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Halle (kobinet) Die Inklusionsbotschafterin Jennifer Sonntag mischt sich weit über die Grenzen ihres Wohnortes Halle hinaus ein, um Inklusion voranzubringen. Mit Hilfe ihrer Kompetenz als Fernseh-Moderatorin, Journalistin und Sozialpädagogin, vor allem aber auch mit ihren verschiedenen behinderungsbedingten Erfahrungen, konnte sie schon viel bewegen. Andererseits stößt sie aber auch immer wieder auf "undurchblutete" Menschen, wie sie die Inklusionsblockierer*innen nennt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul sprach mit Jennifer Sonntag über ihre positiven und negativen Erfahrungen sowie über undurchblutete Inklusion und verkleidete Teilhabe.
kobinet-nachrichten: Sie engagieren sich in vielen Bereichen und setzen sich immer wieder für die Inklusion und Selbstbestimmung behinderter Menschen ein. Welche Highlights haben Sie in letzter Zeit erlebt?
Jennifer Sonntag: Ich kann am besten beschreiben, was ich selbst anfassen kann. Ich nähere mich der Inklusion auf verschiedenen Feldern, die sich gegenseitig befruchten. Als blinde TV-Frau ist es mir zum Beispiel wichtig, inklusionsrelevante Themen in die Medien zu tragen und Menschen mit Behinderung aktiver als Schaffende und als Schauende in diese Landschaften einzubinden. Fernsehen und Nichtsehen widersprechen sich aus meiner Sicht nicht und dass ich seit über 10 Jahren in diesem Bereich in verschiedenen Formaten Zeichen setzen darf, sehe ich als Inklusionserfolg, da es leider alles andere als selbstverständlich ist. Meine Themen sind aber immer auch Ergebnis meiner langjährigen sozialpädagogischen Tätigkeit und hier habe ich von Rehabilitation der alten und neuen Schule, über Integration bis Inklusion viel miterlebt, mitgestaltet und habe wertvolles Wissen anhäufen können.
Wunderbar ist, wenn man mit anderen Überzeugungstäter*innen an Projekten arbeiten kann. Egal ob Medienarbeit, Kunst, Kultur oder Peer-Beratung, ich wollte mit meinen Mitmacher*innen stets im Kleinen zeigen, was möglich ist und Vorlage und Vorschlag für die Großen sein, die immer erstmal „geht nicht“ sagen oder im „Über-euch-ohne euch“-Modus agieren. In meinem aktuellen Buch „Der Geschmack von Lippenrot“ habe ich Empowerment-Material für blinde Frauen entwickelt und stelle auch generell immer gern meinen Vortrags- und Selbststärkungsstoff zur Verfügung, um so vielen Menschen wie möglich den Weg des selbstbestimmten Lebens pflastern zu helfen und Inspiration zu sein, beim Stricken des individuellen Lebenspullovers.
Da bin ich aber nicht allein hingelangt, da brauchte ich tolle Menschen und Vorbilder aus der Szene. Hierbei ist mir die ISL und die Selbsthilfearbeit ein großer Kraftquell, auch das Wirken der Sozialhelden oder Kontakte mit kooperierenden Antidiskriminierungsstellen. So konnten wir zum Beispiel aktuell durch das Engagement der Antidiskriminierungsstelle Sachsen-Anhalt die Zutrittsrechte von Assistenzhunden in unserer Stadt stärken. Missstände gibt es genug. Wichtig ist, ins Handeln zu kommen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und durch Unterstützer*innen, die im Einzelfall und auf struktureller Ebene helfen können. Das bedeutet für mich als Publizistin, mich immer wieder sichtbar und unsere Themen transparent machen zu müssen und mühsame Sensibilisierungsarbeit zu betreiben. Umso glücklicher bin ich darüber, dass wir zunehmend stärker wahrgenommen werden und ich unsere Inhalte zum Beispiel auch ins diesjährige Braille-Festival und in die „Stadt der Sterblichen“ in Leipzig transportieren und politische Kampagnen wie „Wir bleiben hier“ unterstützen durfte. Sehr gern habe ich mich auch an den „Geschichten, die fehlen“ am Halleschen Stadtmuseum beteiligt, einem Projekt, welches das Leben und Wirken behinderter Hallenser*innen in den Blick nimmt. Highlights waren natürlich auch unsere inklusive Ausstellung rund um die „Hörbaren Gemälde“, unsere Lesung zu „Teilhabe mit Herz und Hürde“ und die Erfindung neuer Teilhabewege, wo Verantwortungsträger einfach nicht greifen.
