
Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Triggerwarnung unnötig: Im Mittelpunkt dieser Kolumne steht nicht der Politiker Friedrich Merz, der das, worum es im Folgenden geht, nämlich "intellektuelle Redlichkeit", dieser Tage vor aller Augen hat vermissen lassen. Wie eine recht verstandene und ernsthaft praktizierte Spiritualität (Thema der vorigen Kolumne), so kräftigt auch die Tugend der intellektuellen Redlichkeit unseren mentalen Immunschutz. Gegen die Fallstricke "mythischen Denkens", mit dessen sinnstiftenden Erzählungen "über uns" (Nation, Volk, Stamm, Glaubensgemeinschaft etc.) wir uns allzu leicht etwas vormachen, in die Tasche lügen. Und mit dessen konventionellen Moralvorstellungen wir auch ein "sittliche" Trennlinie ziehen zwischen uns und den anderen. – "Sich rückhaltlos ehrlich machen", dies ist es, was intellektuelle Redlichkeit von einem fordert. Warum mir dieser Vorsatz in einer globalen Krisen- und Katastrophenzeit wie der gegenwärtigen wichtiger denn je erscheint und was er konkret von uns verlangt, darüber nun noch einige Worte.
Was bedeutet „sich ehrlich machen“?
Ein weites Feld, geeignet, sich in einer moralphilosophischen Abhandlung zu verlieren. Daher zunächst das Grundsätzliche. Intellektuell redliches Denken und Sprechen ist dem „rationalen Denken“ und einer vernünftigen (argumentativen) Urteilsbildung verpflichtet. Es orientiert sich damit in Sachfragen und in seiner Realitätsbeschreibung am Kriterium der Wahrheit bzw. der wahren Aussage. In seinem kulturellen und künstlerischen Ausdrucksverhalten an Wahrhaftigkeit (mithin nicht daran, was anderen gefallen könnte, auf Beifall stößt, Aufmerksamkeit generiert etc.). – Intellektuelle Redlichkeit ist an Wissen (das über Information hinausgeht) orientiert und interessiert. Gerade auch auf dem Gebiet kultureller Muster und gesellschaftlichen Verhaltens (z. B. Produktionsweisen und Lebensstile) wäre wissentliches Nichtbeachten von vorhandenem Wissen und Wissbarem, also „Ignoranz praktizieren“, gleichbedeutend mit intellektueller Unredlichkeit.
Beispiel gefällig? Auf einem endlichen Planeten unendliches wirtschaftliches Wachstum propagieren und dessen schädliche Folgen für die menschliche Lebenswelt und die Biosphäre kleinreden unter Hinweis auf schadensbegrenzende technologische Innovation oder die Verheißung „grünes Wachstum“ grenzt an intellektuelle Unredlichkeit, meines Erachtens. – Oder ein für die kobinet-nachrichten näherliegendes, weil in den behindertenpolitischen Zusammenhang gehörendes Beispiel: Auf Grundlage seiner fachlichen Qualifikation eines Soziologen und Kulturwissenschaftlers verfasst der Kolumnist eine Expertise, eine kritische Bestandsaufnahme der behindertenpolitischen Inklusions- und Teilhabebestrebungen, die im Ergebnis für einen Perspektivwechsel in der Behindertenpolitik plädiert. Ein argumentativer Beitrag, wie er nicht gleich um die nächste Diskursecke abermals zu lesen ist. Wenn der Autor daraufhin Einzelne aus der politisch institutionellen Selbstvertretung sagen hört, die Lektüre sei ihnen zu anstrengend, einen solchen Text würden sie nicht lesen, dann werte ich dies als „praktizierte Ignoranz“. Ein Nichtwissenwollen und eine Denkfaulheit, die sich mit keiner selbstverschuldeten Unmündigkeit entschuldigen lässt (insofern hier Kant bemühen kein „mit Kanonen auf Spatzen zielen“ wäre).
