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Der 5. Mai: Protest als Ritual – Inklusion als Inszenierung

roter Schriftzug
Ein Los für das gute Gewissen
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet) Der 5. Mai steht vor der Tür. Es ist wieder Zeit für den Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Wieder zieht eine Demonstration durch Berlin, wieder stehen Reden am Roten Rathaus an. Und wie jedes Jahr läuft alles nach Plan. Nach einem sehr genauen Plan. Alles ist vorbereitet. Die Veranstalter sind gebrieft. Die Politiker*innen wissen, wann sie auf dem Podium stehen und welche Sätze sie aufsagen müssen, um Engagement zu demonstrieren, ohne etwas zu versprechen. Die Presse hat die Artikel im Entwurf gespeichert, muss nur noch das Datum ändern. Aktion Mensch hat die Materialien geliefert, die Banner gedruckt, die Kampagne abgestimmt. Die Rollen sind verteilt, das Drehbuch sitzt.

Vom Protest zur PR-Choreografie

Was hier als Protest verkauft wird, ist längst eine inszenierte Veranstaltung, bei der alle Beteiligten wissen, was sie zu tun haben. Sichtbar, aber folgenlos. Ein Tag, an dem sich alle demonstrativ zur Inklusion bekennen – ohne die Strukturen zu hinterfragen, die Gleichstellung systematisch verhindern.

Politikerinnen geben sich volksnah. Sie zitieren die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), versprechen einen „Neustart Inklusion“ und zeigen sich bei Selfies mit Aktivistinnen. Die Reden sind vorbereitet, die Statements abgestimmt. Das Begleitmaterial stammt oft direkt oder indirekt von Aktion Mensch oder anderen großen Verbänden. Inhalte, die für sich genommen richtig klingen, aber selten über bekannte Floskeln hinausgehen. „Neustart Inklusion“ – als ob es jemals einen echten Start gegeben hätte. Ein Motto, kein Forderungskatalog. Ein Slogan, der zum Leitgedanken werden soll, aber letztlich eher Werbeversprechen bleibt.

Protest im Rahmen der Erwartungen

Die Demonstrationen verlaufen im Rahmen. Sie sind angemeldet, genehmigt, begleitet von Polizei und Medien. Sie werden organisiert von den großen Verbänden, die ihrerseits abhängig sind von Fördermitteln. Wer eigene Themen setzen will, muss dies meist ohne größere Unterstützung tun. Die Ressourcen – Finanzierung, Bühne, Reichweite – konzentrieren sich auf die Kampagnenlinien der etablierten Organisationen.

Abweichende Ansätze, radikalere Forderungen oder Protestformen außerhalb des genehmigten Rahmens sind selten. Sie sind nicht verboten, aber sie sind unsichtbar. Die großen Bühnen bleiben für jene reserviert, die in die Strategie passen. Alles wirkt reibungslos – fast schon zu reibungslos. Der Protest bleibt erwartbar, sein Ablauf so ritualisiert wie ein Feiertag im Kalender. Genau das ist das Problem.

Aktion Mensch als Gatekeeper?

Aktion Mensch spielt in diesem System eine zentrale Rolle. Die Organisation unterstützt finanziell zahlreiche Projekte – 2 Millionen Euro allein für den Aktionszeitraum rund um den 5. Mai 2025. Diese Förderung ist an Bedingungen geknüpft. Wer die vorgeschlagenen Materialien nutzt und sich in das Aktionsformat einfügt, bekommt Unterstützung. Wer sich außerhalb dieses Rahmens bewegt, muss eigene Wege finden – meist ohne Reichweite.

Das ist keine Verschwörung, sondern die logische Folge eines Systems, in dem große Player die Themen bestimmen – auch weil es kaum alternative Förderstrukturen gibt. Die Rolle von Aktion Mensch wird selten offen thematisiert. Wer kritisch hinterfragt, riskiert die eigene Sichtbarkeit oder Förderung. Die Inhalte, die zur Verfügung gestellt werden, sind abgestimmt, rechtlich geprüft, politisch korrekt – und letztlich vor allem eines: steuerbar.

Was fehlt, ist zivilgesellschaftlicher Ungehorsam

Wo bleibt der Protest, der nicht auf Einladungen wartet? Wo sind die Aktionen, die nicht nur symbolisch sichtbar sind, sondern gezielt auf Störung setzen, um Veränderung zu erzwingen?

Wer hindert Menschen mit Behinderung daran, sich vor den Bundestag zu setzen, eine Kreuzung zu blockieren oder sich wegtragen zu lassen? Niemand – außer vielleicht die eigene Bewegung, die ihre Proteste selbst begrenzt.

