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Es nervt

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KASSEL (KOBINET) Pfeifkonzerte vor Parteizentralen und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Gespräche vor Ausschusssitzungen, eine 22stündige Ankettaktion am Reichstagufer, ein Spalier nach der Verbändeanhörung, eine Bühneneroberung bei einer SPD-Veranstaltung und nun auch noch eine Mahnwache vor dem Sommerfest des Sozialministeriums. Diese Aktionen, die seit knapp einem Monat durchgeführt werden, nerven mittlerweile viele der Verantwortlichen. Warum es aber nervt, nerven zu müssen, darauf geht kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar "Es nervt" ein.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Ja, es ist so, Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen haben sich im letzten Monat zu richtigen Nervensägen entwickelt. Sie pfeifen diejenigen aus, mit denen sie lange Zeit verhandelt haben. Sie stören Veranstaltungen, weil sie sich nicht vertreten fühlen, Schönfärbereien satt haben und mit Verschlechterungen konfrontiert sind. Sie protestieren vor Ministerien, sie erobern sich auch mal eine Bühne und ergreifen das Wort. Und sie haben sich sogar 22 Stunden lang in der Bannmeile des Reichstags am Reichstagufer über Nacht angekettet und dabei einen bisher nicht dagewesenen Presserummel ausgelöst. Ja, sie kommunizieren dies auch noch sehr rege, nachhaltig und mit viel Anklang in den sozialen Medien. Sie sorgen mit ihren Protesten und der klaren Aussage #nichtmeingesetz für negative Berichterstattung für diejenigen, die für den Referentenentwurf des Bundesteilhabegesetzes verantwortlich sind und diesen politisch stützen, in Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehsendungen. Und das, obwohl es sich beim Bundesteilhabegesetz um ein sehr komplexes Themengebiet handelt, das nicht so leicht vermittelbar ist. Ja, das nervt sogar so, dass sich die CDU/CSU Fraktion am letzten Freitag in einer Presseerklärung zur offenen Diffamierung der ProtestlerInnen bemüßigt fühlte, indem sie schrieb: „Wer Kampagnen unterstützt, die den Entwurf fundamental ablehnen, der missachtet die konkrete Situation der überwiegenden Mehrheit der betroffenen Menschen.“ Wirklich nervig das Ganze zur Zeit für all diejenigen, die es gewohnt sind, mit Sonntagsreden davon zu kommen und doch nur was Gutes für behinderte Menschen tun wollen. 

Was jedoch noch viel nerviger ist: Es nervt unheimlich, so nerven zu müssen. Denn im Jahr acht nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland hat sich kaum jemand träumen lassen, dass am Ende der weithin unterstützten Initiative für ein Bundesteilhabegesetz solche Proteste nötig sind. Wer sich die Mühe gemacht hat, den konstruktiven Dialog Ende März bei der Staatenprüfung Deutschlands in Genf anzuschauen, die müssten jetzt aus allen Wolken fallen, angesichts dessen, was Deutschland da so alles mit dem Bundesteilhabegesetz versprochen hat. Es nervt also ungemein, heute wieder in der Situation sein zu müssen, so nerven zu müssen – und das vor allem, um Verschlechterungen zu verhindern. Wir reden schon kaum mehr über die längst überfälligen Reformen für ein Leben Daheim statt im Heim, für ein Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt statt in Sonderwelten, für eine inklusive Bildung oder für Barrierefreiheit. Wir müssen über KO-Kriterien reden, die gar nicht gehen, weil behinderte Menschen mit dem Bundesteilhabegesetz wieder in Zeiten zurück fallen könnten, die sie überwunden glaubten. Die Zugangsbedingungen zu Leistungen werden erschwert, indem man 5 von 9 Kriterien erfüllen muss, statt auf den individuellen personenbezogenen Bedarf zu schauen. Das hart erkämpfte Assistenzmodell und die damit verbundene Selbstbestimmung ist durch das stationäre Denken des Zwangspoolens bedroht und die Zumutbarkeit, nicht in einer Einrichtung leben zu müssen, muss weiterhin mühsam dargelegt werden. Das nervt so richtig, wenn das durchkommt und kann für behinderte Menschen richtige Verschlechterungen bringen, von denen die Abgeordneten dann nichts wissen wollen oder die mühsam über Jahre hinweg evaluiert werden. 