Solcher Art auf intellektueller Redlichkeit bestehen oder diese einfordern, läuft das nicht auf Moralisieren und auf kleinbürgerlichen Tugendterror hinaus? Nein. Bezogen auf die beiden Beispiele handelt es sich bei meiner Forderung nach intellektueller Redlichkeit um keinen Selbstzweck. Sie nicht praktizieren, verursacht Kosten, auch wenn die Betreffenden diese nicht unmittelbar zu spüren bekommen. Wie die fortschreitende Unbewohnbarkeit bestimmter Weltgegenden im einen Fall. Im anderen ein tunnelblickartiges „weiter so“, ein mehr schlecht als recht „sich durchwursteln“ einer sozialtheoretisch und gesellschaftskritisch unzulänglich informierten Behindertenpolitik. Möglicherweise mit der Inkaufnahme von zunehmender Frustration und Zynismus innerhalb des Aktivismus und sich ausbreitender Lethargie in der Community.
Zwischenfrage: Ist „intellektuelle Redlichkeit“ dasselbe wie Anstand?
Intellektuelle Redlichkeit bezeichnet eine definitorisch klar umrissene ethische Norm. Anwendbar ausschließlich auf ein Denken und Sprechen, das mit einem Wahrheitsanspruch auftritt. Menschliches Denken, Sprechen und Handeln im Alltag erstreckt sich weit über diesen Bereich hinaus. – Anständigkeit ist ein Moralbegriff aus der alltäglichen Lebenswelt. Was genau ihre Verhaltenserwartungen sind, bleibt unscharf. Weil sich Anständigkeit nach den jeweils vorherrschenden konventionellen Auffassungen von Moralität bzw. Sittlichkeit in einer Gesellschaft richtet. Den eher unbestimmten Anständigkeitsbegriff im politischen Diskurs verwenden, darin sehe ich eine fragwürdige Moralisierung von Politik. Umso mehr, wenn eine Gruppe von Diskursteilnehmern daraus für sich eine moralische Identität ableitet mit dem Anspruch „wir sind die Anständigen“. Was die politisch Andersdenkenden pauschal zu „Unanständigen“ macht. Daher verstünde ich mich ungern als Anhänger oder Teilnehmer eines „Aufstands der Anständigen“, wenn ich mich politisch konsequent und mit Nachdruck „gegen Rechts“ positioniere.
Chancengleichheit und Leistungsideologie – moralische Doppelstandards und Manichäismus
„Chancengleichheit“ darf zurecht als eine gesellschaftspolitische Idee betrachtet werden, die auf rationalem Denken und universalistischen Gerechtigkeitsprinzipien basiert (detailliert dargelegt in der politischen Philosophie John Rawls). Zusammengedacht und versuchsweise praktiziert in Verbindung mit der neoliberalen Leistungsideologie, verwandelt sie sich allerdings zusammen mit dieser in einen veritablen Mythos. Eine die Realität faktischer Ungleichheit und ungerechter Verteilung beschönigende und ideologisch verschleiernde Erzählung. – Indem nun Behindertenaktivismus und Behindertenpolitik eine durch nachteilsausgleichende Rehamaßnahmen und Assistenzgewährung hergestellte bzw. garantierte Chancengleichheit beim Eintritt in den Leistungswettbewerb auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als das große Eingangstor zur gesellschaftlichen Inklusion ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen, droht dabei außer Acht zu geraten, dass die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft im allgemeinen und der Leistungswettbewerb auf dem neoliberalen Berufs- und Arbeitsmarkt im besonderen, permanent Gewinner und Verlierer produzieren und Strukturen von Ungleichheit und Ausschluss reproduzieren. Das Resultat ist eine „erschöpfte Gesellschaft“, in der die wirtschaftlichen und politischen Leitungs- und Kommandostellen die Arbeitenden auffordern, nicht weniger sondern mehr zu arbeiten, die Arbeitsintensität zu steigern, „ranzuklotzen“. Ein behindertenpolitischer Ansatz, der diese Effekte und Zusammenhänge nicht oder kaum thematisiert, offenbart in meinen Augen einen Mangel an intellektueller Redlichkeit.