Der 5. Mai könnte ein solcher Tag sein. Besser geeignet wäre jedoch jeder andere Tag. Unberechenbar. Unangekündigt. Ein Tag, an dem Protest die Alltagsordnung unterbricht und die Normalität infrage stellt. Ein Tag, an dem nicht alle Beteiligten bereits wissen, was sie zu tun haben. Denn wirklicher Wandel entsteht dort, wo die Routinen gestört werden. Protest, der vorhersehbar ist, bleibt ungefährlich.

Wo bleibt die „Last Disabilities“?

Eine „Last Disabilities“, die unberechenbar, unbequem und disruptiv auftritt, existiert in Deutschland nicht. Stattdessen herrscht in der Behindertenbewegung weitgehend eine Kultur der Anpassung, des Dialogs im Rahmen, der höflich geführten Gespräche mit Politik und Wohlfahrtsverbänden. Alles ist abgesprochen, genehmigt, vorhersehbar. Die Aktionen orientieren sich an genehmigten Marschrouten und symbolischen Forderungen, die das System nicht ernsthaft herausfordern.

Warum gibt es das nicht?

  • Abhängigkeit von Strukturen: Viele Aktivist*innen sind in Verbände eingebunden, die auf Fördergelder angewiesen sind. Wer ausschert, riskiert die eigene Existenzgrundlage.
  • Fürsorgelogik: Die Debatte wird oft von einer Haltung dominiert, die Teilhabe als Gewährung durch Institutionen versteht – nicht als selbstverständliches Einfordern.
  • Risikoaversion: Menschen mit Behinderung kämpfen täglich um Assistenz und Versorgung. Ziviler Ungehorsam kann bedeuten, diese mühsam erkämpfte Sicherheit aufs Spiel zu setzen.
  • Fehlende Allianzen: Während Umweltbewegungen wie „Letzte Generation“ auf breite Netzwerke und Finanzierung bauen können, fehlt es im Behindertenbereich an vergleichbaren Strukturen.

Was wäre möglich?

  • Rollstuhlnutzer*innen, die den Bundestag blockieren.
  • Beatmungspatient*innen, die demonstrativ mit mobilen Geräten im Plenarsaal sitzen – unübersehbar, störend, präsent.
  • Blinde Menschen, die symbolische Stolpersteine vor Ministerien legen.
  • Gehörlose Aktivist*innen, die mit Trommeln und Sirenen vor Behörden demonstrieren, um barrierefreie Kommunikation einzufordern.

Fazit

Echte Inklusion wird nicht gebeten. Sie wird erstritten. Die Behindertenbewegung muss raus aus der Komfortzone genehmigter Demos – hinein in eine Praxis des zivilen Ungehorsams. Ohne diese Bereitschaft bleibt sie Teil eines Systems, das sie selbst kritisiert. Was fehlt, ist zivilgesellschaftlicher Ungehorsam.

Stellen wir uns die Frage: Legen wir Demos gegen Rechts auf ein festes Datum mit genehmigter Route? Warten wir bei Protesten gegen Krieg auf vorbereitete Reden und Druckvorlagen? Lassen wir uns vom Verteidigungsministerium Flyer zum Antikriegstag gestalten? Natürlich nicht. Diese Proteste brechen in den Alltag ein, sie stören Abläufe, sie sind unbequem, unberechenbar – und genau deshalb wirksam.

Warum also bleibt die Behindertenbewegung so berechenbar? Warum fügt sie sich in einen Rahmen, der sicherstellt, dass niemand ernsthaft in Frage gestellt wird? Vielleicht, weil sie gelernt hat, sich anzupassen. Vielleicht, weil der Preis für Ungehorsam hoch ist. Aber solange sie auf planbaren Protest setzt, wird sie genau das bleiben: planbar. Und harmlos.

Echte Inklusion braucht mehr als ein Datum im Kalender.

Lesermeinungen

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4 Lesermeinungen
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Konrad W.
19.03.2025 09:41

Das Sorgenkind [sic!] „Aktion Mensch“ treibt mich auch schon länger um, ich glaube nur nicht, dass in der heutigen Zeit, mit den inzwischen erreichten Verbesserungen der Inklusion (verglichen mit den 60er oder 70er Jahren), die Behinderten gefrustet und getrieben genug sind, um wirklich zu protestieren.

Leider.

Uwe Heineker
18.03.2025 22:59

Ja, wir müssen wieder zu radikale Formen des Protestes zurückkehren, wie z.B. die Straßenbahnblockade von Gusti Steiner in Frankfurt Mitte der 1970er Jahre. Wir müssen sichtbarer werden!

Stephan Laux
18.03.2025 15:51

Genialer Beitrag! Ich sag’ nur: „Mehr Anarchie wagen!“

Silvia Hauser
17.03.2025 18:11

Danke Ralph! Mutig gezündelt an den verkrusteten Strukturen der Behindertenbewegung.
i.A. von Hans-Willi