Grundlegendes anstoßen konnte ich auch durch mein Projekt „stop.mobb.handicap“, in welchem ich über Mobbing und Behinderung am Arbeitsplatz aufkläre und kostenloses Informationsmaterial zur Verfügung stelle. Ich freue mich, dass diesbezüglich immer wieder Medienschaffende auf mich zukommen, um das Thema gemeinsam anzugehen, so aktuell zum Beispiel das Zeitschriftenmagazin „Menschen“ der Aktion Mensch. Für viele meiner Initiativen suche ich aber auch immer wieder engagierte Partner*innen, so bei meinen gesundheitspolitischen Themen, bei denen ich mich besonders für bessere Zugänge für Menschen mit Behinderungen zum therapeutischen Hilfesystem einsetze. Hierzu habe ich die Initiative „Irrlichter“ ins Leben gerufen. Viele meiner und unserer Projekte und Kampagnen können auf www.blindverstehen.de nachgehört und nachgelesen werden.
kobinet-nachrichten: Wer sich für die Rechte und Partizipation von behinderten Menschen stark macht, muss aber auch immer wieder erleben, dass es nicht voran geht. Geht Ihnen das auch so?
Jennifer Sonntag: Oh ja, das ist leider auch ein Resümee, was ich nach drei Jahren innerhalb meines Wirkens als Inklusionsbotschafterin ziehen muss. Für viele Themen habe ich mir die Finger wund getippt und bis heute nichts erreicht. Am Anfang steht ja immer die Transparenzarbeit. Das bedeutete für mich, dass ich mich mit vielen Themen erstmal selbst zeigen und manchmal auch ziemlich „nackig“ machen musste. Ich habe publiziert, Vorträge gehalten, Missstände aufgedeckt, wurde in Arbeitskreise eingeladen. Dann kommt die Stelle, an der man den Schwerpunkt gern an die Verantwortlichen abgeben möchte, nachdem man von Zuständigkeit zu Zuständigkeit weitergereicht wurde und doch keiner so richtig an das unbequeme Thema ran wollte. Manchmal sitzen da wirklich ganze drei Leute in Vollzeitstellen und werden auch entsprechend bezahlt. Obwohl wir Menschen mit Behinderung eigentlich Rat und Hilfe suchen, fungieren wir dann erstmal als kostenlose Expert*innen und beraten die Berater*innen zu dem, was die eigentlich tun sollen, weil „das mit der Inklusion ja alles noch so neu ist und man so ins kalte Wasser geschubst wurde“. Und dann tut sich lange nichts. Da frage ich mich: Warum holt man sich dann nicht gleich gut qualifizierte Mitarbeitende mit Behinderung ins Team? Da ich auch für Vorträge und Interviews aussagekräftig sein möchte, bitte ich hier um mehr Transparenz nicht nur immer von unserer, sondern auch von der anderen Seite. Ich erhielt als Mensch mit Behinderung von relevanten Stellen teilweise seit inzwischen fast einem Jahr keine Rückmeldung zu erfolgten Ergebnissen in meinem Anliegen. Als Stadt hat man ja einen größeren Einfluss auf strukturelle Veränderungen, als eine ehrenamtliche Einzelkämpferin. Hier wünsche ich mir eine bessere Kooperation und Kommunikation auf Augenhöhe.
Ich bin bundesweit gut vernetzt und habe engagierte Unterstützer*innen, die mich auch immer wieder ermutigen. Aber ich möchte ja in der eigenen Region gern etwas bewegen, denn dort lebe ich und stoße behinderungsbedingt an Grenzen. Ich möchte dort wo ich lebe und wirke „mit dem Finger dran fühlen können“, wohin die Fördergelder fließen, die uns Menschen mit Behinderungen zugute kommen sollen. Funkstille ist da keine gute Antwort und Symbolpolitik kein befriedigendes Ergebnis. Und wenn konkrete Dinge angestoßen oder umgesetzt wurden, dann wäre es doch sinnvoll, auch auf E-Mails und Anfragen zu reagieren, damit wir über Teilhabeerfolge berichten können. Schließlich geht es um uns.