Zugegeben, es scheint auch mir aussichtslos, an Politik einen gleich strengen Maßstab in puncto „intellektuelle Redlichkeit“ anzulegen wie im Fall sozialwissenschaftlicher Expertise. Andererseits möchte ich den Punkt im Auge behalten, an dem legitimes politisches Taktieren auf Realitätsverleugnung oder gar Täuschung hinausläuft, der politische Diskurs und die politische Argumentation in Selbstbetrug und Betrug an der jeweiligen Klientel umschlägt. – Noch ein Blick auf die nationale und die internationale Bühne der „großen Politik“, wo der Moraldiskurs zu einem politischen Machtfaktor geworden ist. Auch hier lässt sich beobachten, wie zunächst universalistische Moralprinzipien wie die Menschenrechte aufgrund praktizierter Doppelstandards (beispielsweise in Baerbocks Außenpolitik) de facto auf das Niveau konventioneller Stammesmoral „heruntergewirtschaftet“ werden. Ungebremst feiert ein überwunden geglaubtes Freund-Feinddenken im neuen Ost-West-Konflikt fröhliche Urständ. Kein nennenswerter Widerstand regt sich gegen das Abgleiten und die Regression in den „Manichäeismus“, das mythische Denken in Schwarz-Weiß-Schemata. Gut und Böse fein säuberlich geschieden, das Gute auf unserer Seite, alles Böse auf der gegnerischen.
Auf einer abschüssigen Ebene in antizivilisatorische Abgründe, wie es weltpolitisch allenthalben zu beobachten ist, kräftigt das Festhalten Einzelner an intellektueller Redlichkeit wenigstens bei ihnen die mentale Resilienz, ihre Widerstandsfähigkeit gegen den Sog mythischen Denkens um sie herum. Und, ich muss es intellektueller Redlichkeit halber aussprechen, diese mentale Resilienz bewahrt mich derzeit vor dem Abdriften in eine behindertenpolitische Parallelwelt, in der gebetsmühlenartig plakative Statements wie „Demokratie braucht Inklusion“ wiederholt und sprechblasenhafte Forderungen nach Barrierefreiheit und Teilhabe an eine offizielle Politik adressiert werden, die sich darum einen Teufel schert und sich längst ganz woanders aufhält. Dort nämlich wo auf angeblich „Leistungsschwächere“ und „wirtschaftlich Unproduktive“ herabgeschaut wird, wo man beim Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft erneut einen Zahn zulegt, wo Kriegsvorbereitung und Kriegsertüchtigung betrieben werden und in „Thinktanks“ über die Führbarkeit begrenzter Atomkriege nachgedacht wird.
P.S. Rund ein Jahr ist es her, dass meine beiden Kolumnen „gegen Rechts“ auf kobinet erschienen sind. Ich empfehle, sie nochmals aufmerksam zu lesen.
https://kobinet-nachrichten.org/2024/01/16/sonderkolumne-behinderte-gegen-rechts-jetzt-initiativ-werden/
https://kobinet-nachrichten.org/2024/02/01/noch-einmal-behinderte-gegen-rechts-ueber-die-parolen-hinaus-braucht-es-debatte-und-analyse/
Ein meiner Meinung nach durchaus lesbarer, wenn nicht lesenswerter Beitrag. Hans Willi Weis Kolumnen sind für mich tatsächlich Expertisen, die zugegebener Weise auch meinen Intellekt fordern und ihn manchmal an seine Grenzen bringen. Ich kann seine Beiträge nicht mal ebenso, nebenbei lesen. Meine intellektuelle Redlichkeit erfordert es gelegentlich, seine Artikel zweimal zu studieren. Dabei reflektiere ich dann auch meine eigenen Beiträge, die ich, im Gegensatz zu Hans Willi Weis, manchmal zu schnell „aus der Hüfte abfeuere“.