
Foto: Silvia Hauser
Staufen (kobinet) "Easy Beauty" ist nicht ein weiteres Buch über Behinderung und schon gar nicht irgendein Buch, nein. Es ist das Buch der Stunde! Der geschichtlichen Stunde, in der die globale Verdüsterung der Horizonte die gut fünfzigjährige Geschichte der Behindertenbewegung international an ihr vorläufiges Ende bringt. Weil das Buch einer Autorin, einer Frau also, eignet sich der 8. März, der Internationale Frauentag, vorzüglich für eine Rezension. Und sei sie auch von einem Rezensenten, einem Mann also, der die Lektüre – von Buch und Rezension – allen Geschlechtern wärmstens ans Herz legt.
„Blicke auf meine Behinderung“ – wessen Blicke?
Der Untertitel des Buches könnte dank seiner treffsicheren Doppeldeutigkeit nicht besser gewählt sein. Von wessen Blicken ist die Rede, wer blickt hier? Von beiderlei Blicken handelt das Buch, von denen der anderen, als auch davon, wie die Autorin auf ihre Behinderung blickt. Und dieser Blick, ihr eigener, ist es schlussendlich, auf den es ankommt, von dem eine mögliche Befreiungserfahrung abhängt. Die in diesem Fall eine radikal individuelle ist und die ihr, der Behinderten, am Ende tatsächlich gelingt.
Geglückte Befreiung steht am Ende von Chloe Cooper-Jones autobiografischer Geschichte, ihres „Memoir“, wie diese literarische Gattung lebensgeschichtlichen Erzählens seit neustem heißt. Am Beginn ihrer Geschichte steht die gegenteilige Erfahrung, die einer Unterwerfung. Unter die Blicke der anderen nämlich, die abwertenden, missbilligenden, irritierten und schockierten, mitleidigen und bemitleidenden, herablassenden, besserwisserisch oder hilflos helfen wollenden Blicke auf ihre Behinderung. Allesamt negative, „böse Blicke“, die von früh an in sie eindringen und die Macht besitzen, sich in ihrem Inneren – Kulminationspunkt des Unglücks der Unterwerfung – festzusetzen und in ihre eigenen Blicke auf sich selbst und ihre Behinderung zu verwandeln. Psychoanalytisch werden diese eingedrungenen Fremdkörper „Introjekte“ genannt, zerstörerische, selbstzerstörerische Introjekte. Mitunter Geschossen gleich. Die damit einhergehende schmerzhafte, qualvolle Empfindung hat am prägnantesten Sartre in seinem Theaterstück „Huis clos“ (deutsch, Geschlossenen Gesellschaft) zum Ausdruck gebracht, „die Hölle, das sind die anderen“, anwesend in der Zudringlichkeit ihrer Blicke.
Nirgendwo habe ich die ableistische Höllenerfahrung bislang präziser geschildert und sprachlich sensibler dargestellt gefunden als im Buch von Chloe Cooper-Jones. Den Schmerz und die Qual, die Erniedrigung und die Vernichtung. Ein ums andere Mal verfolgt sie aufmerksam, wie ihre Psyche selbstschädigend-reaktiv die inneren Giftablagerungen der fremden Blicke zu Selbsthass, zu selbstverletzenden und selbstzerstörerischen Impulsen weiterverarbeitet. Wie sie in besonders verletzenden und schmerzhaften Situationen der Ablehnung und Stigmatisierung schon früh auch Zuflucht nimmt zu prekären Abwehrreaktionen und Selbstschutzstrategien. Und wie sie ganz auf sich allein gestellt, bar allen irdischen Beistands, sich auf diesem Weg tastend und sehr allmählich aus der Unterwerfung zu lösen beginnt, schrittweise zu distanzieren, zu deidentifizieren und sich so endlich aus der „Identifikation mit dem Aggressor“, psychoanalytisch gesprochen, befreit. – Die Leser erleben zusammen mit der Autorin das „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ einer von ihr über einen langen Zeitraum hin autonom praktizierten „Einsichtstherapie“ gewissermaßen. Der schrittweisen Einsicht in die elementare Existenzberechtigung ihres persönlichen Andersseins, „normabweichenden“ Soseins. Bestätigt somit zuletzt durch die selbst bestärkende Erfahrung der Unabhängigkeit vom Blick der anderen auf ihre Behinderung und mithin die Befreiung zu einem eigenen, positiven Blick auf dieselbe.
Die drei Räume, ein Heroes Journey individueller Behindertenbefreiung
Wer sich auf die gewiss nicht einfache Lektüre von Cooper Jones Buch einlässt, nimmt teil an einem sehr besonderen Exerzitium in Achtsamkeit. Es geht um das achtsame Beobachten und Beschreiben von „Stadien auf dem Weg“, so würde ich diese Übung in Anlehnung an Kierkegaard charakterisieren (womit ich darauf aufmerksam mache, dass die Philosophie und ihre großen Geister in diesem Buch keine geringe Rolle spielen). Die Entwicklungsstadien auf dem individuellen Lebensweg der Körperbehinderten Chloe Cooper Jones werden von ihr als „Räume“ versinnbildlicht. Drei solche Räume begegnen ihr und durchläuft sie in dieser ihrer persönlichen Entwicklungsgeschichte. Da diese mühsam und schmerzhaft ist, voller Beschwernisse und Prüfungen, legt sich mir der Ausdruck „Heldenreise“ nahe. „Easy Beauty“ beschreibt einen „heroes journey“ (gern auch „sheroes journey“). Und insofern jede Helden- oder Heldinnenreise eine solitäre Angelegenheit vorstellt, also eine einmalige oder jedenfalls höchst individuelle Weggeschichte erzählt, möchte ich zuletzt noch hinweisen auf C.G. Jungs Rede vom „Individuationsweg“, dessen Ziel die „Selbstwerdung“ sei.
