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Abgestempelt und aussortiert

Foto zeigt Margit Glasow in Aktion
Margit Glasow
Foto: Privat

Rostock (kobinet) Margit Glasow schreibt heute in einem Gastkommentar für kobinet über die schleppende Inklusion im deutschen Bildungswesen. Die freie Journalistin aus Rostock hat es satt zu hören, wie schwierig es denn sei, Kinder mit angeblichen Defiziten in die Welt der so genannten Normalen aufzunehmen.

Eigentlich habe ich mir vorgenommen, mich in der Frage der schulischen Inklusion nicht mehr zu äußern. Sie hängt mir zum Halse raus. Zu viele Besserwisser, die der Auffassung sind, sie könnten allein aus dem Grund mitreden, weil sie selbst einmal zur Schule gegangen sind. Zu viele Eltern, die sich wegen der unzureichenden Ressourcen an den Regelschulen letztendlich doch für eine Sonderschule für ihr behindertes Kind entscheiden. Zu viele Pädagogen, die überfordert sind und nach mehr Personal schreien. Vor allem zu viele Politiker, die selbstherrlich behaupten, Inklusion funktioniere nicht für alle Schülerinnen und Schüler, wenn sie am status quo festhalten wollen.

Ich habe es satt zu hören, wie schwierig es denn sei, Kinder mit angeblichen Defiziten in die Welt der so genannten Normalen aufzunehmen, und die Umsetzung von Inklusion immer wieder auf die Kostenfrage reduziert zu sehen. Ich habe es satt, mich belächeln zu lassen, wenn ich behaupte, dass sich Inklusion nicht auf einzelne Gruppen beziehe – weder auf Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, auf diejenigen nicht deutscher Herkunft noch auf solche, die aus anderen Gründen von Teilhabe ausgeschlossen werden. Ich habe es vor allem satt, dass es niemanden interessiert, was es bei den Heranwachsenden auslöst, wenn sie bereits in ganz jungen Jahren den Stempel „sonderpädagogischer Förderbedarf“ aufgedrückt bekommen. Wenn sie aussortiert werden.

Zahlen sprechen eine deutliche Sprache

Laut den statistischen Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz wurden im Jahr 2016 in Deutschland gut 523 800 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung unterrichtet. Davon entfielen 191 200 (36,5 %) auf den Förderschwerpunkt Lernen und 321 500 (63,5 %) auf sonstige Förderschwerpunkte. Neben dem Schwerpunkt Lernen waren geistige Entwicklung, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung die am stärksten vertretenen Förderschwerpunkte, wobei für den letztgenannten Schwerpunkt seit 2007 ein Anstieg von nahezu 65 % festzustellen ist.

Deutlich wird dabei aus meiner Sicht der enge Zusammenhang von Behinderung, Armut und Bildungsarmut. Die soziale Lage eines Kindes bestimmt nirgends so sehr seine Bildungsbeteiligung und seine Bildungschancen wie in Deutschland. Schauen wir uns in diesem Kontext einmal die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte und den Umgang mit ihnen genauer an, zeigt sich, dass viele Kinder aus sozio-ökonomisch schwierigen Verhältnissen immer ausgefeilter sonderpädagogischen Förderbedarfen zugeteilt werden. Kinder, die im herkömmlichen Sinne nicht behindert sind, sondern zu „Behinderten“ gemacht werden und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden (sollen).

Das Ergebnis sind viel zu viele wenig qualifizierte junge Menschen, im Extremfall sogar Menschen ohne Bildungsabschlüsse, deren Lebensweg ohne reale Zukunftschancen durch Diskriminierung, Stigmatisierung und Entsolidarisierung vorgezeichnet ist. Abgestempelt als wirtschaftlich nicht, zumindest schlecht verwertbar. Sie werden dieser Exklusion in den seltensten Fällen entkommen.

Wie vor der Resignation schützen?

Statt das Sonderschulsystem Schritt für Schritt abzubauen und Chancengerechtigkeit für alle herzustellen, soll es neben dem Regelschulsystem weiterhin erhalten werden. Egal, was das an Kosten frisst. Begründet wird das Ganze mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Eltern. In einigen Bundesländern haben die Landtagsfraktionen dazu sogar einen Schulfrieden vereinbart.

Doch worum geht es bei diesem Schulfrieden? Darum, für ALLE Schülerinnen und Schüler die Grundlagen für ein qualitativ hochwertiges, inklusives Bildungssystem zu schaffen und soziale Ungleichheiten aufzubrechen? Oder eher darum, einen Konsens aller Parteien herzustellen, um tiefgreifende Umwälzungen an den Schulen zu vermeiden? Darum, dass dieser Schulfrieden die Unantastbarkeit der bestehenden Mehrgliedrigkeit des Schulsystems, insbesondere die gymnasialen Privilegien, zementieren will? Das Recht auf Selektion anstelle der Pflicht zur Inklusion sowie die damit verbundene soziale Abschottung gegenüber den Schmuddelkindern der Gesellschaft?

Auf politischer Ebene kann ich nirgends den Willen erkennen, Inklusion als tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung zu begreifen und Sonderstrukturen konsequent abzuschaffen. Alles soll beim Alten bleiben: Es soll eine von der Wirtschaft benötigte Elite ausgebildet und ansonsten weiterhin die graue Masse der Schüler zum Spartarif verwaltet werden. Die absoluten Verlierer in diesem System sind die Schülerinnen und Schüler mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf.