Über Monate oder gar Jahre nicht zu antworten, ist wirklich eine Unart, auch sich in abstrakten Abhandlungen zu verlieren, die nach viel klingen, aber nichts sagen, nichts, was einem Menschen mit Behinderung an der Basis nützt.
kobinet-nachrichten: Sie haben vor kurzem den Begriff der „Undurchbluteten“ geprägt. Was meinen Sie damit genau?
Jennifer Sonntag: Einerseits gibt es viele neuerblühte Beratungsstellen, die genau die Bedarfe von uns Menschen mit Behinderungen erkennen und helfen sollen, das Bundesteilhabegesetz (BTHG) umzusetzen. In manchen dieser Beratungsstellen fehlt jedoch der Zulauf, dort blüht und lebt es nicht wirklich. Woran liegt das? Anfangs habe ich mir das so begründet, dass die alten Rehastrukturen sich über Jahrzehnte etabliert haben und sich die bekannten Autobahnen leichter fahren lassen. Die neuen Pfade müssen sich eben erst eintreten. Deshalb müssen wir dabei helfen, wirklich gute Angebote bekannter zu machen und auch die Betroffenen selbst dürfen da durchaus Aktivität zeigen, damit Hilfreiches sich auch entwickeln und langfristig bestehen bleiben kann. Oft wissen beide Seiten nicht voneinander.
Für etablierte Einrichtungen ist es um vieles leichter, Ratsuchende „abzufischen“ und sie in die vorbestimmten Strukturen „einzutüten“. Standardmäßig werden sie ja bereits vorsortiert und dort hin vermittelt, was nicht immer den wahren Lebenswünschen und Potenzialen des behinderten Menschen entspricht. Einrichtungen wie Werkstätten für behinderte Menschen oder Berufsförderungswerke beraten in der Regel konkret in ihre Häuser hinein, was nicht im Sinne einer unabhängigen Teilhabeberatung gedacht sein kann. Der Reha-Markt war schon immer ein Schlangentopf und jagt nach jedem Kopf. Trotz der vielen unabhängigen Angebote für Menschen mit Behinderungen bleiben aber viele Betroffene genauso ratlos zurück, wie zuvor. Da ich für dieses, ich nenne es mal „Beratungs-Business“ als Betroffene und als Sozialpädagogin gleichermaßen Gespür entwickeln musste, habe ich da auch viel Unschönes gesehen. Und hier ist die Stelle, an der ich von undurchbluteter Inklusion spreche. Die Beratungsstellen müssen auch wirklich von grundauf verstanden haben und leben, was zum Beispiel ein Peer Counseling ist, was Empowerment bedeutet, was die Selbstbestimmt Leben Bewegung seit Jahrzehnten von einer ganz anderen Denkrichtung her anstößt. Diese Bewegung ist nicht vom Himmel gefallen und doch ist man vielerorts sehr überrascht bis überfordert davon. Lieber ruht man sich noch immer darauf aus, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), das BTHG, Begriffe wie Inklusion, Teilhabe, Barrierefreiheit und Selbstbestimmung ja erstmal in den Köpfen der Menschen ankommen müssten und meint damit wohl den eigenen.
Keine Frage, es gibt ausgezeichnete EUTBs, mit denen ich fest kooperiere und an die ich Ratsuchende auch guten Gewissens vermitteln kann. Aber man muss schon sehr genau hinschauen, wo sich die Ratsuchenden begeistert die Klinke in die Hand geben. Zwischen Burn-out und Bore-out ist der Gestaltungsraum groß in diesem Tätigkeitsfeld. Dabei ist der Beratungsbedarf riesig, man muss sich nur finden. Das kann ich aus meiner Zeit als Ehrenamtlerin nur bestätigen, da mein Postfach immer rappelvoll war und ich mit meinen Ehrenamtsstunden nie hinkam. Ich bekam Beratungsanfragen aus allen Bundesländern und profitierte sehr von der Vernetzung mit anderen EUTBs und der Community. Dabei nahm ich das „Eine für alle“ sehr ernst und ging davon aus, dass es überall diesen einen gemeinsamen Inklusions-Flow gibt, dem wir begeistert folgen. Den gibt es zum Glück auch zu einem großen Teil und an dem habe ich gelernt mich für meine Arbeit aufzutanken.