Was auch nervt, ist dass wir uns ständige Schönfärbereien vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und von den zuständigen Abgeordneten der CDU/CSU und SPD anhören müssen. Die großen Bedenken gegenüber dem derzeit vorliegenden Referentenentwurf konnte noch niemand so richtig und verlässlich ausräumen. Dafür begnügt man sich mit dem Vorbeten von Verbesserungen. Und wenn es um die Berechnung zum Einkommen und Vermögen geht, muss man ständig Nachhilfeunterricht geben. Vor allem wird immer wieder mit Tricks gearbeitet, so dass die Gruppe derjenigen, die auf Hilfe zur Pflege neben der Eingliederungshilfe angewiesen sind, vergessen werden, wenn es darum geht, positive Nachrichten zu verbreiten. Diese gelten für diesen Personenkreis nämlich meist gar nicht bzw. sehr eingeschränkt. Nervig ist auch, dass das soziale Gewissen der SPD in Sachen Alterssicherung, Leistung muss sich lohnen etc. bei Leistungen für behinderte Menschen plötzlich Halt macht. Der typische Zielgruppen-Malocher der SPD ist sicherlich auch genervt, wenn er nach Eintreten einer Behinderung zukünftig erst mal alles Ersparte für seine behinderungsbedingten Leistungen bis auf 25.000, später dann 50.000 Euro abschmelzen, seine Familie arm machen muss und das Vermögen seiner Partnerin noch mit angerechnet wird. Aber das sind dann einzelne Schicksale, die dann genervt sind und vielleicht einmal in die Sprechstunde von Sigmar Gabriel kommen. Nervig dürfte dann sein, dass der politischen Betroffenheit, dass man das ja nicht gewusst habe, nur Minireformen erfolgen. 

Und dann nervt da noch was so richtig, nämlich die gönnerhafte und herablassende Behandlung von so manchen SpitzenpolitikerInnen. Was mag sich Sigmar Gabriel bei seiner Rede zum Jahresmepfang der Bundesbehindertenbeauftragten wohl gedacht haben, als er uns dahingehend zu belehren versuchte, dass wir jetzt endlich in der politischen Realität angekommen sind, um als Leckerli hinzuwerfen, dass wir jetzt wenigstens mit am Tisch sitzen dürfen. Manche AktivistInnen der Behindertenbewegung könnten Sigmar Gabriel locker entgegen halten, dass sie schon für ihre Rechte gekämpft haben, als dieser noch die Schulbank drückte. Wer seit über 30 oder 40 Jahren schon mühsam und mit allen demokratischen Möglichkeiten für seine Menschenrechte kämpft, der fühlte sich von Sigmar Gabriel so richtig angenommen, vor allem wenn dann noch bemängelt wird, dass in den letzten Jahren behindertenpolitisch nicht viel passiert ist. Bis auf die vier Jahre von 2009 bis 2013, in denen es wirklich einen behindertenpolitischen Stillstand in der schwarz-gelben Koalition gab, war die SPD mit in der Regierung und stellte auch immer die MinisterInnen im Arbeits- und Sozialministerium. In diese Kategorie gehört leider auch Andrea Nahles, die nun bei den Protesten ihre Miene merklich verzieht und sich dem Dialog mit den Protestierern immer noch nicht stellt, während sie vorher förmlich darum gebeten hat, den Druck in der Behindertenpolitik zu erhöhen, um gemeinsam etwas erreichen zu können.

All das nervt unheimlich, denn uns wäre es zehnmal lieber gewesen, gemeinsam mit der Regierung und den im Bundestag vertretenen Parteien einen echten Paradigmenwechsel hin zur Achtung der Menschenrechte behinderter Menschen, für ein Leben mitten drin statt außen vor, zu erreichen. Die Ausgangslage war auch gut, der Beteiligungsprozess zwar anstrengend und intensiv, aber gut begonnen und begleitet. Dann kam aber die Bruchlandung, von der man sich nicht erholt hat. Bereits im durchgesickerten Arbeitsentwurf für das Bundesteilhabegesetz wurde deutlich, dass bewusst massive Verschlechterungen voran getrieben werden. In den vier Monaten bis zur Veröffentlichtung des Referentenentwurfs am 26. April wurde klar, dass die ganzen Gespräche nichts gebracht haben und dass die Regierung ihr möglichstes tut, um es sich mit fast allen Behindertenverbänden zu verscherzen. Man war ja gewohnt, dass über kritische Papiere hinaus, der Widerstand recht klein bleiben dürfte. Und auch jetzt nach der Verbändeanhörung ist kein Umsteurn der Bundesregierung in Sicht, so dass irgend ein Ausweg gesucht und gegangen wird, der es ermöglicht, dass alle Beteiligten erhobenen Hauptes aus dieser Auseinandersetzung heraus kommen. Auch hier hat es nicht an Vorschlägen aus den Behindertenverbänden gefehlt. Und so nervt es ungemein, solche Auseinandersetzungen führen zu müssen.

Doch was wäre, wenn wir nicht nerven würden? Wir wären nach der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes noch viel genervter, weil wir dann wieder Kämpfe auf individueller Ebene führen müssen, um Verschlechterungen zu verhindern und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Und diese Nervereien auf Kosten vieler Menschen wollen immer mehr behinderte Menschen nicht hinnehmen. Deshalb nervt die Behindertenbewegung in den nächsten Monaten wahrscheinlich noch viel mehr weiter und ist genervt von dieser unflexiblen nervigen Regierung. Es könnte auch ohne Nervereien gehen, wie dies Udo Lindenberg schon in seinem Song über das Mädchen aus Ostberlin besungen hat.