Diese Kinder stehen am Ende der Schulzeit perspektivlos als sozial Beschädigte mit geringer Bildung da. Der Weg aus dieser Sackgasse kann meiner Meinung nur sein, das System der Sonderschulen – und anderer Sonderstrukturen – konsequent abzuschaffen. Dafür muss ein Ausstiegsplan entwickelt werden – ohne Sonderpädagogik und ohne abwertende Etikettierung. Das System der deutschen Sonderpädagogik ist gescheitert.

Ihre verhängnisvolle Rolle hat sie in der Zeit des Hitler-Faschismus und in der Zeit danach hinlänglich bewiesen. Es ist höchste Zeit für eine kritischen Aufarbeitung. Was wir brauchen, sind gute pädagogische Konzepte, um Schule völlig neu zu denken, einschließlich einer inklusiven Methodik und Didaktik. Gute pädagogische Förderung für alle, statt sonderpädagogischer Selektion, muss das Motto sein. Wir brauchen eine demokratische Schule für alle.

Lesermeinungen

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4 Lesermeinungen
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Annika
13.12.2019 11:47

Mein Sohn mit Downsyndrom besucht ab dem nächsten Jahr das BVJ Inklusion, das drei Jahre dauert und an einigen wenigen Berufsschulen in RLP seit 2015 eingeführt wurde. Wir haben großes Glück, in der Nähe zu wohnen.
Man fragt sich schon, warum sowas nicht flächendeckend für ganz Deutschland eingeführt wird. Es gibt genug Beispiele dafür, dass Inklusion gelingen kann. Es fehlt allein der Wille der Poltik und ich vermute der Lehrerlobby.

Michael Günter
Antwort auf  Annika
13.12.2019 20:27

Hallo Annika,
bis eben kannte ich den Begriff des BVJ Inklusion nicht – jetzt wünsche ich mir, ich hätte nicht gegoogelt…
Schon wenn ich die Definition für dasselbe lese, dann lese ich: Dieses Angebot ist für Sonderschüler und jene Schüler, die an einer Schwerpunktschule waren (implizit Schüler mit sonderpäd. Förderbedarf an einer integrativarbeitenden Schule – da keine weitere Differenzierung stattfindet, geht es wohl erstmal um genau diese Schülerschaft).
Von der Homepage einer dieser Schulen:
„Die XY (meine Einfügung) bietet im Berufsvorbereitungsjahr in inklusiver Unterrichtsform folgende Berufsfelder an:
• Ernährung und Hauswirtschaft
• Textiltechnik und Bekleidung
• Wirtschaft und Verwaltung
• Holztechnik
• Metalltechnik“

Das ist Inhalt des BBB für die WfbMs!

Auch der Blick auf den Lehrplan belegt dies:
Neben „Deutsch“ wird dort lediglich „Berufsbezogener Unterricht“ und „Praxisfach“ als Kernfach angeben (wobei mir die Differenzierung zwischen den letztgenannten nicht klar ist…) – macht aber nichts, denn dies macht 2/3 des Unterrichts aus!
Bei den Wahlpflichtfächern sieht es ähnlich düster aus:
„Berufsbezogenes Fach“ – Unterschied zu „Berufsbezogener Unterricht“ und „Praxisfach“ für mich nicht erkennbar!

„Informatik/Datenverarbeitung“ – schön, denn dies kann aber sowohl Aktenvernichtung als auch sonstwas bedeuten…

Förderunterricht – ich dachte davon wollen wir weg? Inhalt und Bezug zum Curriculum?

Fremdsprache – wow, endlich mal ein Pflichtfach an einer Berufsschule, welche 2 anderen Wahlpflichtfächer streichen sie dafür weg?
Bitte, bitte, verstehen sie mich nicht falsch, aber „Sonderschüler“ und „Hauptschüler“ in einen gemeinsamen Unterricht zu be-fördern, macht nicht Ínklusion nicht aus und hat aber nun wirklich nichts mit dem intendierten zu tun!

Uwe Heineker
13.12.2019 10:34

hintergründig/historisch sei auch auf diesen Artikel verwiesen:

http://www.basaglia.de/Artikel/bildungskommission.pdf

Deutschland befindet sich also demnach bereits seit 1973 (!!!) im bildungspolitischen Dornröschenschlaf!

Deshalb wäre zu erwägen:

https://bildungsklick.de/schule/meldung/ist-ein-untersuchungsverfahren-gegen-deutschland-notwendig/

Michael Günter
Antwort auf  Uwe Heineker
13.12.2019 19:58

Naja,
eine gewagte Behauptung wäre es, dass es vor 1973 besser war 😉
Jantzen und Feuser können als inhaltliche Vorreiter gelten, wenn es um Integration geht – eine Menge der berechtigten Kritik von Fr. Glasow stünde so auch in einem anderen – aber keinesfalls besseren – Licht!
Jantzen hat sich intensiv mit der Thematik Verantwortung im 3. Reich beschäftigt; Feuser hat schon vor 30! Jahren ein didaktisches Modell für einen allgemeinen, basalen und demokratischen Unterricht unabhängig von der Schulform vorgelegt!
Etwa genauso alt sind die Studien von Preuß-Lausitz, der belegt, dass ein integrativer Unterricht keinesfalls teurer ist als eine weiterhin differenzierte Unterrichtung im gegliederten Schulsystem – man muss nur die Ressourcen, die man auf der einen Seite einspart auf der anderen Seite auch verwenden…