Es liegt wie überall an den Strukturen und an den Menschen, die sie gestalten, oft auch an einzelnen. Wer ist Macher*in, wer ist Bremser*in? An vielen Stellen stieß ich auf verkleidetes Reha-Denken aus längst vergangener Zeit, auf nicht mal Integration, immer wieder auf den Satz: „Man kann halt nicht jedem helfen und wir sind ja auch mit der ganzen Inklusion und den ganzen neuen Gesetzen ziemlich überrumpelt worden“. Warum um Himmels Willen beschäftigt man dann keine Menschen, die sich auskennen, die dieses Wasser schon erwärmt haben, die erkannt haben, dass wir diese Instrumente bespielen und das Blut in die Sache bringen müssen. Stattdessen kommen auch hier Konkurrenzgedanken unter den Trägern auf, Beratungsstellen behalten Wissen exklusiv für sich, neiden anderen die Klienten, verbiegen die Statistik. Und gerade hier muss es doch darum gehen, zusammenzufließen, einander zu unterstützen, individuelle Lösungen für Menschen zu erfinden, die bereits durch andere Hilfesysteme gefallen sind. Letztlich greifen dann hier auch wieder nur private Initiativen oder die ehrenamtliche Selbsthilfe. Und da stecken wir wieder in der Ehrenamtsfalle. Wie oft durchbluten gerade die qualifizierten Aktivist*innen mit Behinderung ein Thema inhaltlich und auf Handlungsebene, die dann für ihr kostenloses Engagement oft noch nicht mal die Taxikosten erstattet bekommen. Und Ratsuchende werden solange das Gefühl haben, doch als Einzelkämpfer*innen zurückzubleiben, wie Beratungsstellen nicht für ihre Sache beben. Wir brauchen hier mehr echte Überzeugungstäter*innen, ohne Ungleichgewichte zu erzeugen, bei denen sich die einen aufreiben und andere eine ruhige Kugel schieben. Ich sage inzwischen Ratsuchenden: „Suchen Sie sich eine EUTB, aber eine GUTE!“.
Aber das ist kein spezifisches EUTB-Problem. Ich überlege durch unsere Selbsthilfearbeit so oft, wo können wir guten Gewissens wen hinschicken, wo reißen die wirklich was raus für diesen Menschen? Manche Angebote, auch in der gesundheitlichen Versorgung zum Beispiel, lesen sich auf der Homepage der Offerierenden super, erwähnen wir aber dann die Behinderung, beginnen die alten Diskussionen, Bittsteller*innen-Rolle von A bis Z und dann doch der Tag der geschlossenen Tür: „Also wenn Sie wirklich ganz blind sind, dann können Sie nicht kommen.“ In anderen Kontexten reißt man sich um uns als Kund*innen, wenn es darum geht, uns für den Hilfsmittelmarkt oder Einrichtungen der „Behindertenhilfe“ zu gewinnen, weil wir hier ein lohnenswertes Geschäft sind. Und irgendwo dazwischen müssen wir finden, was wir wirklich wollen, was uns wirklich hilft, möglichst mit Personen, die ihren Job ernstnehmen.
Ich habe schon mit Expert*innen für Barrierefreiheit gesprochen, die noch mit keinem einzigen Menschen mit Behinderung Kontakt hatten, aber tiefgreifende Entscheidungen für diesen Personenkreis trafen und treffen. Wir können uns denken, dass da nichts Gutes bei rumkam. Auf der anderen Seite möchte ich auch festhalten, dass natürlich nicht jeder Mensch mit Behinderung auch ein super Mitarbeitender in so einem Job sein muss und allein die Behinderung aus meiner Sicht nicht Qualifikation genug sein darf. So plump der Satz auch ist: hier gibt es eben auch solche und solche. Und ganz sicher ist auch eine ratsuchende Person in einer besonders schwierigen Lebenslage manchmal eine echte Herausforderung, das gehört auch zur Wahrheit. Ein entscheidender Anteil des Wollens liegt natürlich auch bei ihr selbst. Eine verzwickte Lage darf jedoch innerhalb des bestehenden Beratungssystems kein Grund sein, einen Menschen nicht aus seiner Ausweglosigkeit begleiten zu helfen.
kobinet-nachrichten: Der ehemalige Bundesbehindertenbeauftragte Hubert Hüppe hat das Sprichwort geprägt: „Wer Inklusion will, sucht Wege, wer sie nicht will, sucht Begründungen“. Haben Sie eine Idee, wie man mit denjenigen umgehen kann, die Begründungen suchen bzw. nicht einmal ihren Job machen, den sie eigentlich im Sinne behinderter Menschen machen müssten?
