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Verrichtungen oder Zeit?

Foto zeigt Ilja Seifert
Ilja Seifert
Foto: Privat

Berlin (kobinet) Ilja Seifert schickte einen Beitrag an die Redaktion, den die kobinet-nachrichten heute als Kolumne veröffentlicht. Unter der Überschrift "Verrichtungen oder Zeit?" stellt er Überlegungen zu Pflege und Talkshows zur Diskussion.

Kolumne von Ilja Seifert

„Pflege“ verkommt gegenwärtig fast zum Modethema in Talkshows. Frauen und Männer, die ansonsten – häufig für fürstliche Honorare – öffentlich über Kochrezepte, Koalitionspartner oder Klimawandel sinnieren, wenden sich jetzt eben mal diesem Thema zu. Die geballte Kompetenz prominenter Klugschwätzer kommt dann – über halsbrecherische Umwege – zu dem Schluß, daß es an Zeit für Zuwendung fehle.

Hört, hört! Verbalorgiastische Verrenkungen und tiefe Sorgenfalten führen das staunende Publikum in nahezu persönliche Betroffenheit. Und wenn dann eine Person hinzugeladen wird – wir sind schließlich sooo praxisnah -, die ihren Arbeitsalltag schildert, ist der Gipfel an Objektivität erreicht. Egal, ob als pflegende oder bepflegte Person. Am Ende gibt es langanhaltenden Applaus. Aus.

Vor, während und nach der Sendung hetzen medizinisch ausgebildete Frauen und Männer von Verrichtung zu Verrichtung. Ob im Krankenhaus oder im Pflegeheim, ob in Wohngruppen oder in ambulanten Pflegediensten. Manche der Beteiligten werden vielleicht sogar Teile dieser televisionären Gehirnakrobatik aus den Augenwinkeln wahrnehmen, während sie einen frisch operierten Patienten zur Nacht betten oder eine inkontinente Heimbewohnerin in die Windeln wickeln, in denen sie die Nacht liegen wird?

Angehörige sind keine Profies In etlichen Privathaushalten schauen sich vielleicht sogar ganze Familien – einschließlich des zu pflegenden Familienmitglieds – die Sendung gemeinsam an. Bei Chips und Bier für alle. Oder bei Schokolade und Wein? Ganz nach Geschmack. Klüger sind sie nach den megabetroffenen Abschlußworten der allesverstehenden Moderatorin nicht.

Um ihre individuelle Lebenssituation ging es ja auch gar nicht. Daß mehr als zwei Drittel aller assistierender Pflege in Familien stattfinden, wird zwar am Rande mal erwähnt, aber nicht länger erörtert. Das sind ja alles Laien. Amateure. Angehörige. Sie tun eben ihre Pflicht. Vor Ihnen kann man nur den Hut ziehen.

Aber wir reden über Fachkräfte. Profies. Wie wir. Profies reden eben mit anderen Profies über noch andere Profies. Beziehungsweise über den Mangel daran. Die wirklich Arbeitenden hetzen nämlich während ihrer Schicht von Verrichtung zu Verrichtung. Arbeitszeit ist teuer. Also muß jede Minute sinnvoll genutzt werden. Sinnvoll ist, was man ins Dokumentationsbuch schreiben und – vor allem – bei der Kasse abrechnen kann: Verrichtungen!

Diese sind in Deutschland sehr detailliert definiert. Und – wie clever! – zu „Leistungskomplexen“ zusammengefaßt. Denen ordnet man eine – mit der Stopuhr wissenschaftlich erfaßte – Zeiteinheit zu. In Minuten. Exakt wie Zauberformeln Diese Definitionen sind ungefähr genauso exakt wie die Relativitätstheorie, das Archimedische Prinzip oder die Merseburger Zaubersprüche.

Sie wurden ja auch von braven Beamten ausgedacht und niedergeschrieben. Von ihren weichen Bürosesseln aus hätten sie bei gutem Wetter lieber die klare Sicht auf das Siebengebirge genossen. Aber: Pflichtbewußte Beamte verschwenden natürlich keine Minute ihrer wertvollen Anwesenheitszeit. So über den gemächlich dahinfließenden Rhein schauend, möchte man dann ja auch Qualität abliefern.

Als Qualitätsmaßstab gilt, daß die Arbeitzeit – der Pflegepersonen, nicht die der Beamten! – so effektiv wie möglich genutzt wird. Also: Je weniger Zeit mit nichtabrechenbaren Tätigkeiten verschwendet wird, desto besser. Ein kleiner Plausch ist nicht abrechenbar. Ebensowenig eine beruhigende Hand auf der Stirn. Oder das Gießen der Blumen auf dem Balkon.

Von Zeit zu Zeit fällt alleskönnenden Staatsdienern etwas ein, wie der Arbeitszeit der pflegenden Assistentinnen durch Zusammenlegung mehrerer Verrichtungen weitere sieben Minuten hinzugefügt werden können. Das ist ein beglückender Moment im Leben jedes Beamten. Häufig sollen Ihnen ja solche genialen Gedanken bei Nasepopeln kommen. Dann nutzen sie ihre Bürozeiten eben effektiv und holen auch noch das Letzte aus sich heraus. Das wird man vom mittleren medizinischen Personal wohl auch erwarten dürfen? Also: daß sie sich im Dienst voll einsetzen. Nicht, daß sie ihre Zeit mit Popeln verbringen.

Das ließe sich ja nicht abrechnen. All das können die Talkshow-Experten natürlich nicht wissen. Was schert sie der Wunsch nach selbstbestimmtes Teilhabe auch dann, wenn das nur mit Hilfe persönlicher Assistenz möglich ist? Sie kennen schließlich das richtige Leben. Und stellen mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn fest, pflegende Assistenz bräuchte mehr Zeit …