurde, die Menschheit hat einiges zu bieten.
Die Meldung, die heute morgen durch die Medien ging, dass Samual Koch bereits seit einer Woche in Quaräntene ist, weil er bei einer Veranstaltung beim Abendessen mit jemandem am Tisch saß, der mittlerweile am Coronavirus erkrankt ist, ist aber auch ein Beispiel, wie wichtig es ist, dass wir uns auch Gedanken über die besondere Situation machen müssen, wenn behinderte Menschen vom Coronavirus betroffen sind. Gerade Menschen mit Atembeschwerden haben es mit diesem Virus schwerer, wenn sie sich anstecken sollten. Wie wird in Quarantäne-Situationen die Persönliche Assistenz organisiert, wie wird die Unterstützung von Heimbewohner*innen, die unter Quarantäne stehen, gewährleistet und viele andere Fragen werden uns zunehmend beschäftigen. Hier dürfen wir nicht in Panik verfallen, sondern müssen bedachte Lösungen für angemessene Vorkehrungen und den Schutz der Menschen schaffen.
Die Coronavirus-Epidemie wirft aber meines Erachtens auch einige Fragen auf, über die es sich lohnt, bei der zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft Gedanken zu machen. Viele Messen und Großveranstaltungen wurden mittlerweile abgesagt, bzw. stehen vor der Frage, ob sie stattfinden können. Selbst geplante Tagungen wackeln zum Teil. Hier finde ich die Frage interessant, ob wir gerade auch im Zeitalter der Digitalisierung einiges anders organisieren könnten. Behinderte Menschen mit chronischen Schmerzen bzw. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung kaum reisen können, rufen schon länger nach Möglichkeiten der digitalen Teilhabe an solchen Veranstaltungen und Tagungen. Müssen Massen von Menschen wirklich immer quer durch die Welt oder Republik reisen, um sich effektiv auszutauschen?
Und dann sind wir auch bei der Bewegung Fridays for Future. Seit vielen Wochen machen vor allem Kinder und Jugendliche massenhaft darauf aufmerksam, wie wir unser Dasein durch unser klimafeindliches Verhalten und die politischen Rahmenbedingungen gefährden. Die ökologischen Effekte aus diesem nur sehr langsam wachsenden Bewusstsein waren bisher eher mager. Es wurde weiter geflogen auf Teufel komm raus, die Kreuzfahrten nahmen massiv zu und die Zahl der Elektroautos bzw. von Menschen, die auf Fleischprodukte verzichten, ist überschaubar. Hitzeperioden, Stürme, bisher ungeahnte Brände, Überschwemmungen, Eisschmelze etc. haben uns in den letzten Monaten zusammen mit immer neuen wissenschaftlichen Untersuchungen vorgeführt, was da auf uns zukommt. Selbst der wärmste Winter seit der Aufzeichnung der Temperaturen hat nicht sonderlich beeindruckt.
Doch wie Greta Thunberg es immer wieder sagt, das Haus brennt, aber wir essen erst einmal mit unseren Kindern unser Abendessen in aller Ruhe fertig und überlegen dann, ob wir irgendwann in der Zukunft was gegen diesen Brand tun können oder sollen, die Anderen machen ja auch nichts. Und jetzt kommt da ein Virus des Weges, der sicherlich enorme Gefahren in sich birgt, aber der hierzulande zum Beispiel im Vergleich zu den jährlichen Grippetoten noch wesentlich geringere Folgen hat. Und plötzlich bleiben Flugzeuge massenhaft am Boden, Reisen werden storniert, die Lust auf Kreuzfahrten nimmt ab und man überlegt, ob man überall wirklich dabei sein muss und mit dem Auto hindüst. Und plötzlich geht auch Telearbeit und die heilige Kuh des Fußballs findet in leeren Stadien statt.
Da wir wahrscheinlich erst am Anfang der Coronavirus-Epidemie sind und sicherlich noch einige Entwicklungen damit verbunden sein werden, die Menschen bedrohen und gewohntes einschränken, gilt es, dass wir diese Entwicklung mit Achtsamkeit für uns selbst und vor allem für Andere gestalten und daraus hoffentlich auch einiges lernen. Dabei dürfen auch die Schlagzeilen über diejenigen, die vom Egoismus getrieben sind und sich wegen Desinfektionsmitteln oder Klopapier prügeln nicht das überschatten, was wir in solchen Zeiten auch an Menschlichkeit und Risikobereitschaft für das Wohl der Anderen tagtäglich erleben. Die größte Gefahr ist und bleibt wahrscheinlich die Angst und die daraus resultierenden Reaktionen. Ein sogenannter kühler Kopf dürfte daher von uns allen gefordert sein.
Politisch betrachtet überlagern die fast minütlichen Nachrichten über die Coronavirus-Epidemie derzeit natürlich das sonstige politische Geschehen. Und auch hier gilt es aufzupassen, dass in einer solchen Atmosphäre nicht Fakten geschaffen werden, die hart erkämpfte Errungenschaften einschränken bzw. gefährden. Die Diskussion um die Intensivpflege von beatmeten Menschen, die demnächst im Deutschen Bundestag diskutiert wird, müssen wir beispielsweise aus behindertenpolitischer Sicht mitprägen, denn es kann nicht sein, dass beatmete Menschen in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden. Es gilt auch ein wachsames Auge auf die weitere Umsetzung der Bundesteilhabegesetzes zu werfen, dass hier wirklich mehr Selbstbestimmung und nicht nur mehr Bürokratie heraus kommt. Und dann ist da noch das von der Politik verursachte Drama der Flüchtlinge, das wir gerne auch verdrängen. Ein in Facebook verbreitetes Plakat bringt dies gut auf den Punkt. Dort heißt es: „Wer mit 50 kg Nudeln vorm niesenden Nachbarn flüchtet, sollte nicht anderen Menschen vorschreiben, mit ihrer Familie im Bürgerkrieg zu bleiben.“ (Link zum Plakat auf Facebook) Also auch in Zeiten der Coronavirus-Epidemie dürfen wir die Politik nicht aus den Augen lassen.