Jennifer Sonntag: Ich habe mich diesbezüglich mit anderen behindertenpolitisch engagierten Aktivist*innen ausgetauscht, die mich sehr empowerten. Vielleicht ist das auch anderen eine Orientierung. Wir würden das etwa so auf den Punkt bringen: Die Frage ist immer, wie wichtig uns eine Sache ist oder inwieweit wir uns an unmotivierten Akteur*innen bzw. Einrichtungen abarbeiten wollen. Das kann auf Dauer sehr frustrierend sein und in blinden Aktionismus ausarten, der uns viel Kraft raubt. Die andere Seite hat möglicherweise ganz andere Motive und gar kein Interesse an der Umsetzung unseres Inklusionsbelangs. Fördergelder sind attraktiv. Es gibt Stellen, die verdienen ordentlich an uns und sind gut besetzt. Wir Menschen mit Behinderung sind auf die echte Unterstützung der für uns eingerichteten Stellen angewiesen.
Auch müssen die Aktivist*innen unter uns sich oft öffentlich zum Stand von Inklusion und Teilhabe äußern. Dafür brauchen wir die Rückmeldungen von solchen Stellen bezüglich ihres Wirksamwerdens. Wenn selbst auf unser mehrfaches Nachhaken noch immer keine Antwort folgt und uns die Sache wichtig ist, wir also noch nicht an der vermuteten Untätigkeit resignierten, bzw. diese nicht hinnehmen wollen, können wir eine Beschwerde an die zuständigen Oberbürgermeister*innen, Sozialdezernent*innen oder Sozialministerien usw. richten. Das macht uns dann aber nicht zu Freunden derer, die sich auf unsere Kosten ausruhen. Wir könnten auch schauen, ob die Presse vor Ort unter dem Motto „Funkstille beim Zuständigkeitsbereich XY“ über unsere Erfahrungen berichtet. Auch die zuständigen Behindertenbeauftragten können für uns nachhaken. Das ist alles etwas anstrengend und vielleicht löst es auch ein bisschen Zoff aus, aber es dürfte den Respekt vor uns vor Ort erhöhen. Natürlich wird man sich von uns genervt fühlen und die Sache anders darstellen. All das müssen wir einkalkulieren.
Wie wir eine Sache angehen, ist auch eine Frage des eigenen „Fells“. Oft haben uns solche unschönen Bittsteller*innen-Positionen auch zermürbt und dünnhäutig gemacht. Viele von uns sind auch nicht der Typ für offensive Auseinandersetzungen und lassen sich schnell ein schlechtes Gewissen machen. Einer überangepassten Person wird ein selbstbestimmtes Auftreten oder gar eine Beschwerde sehr viel schwerer fallen, als einer auf diesem Gebiet versierten Kämpfernatur. Eine Alternative wäre, um den „lahmen Gaul“ herumzugehen und andere Wege zu finden, das Pferd zu reiten. Denn wenn ein Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin bei einem Thema so wenig kooperativ ist, wird er oder sie für die Sache wahrscheinlich auch nicht viel erreichen. Manche schmücken sich auch lieber mit angenehmen Themen als mit unbequemen oder docken an anderer Leute Arbeit an, um geschickt von ihrer Untätigkeit abzulenken.
Es kann nicht alleinige Aufgabe von uns Menschen mit Behinderung sein, zu unseren ohnehin reichlichen Alltagshürden, diese mühsamen Umwege zu gehen und Missstände im Hilfesystem immer und immer wieder anzusprechen. Andererseits haben wir hier eine entscheidende, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Kontrollinstanzen sollten wachsam sein, an welcher Stelle Ergebnisberichte Lücken haben oder arg hingeschönt sein könnten. Sie sollten an der Basis schauen, was ganz konkret für Menschen mit Behinderungen umgesetzt wurde und durchaus auch mit uns dazu ins Gespräch kommen. Denn nochmal, hier fließen erhebliche Summen von den Ministerien oder aus Fördertöpfen, oft an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei. Dieses Geld brauchen wir an allen Ecken und Enden für ehrliche Inklusion und Teilhabe. Herzlichen Dank an dieser Stelle an einige Akteure aus der Selbstbestimmt Leben Bewegung für den wertvollen Austausch und die hilfreichen Leitsätze.
kobinet-nachrichten: Was wünschen Sie sich, um die „Durchblutung“ für die Inklusion, Partizipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen zu fördern?
