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Was wäre, wenn?

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Foto: kobinet

Kassel (kobinet) Eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Woche liegt hinter uns. Von Protesten gegen die Anerkennung von Bluttests zum Down Syndrom als Kassenleistung, über die beeindruckenden weltweiten Fridays for Future Demonstrationen, bis zum Protest in Düsseldorf gegen die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums, wonach intensivbeatmete Menschen zukünftig nur noch in Ausnahmefällen zu Hause unterstützt werden sollen. Grund genug für kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sich Gedanken darüber zu machen: Was wäre, wenn Menschen wie Greta Thunberg oder Stephen Hawking in Deutschland gelebt hätten?

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Wer hätte vor über einem Jahr gedacht, was eine damals 15jährige Schwedin mit dem sogenannten Asperger Syndrom mit ihrem anfangs sehr einsamen freitäglichen Schulstreik vor dem schwedischen Parlament auslösen würde? Gut ein Jahr nach ihrem Streik gingen am vergangenen Freitag weltweit Millionen von Menschen auf die Straßen, um wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel einzufordern. Greta Thunberg wurde dieses Engagement nicht in ihre Wiege gelegt. Ganz im Gegenteil, wie sie in verschiedenen Interviews berichtet hat, hatte sie Zeiten, in denen es ihr sehr schlecht ging. Sie wurde gemobbt, sie hatte massive psychische Probleme, hat phasenweise fast nicht mehr gegessen und hat auch das Sprechen mit anderen weitgehend eingestellt. Sie konnte oft nicht verstehen, warum andere das was sie bewegte schlichtweg nicht auch bewegte. Aber, Greta Thunberg hat sich wieder aufgerappelt und konsequent darauf geschaut, was sie tun kann und angefangen – in ihrer unnachahmlichen Konsequenz. Dabei bekam sie mit der Zeit sicherlich viel Unterstützung von ihrer Familie und mittlerweile natürlich von vielen Menschen, die ihre Ansichten und Ziele teilen. Dabei finde ich die Frage interessant, was aus Greta Thunberg geworden wäre, wenn sie in Deutschland aufgewachsen wäre – und ob es dann eine solche Bewegung gäbe?

In Deutschland haben wir mittlerweile zum Glück auch einige Menschen mit Autismus, die sich selbst zu Wort melden, ihren Weg gehen und damit auch einiges in Bewegung setzen. Doch sie müssen dabei häufig gegen massive Widerstände ankämpfen und sehen sich mit einem Schulsystem konfrontiert, das kaum Luft für Individualität, geschweige denn individuelle Lernformen lässt. Davon kann zum Beispiel die Schülerin Joscha Röder ein Lied singen, die bereits Anfang Februar 2019 einen offenen Brief an Greta Thunberg geschrieben hatte und berichtete: „Ich (15) bin wie Du Asperger Autistin (Inselbegabungen in Fremdsprachen). Ich gehe zu einer Gesamtschule. In Englisch und Spanisch durfte ich zwei Klassen überspringen. Als ich die zehnte Klasse bestanden hatte, sollte ich wieder zurück in die Neunte und zwei Jahre sinnlos wiederholen. Greta, das ist nur einer der Punkte, wo es schiefgeht.“ Joscha Röder wird übrigens zusammen mit ihrer Mutter Sonja Röder am Montag, den 23. September auch bei der Konferenz der Bundestagsfraktion der Grünen im Deutschen Bundestag zu zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention dabei sein und von ihren Erfahrungen berichten. Hinzu kommt noch, dass hierzulande der Trend noch größer ist, Menschen zu therapieren, damit sie sich möglichst den gesellschaftlichen Normen anpassen.

Schlimmer noch, hierzulande beginnt die Aussonderung längst schon vor der Geburt. Dies hat diese Woche die Diskussion um die Anerkennung von Bluttests auf Trisomie, also Down Syndrom, deutlich gemacht. Das Streben nach dem perfekten Menschen scheint hierzulande so tief in uns drin zu sein, dass man sich nicht darum schert, welch massive Menschenrechtsverletzung und Beleidigung in solchen Diskussionen und Maßnahmen gegenüber denjenigen steckt, die mit einem Down Syndrom ihr Leben leben und natürlich auch leben wollen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist hier an vielen Stellen also noch längst nicht angekommen.

Und auch an einer anderen Front tun sich Abgründe auf. Während Stephen Hawking für seine herausragenden Forschungen von vielen geachtet und zum Teil sogar verehrt wird, wird hierzulande eine schamlose Diskussion vom Zaun gebrochen, dass Menschen, die intensive Beatmung nutzen, zukünftig nur noch in Ausnahmefällen zu Hause unterstützt werden sollen. Und das ist nicht nur eine einfach einmal losgetretene Diskussion, sondern steht in einem Referentenentwurf dieser unserer Bundesregierung für ein Gesetz. Wäre Stephen Hawking mit Glück eine dieser Ausnahmen gewesen, die nicht in eine spezielle Wohngruppe oder ein sogenanntes Heim hätte ziehen müssen, weil er auf diese Beatmung und Unterstützung angewiesen war? Hätte er hierzulande seine Forschungen betreiben können?

Ich habe große Zweifel daran, denn das anscheinend noch sehr tief in unserer Geschichte steckende Denken hierzulande ist nicht nur an vielen Stellen menschenverachtend und hat nun mal gar nichts mit der UN-Behindertenrechtskonvention zu tun, sondern bringt uns um so viele Chancen und Talente. Behinderte Menschen werden klassifiziert, es wird mit hohem Aufwand versucht, sie zur Anpassung zu therapieren und in Sondersysteme abzuschieben und auszusondern – von Barrierefreiheit und einer Willkommenskultur ganz zu schweigen. Greta Thunberg würde hierzulande wahrscheinlich nur eine Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen übrig bleiben. Wahrscheinlich würde es aufgrund der mangelnden Innovationsfähigkeit und Kreativität vieler nicht einmal zu einem Budget für Arbeit als Alternative zur Werkstatt reichen, wenn man sich die beschämenden Zahlen dazu nach über 20 Monaten des Inkrafttretens dieser Regelung anschaut.

Und wo ist nun das Positive in diesem Beitrag an einem wunderschönen Herbsttag? Das dürften sich nun viele fragen. Das Positive haben wir diese Woche auf den Straßen dieser Welt gesehen, nämlich dass Greta Thunberg einen Weg gefunden hat, die Menschen zu berühren und zu bewegen – und dass sie das immer noch so durchhält. Das zeigt nämlich, dass vieles möglich ist, auch wenn dafür so manche Systeme und althergebrachte Denkweisen erst einmal über Bord geworfen und herausgefordert werden müssen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen, inklusiven und gut druchbluteten Sonntag.