Und dementsprechend handelt es sich bei den voranstehend erwähnten Räumen um Räume des „Selbst“, wiederum mit C.G. Jung gesprochen. Räume, die dem Individuum oder Selbst quasi Obdach bieten, ein Ort, an dem es „sein“ oder sich aufhalten kann, in seinen unterschiedlichen Entwicklungsstadien zwischen Selbsterhaltung und Selbstentfaltung. – Zum ersten der drei Räume, mit denen das Buch die Leserschaft vertraut macht. Dem Raum der Neutralisierung des Angriffs. Der „neutrale Raum“, so nennt ihn die Autorin selber, schützt sie, sobald sie sich in ihn zurückgezogen hat, vor der Aggression der Blicke. In seinem gegen das Außen abschirmenden Inneren gelingt es ihr, sich taub zu stellen gegen Worte, die in letzter Konsequenz das Selbst vernichten. Der einem „white cube“ ähnelnde Raum schützt ebenso vor der Wucht und Plötzlichkeit abfälliger Gesten und irritierter Gebärden, dem Andrang stigmatisierender und diskriminierender Signale aller Art. Gleich zu Anfang des Buches werden wir das erste Mal Zeuge, wie dieser Schutzmechanismus gegen ableistische Aggression einrastet. Die Szene spielt in einer Bar, der Freund eines Freundes kommt hinzu und beginnt unvermittelt eine philosophische Fachsimpelei darüber, ob die beiden ihm nicht darin zustimmen, dass ein behindertes Kind zur Welt bringen, das Risiko seiner Geburt eingehen, eindeutig eine ethisch verwerfliche Handlung darstellt. Nach einer für sie kaum erträglichen Sequenz von Pro- und Kontra-Argumenten der beiden Freunde entzieht sich die soeben als ethisch eigentlich nicht existenzberechtigtes Lebenwesen Verworfene der Situation und dem Gespräch, indem sie gleichsam ihren Körper verlässt und durch den Rückzug in ihren „neutralen Raum“ die Umgebung ausblendet und nurmehr wie ein „Rauschen“ an sich abgleiten und vorüberziehen lässt.
Mit dem sich entkörperlichenden Rückzug in eine völlige Fühllosigkeit zahlt das angegriffene Individuum natürlich einen hohen Preis für seine elementare Selbsterhaltung. Den einer partiellen Abtötung dieses Selbst. Indem es wiederholt derart rigoros die eigene Lebendigkeit stranguliert, begeht das Individuum quasi schleichend, seelischen und psychosomatischen Selbstmord. Ähnliche Zustände katatoner Selbsterstarrung kennt man von Psychiatrieinsassen. Die selbstinduzierte hypnotische Flucht aus der Realität in den „neutralen Raum“ trägt mithin psychopathologische Züge. Der äußerst prekäre psychische Selbsterhaltungsvorteil, den das von Mal zu Mal in höchster Not aufgesuchte Refugium des neutralen Raums Behinderten bietet, lässt diese kurzfristige Überlebensstrategie für eine längerfristige Lebensperspektive untauglich erscheinen. Dauerhaft kann auf diese Weise Leben mit Behinderung nicht gelingen. – Der zweite Raum, den die Autorin nicht zuletzt dank ihrer Bildungsbiographie als positive, lebenszugewandte Alternative für sich entdeckt hat, markiert gegenüber dem neutralen Raum und dessen Notbehelf einen unbezweifelbaren Entwicklungssprung. Der abstrakte Denk- oder Reflexionsraum, wie ich ihn bezeichnen möchte, stellt nichtsdestoweniger gleichfalls einen Rückzugsraum dar. Diesmal entzieht sich das gefährdete Selbst in die Höhe geistiger Gefilde, weit oberhalb der Unmittelbarkeit, Spontaneität und ungefilterten Sinnlichkeit unseres irdischen oder alltäglichen Daseins. In dieser durch die Philosophie und ihre großen Namen repräsentierten exquisiten Sphäre der „Reinheit“ und des „Unvermischten“ sind beispielsweise die platonischen „Ideen“ beheimatet, die reinen und ungetrübten Urbilder aller auf Erden vorkommenden Dinge und Erscheinungen. Nur bei den unvollkommenen Abbildern finden sich Unzulänglichkeit und Normabweichung bis hin zu Missratenem. Weshalb die gelehrige Schülerin der Philosophie Cooper Jones – sie hätte sicher nichts dagegen, wenn ich sie eine „Liebhaberin der Weisheit“ nenne – vor allem am Neuplatoniker Plotin Gefallen findet. Aus dessen Betonung des „Reinen“ und „Unvermischten“ erhellt einmal mehr, dass in diesem sublimen Raum des „Wahren, Guten und Schönen“, des Ideal Einen, keinerlei Mangelbehaftetes bzw. Defizitäres vorkommt oder auch nur gedanklich eine Rolle spielt, worunter auch ihre real existierende Behinderung fällt. Von daher die ungemein heilsame Wirkung, die ein Aufenthalt in diesem Raum auf das von seinen Mitmenschen malträtierte, gekränkte und gesellschaftlich vielfach ausgeschlossene Behinderten-Selbst.
(Der zweite Teil dieser Rezension und was es mit der Befreiungserfahrung von „Easy Beauty“ auf sich hat, folgt nächste Woche)