Jennifer Sonntag: Ich glaube, wir haben eine Kompetenz im Umgang mit unserer Behinderung erlangt. Zu der gehört auch, dass wir ziemlich gut erkennen, was uns nützt und was nicht, wo Gelder fehlen, wo sie fließen und dies manchmal auch unter falscher Flagge. Es ist ein so schönes, weil leider noch nicht selbstverständliches Gefühl, wenn man uns auf Augenhöhe begegnet. Weil das nicht immer so ist, können wir das besonders gut spüren. Sobald sich bei der Umsetzung von Inklusion da irgendwas nicht richtig anfühlt, merken wir das in der Regel. Und wenn wir das nicht tun, muss es Instanzen geben, die die Rechte von Menschen mit Behinderungen stärken und Betroffene auch konkret schützen. So dürfen behinderte Menschen zum Beispiel nicht als Maskottchen zum Abgreifen von Fördergeldern fungieren, während sie nach Zweckerfüllung innerbetrieblich hinten runter fallen. Auch habe ich erlebt, wie ausgerechnet in einer Spezialeinrichtung für Menschen mit Behinderungen Empowerment, Peer-Counseling und echte Inklusion ganz klein geschrieben werden, da Potenziale behinderter Menschen und Mitarbeiter*innen eine Kompetenz sind, die dem „Über-euch-ohne-euch“ entgegenstehen. Das führt dazu, dass man uns wegbeißt, weil die Angst entsteht, dass wir uns am Ende vielleicht besser mit unseren Bedürfnissen auskennen, als die Marketingabteilung dieser Spezialeinrichtung.
Verstärkt wird diese Problematik dadurch, dass sich inzwischen jede Berufsgruppe scheinbar ungeprüft unter den Dächern so genannter Kompetenzzentren an uns „vergreifen“ darf, etwa ein Physiker eine Reha-Fachabteilung leitet, also weder eine Qualifikation, noch eine Behinderung hat. Mancher macht das mit Kooperationsfreude oder echter Förderung von Partizipation wett, mancher leider nicht, weil hier ganz andere Hintergründe eine Rolle spielen. Es gibt sicher Quereinsteiger*innen, die in anderen Bereichen durchaus passen, hier sollte von außen aber kritisch geschaut werden, wo auf Kosten behinderter Menschen wirklich Schaden entstehen kann.
Umso wichtiger ist mir, dass Menschen mit Behinderungen sich trauen, den Mund aufzumachen. Bedürfnisse auszudrücken und dafür nicht „bestraft“ oder gar gemobbt zu werden, sondern im Gegenteil ernstgenommen zu werden, ist eine Erfahrung, die vielen Betroffenen fehlt. Da sind wir auch wieder bei denen, die sich leichter auflehnen können und den anderen, die sich das nicht trauen oder die sich das nicht leisten können. Es gibt Machtmenschen, mit denen kann man nicht reden, die wollen nicht verstehen oder die wollen nur bestimmte Personen verstehen, uns leider nicht. Da muss man seine Konsequenzen ziehen. Weil wir alle zusammen am Gelingen von Inklusion bauen und aus Fehlern lernen müssen, ist es wichtig, dass wir dort sagen, was schief läuft, wo man uns zuhört oder uns zuhören muss. Es ist keinem geholfen, wenn wir zu Missständen schweigen.
Teilhaben heißt also auch einmischen, was ich als Inklusionsbotschafterin der ISL gelernt habe. Für mich und andere Strukturen zu verbessern, ist doch ein großartiger Gewinn, und wenn es ein noch so kleiner Stein ist, den man ins Rollen gebracht hat. Teilhabe zu fördern, heißt also einerseits auf struktureller Ebene die Voraussetzungen dafür zu ermöglichen, und andererseits den Menschen zur eigenen Selbstwirksamkeit zu ermutigen. Und dafür brauchen wir keine Fachleute, die unser Leben nach ihren Plänen gestalten, unsere Potenziale unterdrücken, uns in die Unsichtbarkeit zurückdrängen und damit wahre Inklusion unmöglich machen.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.