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Entstehung der Pflegeversicherung – Gesetzgebungsverfahren und abschließende Debatte im Bundestag

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Mittlerweile können wir auf 30 Jahre Pflegeversicherung zurück blicken. Grund genug für den kobinet-Historiker Dr. Martin Theben in einem ausführlichen Beitrag auf die Debatten und Stationen der Entwicklung und Beschlussfassung der Pflegeversicherung zu blicken. Im Folgenden veröffentlichen die kobinet-nachrichten daher den Beitrag von Dr. Martin Theben und danken ihm für dessen Ausarbeitung, die aufzeigt, dass die Probleme der Pflegeversicherung und -absicherung noch längst nicht gelöst sind.

Die Pflegeversicherung – Gesetzgebungsverfahren und abschließende Debatte im Deutschen Bundestag

Bericht von Dr. Martin Theben

Im März 1993, und damit ca. anderthalb Jahre vor dem Ende der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, einigten sich die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP grundsätzlich auf die Einführung einer sozialen Pflegeversicherung als 5. Säule des Bundesdeutschen Sozialversicherungssystems. Es sollte jedoch ein ganzes Jahr dauern bis dieses große, sozialpolitische Reformwerk, für das sich insbesondere der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) sehr stark einsetzte, in Kraft treten konnte. Der Grund für dieses sehr lange Gesetzgebungsverfahren bestand nicht darin, dass es Streit über Art und Umfang der Leistungen gab. Vielmehr ging es allein darum, wie die gesetzliche Pflegeversicherung finanziert werden sollte.

Die FDP bestand nämlich mit Nachdruck darauf, dass die paritätische Finanzierung durch Beiträge sowohl von Arbeitnehmern als auch von Arbeitgebern, für letztere kompensiert werden müsse. Die FDP war von Anfang an ein Gegner der Einführung einer sozialen Pflegeversicherung und sprach sich vielmehr für eine private Zusatzversorgung aus. Als sie sich hiermit jedoch gegen die CDU/CSU nicht durchsetzen konnte, versuchte sie zumindest in der Frage der Beitragsfinanzierung politisch Boden gut zu machen. So war zunächst geplant, die Beiträge der Arbeitgeber durch Einführung von Karenztagen im Krankheitsfalle zu kompensieren. Hiergegen kündigte jedoch die SPD scharfen Widerstand an. Da die Pflegeversicherung der Zustimmung durch den damals SPD-dominierten Bundesrat bedurfte, konnten die Regierungsparteien mit ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag das Reformwerk zwar im Oktober 1993 beschließen, der Bundesrat lehnte jedoch das Gesetzesvorhaben ab und verwies die Vorlage in den Vermittlungsausschuss.

Zwischenzeitlich hatten sich die Regierungsparteien auf eine andere Form der Kompensation der Arbeitgeberbeiträge verständigt. Nunmehr sollten die Arbeitnehmer eine 20 % Lohnkürzung im Krankheitsfalle hinnehmen. Auch hierin sah die SPD einen verfassungswidrigen Eingriff in die Tarifautonomie. Erst am 10. März 1994 konnte der Vermittlungsausschuss eine Einigung verkünden. Nunmehr war vorgesehen, dass die Bundesländer jeweils einen Feiertag streichen konnten. Wo dies nicht geschah, mussten die Arbeitnehmer die Beiträge für die Pflegeversicherung allein aufwenden, es denn, die Tarifvertragsparteien fanden hierfür eine entsprechende Regelung. So wurde, was insbesondere den Sozialdemokraten wichtig erschien, die Tarifautonomie gewahrt. Als Folge dieser Regelung wurde beispielsweise in Berlin der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag abgeschafft.

Am 22. April 1994 beriet der Deutsche Bundestag in seiner 223. Sitzung abschließend in 2. und 3. Lesung über das Pflegeversicherungsgesetz. Einleitend sprach Bundesarbeits- und Sozialminister Norbert Blüm von einem guten Tag für den Deutschen Bundestag und einem guten Tag für all jene, die auf das Gesetz warten. Nach dem er sich für die allseitige Kompromissbereitschaft bedanke, führte er unter anderem weiter aus: „Das Gesetz ist auf den guten Willen und das Engagement vieler angewiesen. Nächstenliebe und Barmherzigkeit lassen sich nicht durch Paragrafen kommandieren, sie lassen sich überhaupt nicht kommandieren. Systeme, Institutionen sind wichtig; aber noch wichtiger sind Menschen. Ohne hilfsbereite Menschen bleibt jedes Gesetz ein kaltes Gehäuse, eine leerlaufende Maschine. Die Pflegeversicherung ersetzt nicht die Hilfsbereitschaft; sie stützt sie und schütz sie vor Überforderung.“

Für die SPD-Fraktion sprach dann im Anschluss deren Sozialexperte Rudolf Dreßler. Rudolf Dreßler wurde am 17. November 1940 in Wuppertal geboren. Er gehörte dem Deutschen Bundestag von 1980 bis 2000 an. Danach fungierte er fünf Jahre als Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel. Auch er lobte das Ergebnis des Vermittlungsverfahrens und bezeichnete es als spürbare Verbesserung für die Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und alle in der Pflege tätigen. Rudolf Dreßler fuhr dann in seiner Rede fort: „Dass, was der Vermittlungsausschuss nunmehr einvernehmlich zur Annahme vorschlägt, bedeutet zu allererst eine spürbare Verbesserung. Der im Falle der Pflegebedürftigkeit für die Pflegeversicherung gezogene Leistungsrahmen wurde spürbar angehoben, im ambulanten Bereich, vor allem bei der Sachleistung, aber auch im stationären Bereich und bei Barleistungen. Vom Leistungsumfang her ist sichergestellt, dass es einen Trend ins Heim, wenn 1996 die Heimpflegeleistungen in Kraft treten, nicht geben wird. Ob Haus- oder Heimpflege, für Schwerstpflegebedürftige werden gleichhohe Sachleistungen von 2.800,00 DM fällig. Durch den insbesondere von der SPD geforderten Grundsatz Rehabilitation geht vor Pflege könne ein Abschieben kranker Menschen in die Pflegeversicherung verhindert werden. Auch hätten die Betroffenen bei drohender Pflegebedürftigkeit Anspruch auf alle ambulanten Rehabilitationsmaßnahmen. Weiterhin habe die SPD sichergestellt, dass Beamte bei den Leistungen hinsichtlich der Pflegeversicherung nicht besser gestellt würden. So würden die Beihilfeleistungen den Leistungen der Pflegeversicherung angepasst. Insgesamt bezeichnete Rudolf Dreßler die Leistungen der Pflegeversicherung als angemessen.

Für die FDP-Fraktion verwies deren Abgeordnete Dr. Gisela Babel in ihrem Beitrag auf den Einfluss ihrer Partei. Die neue Sozialversicherung sei „nach liberalen Prinzipien wesentlich geprägt“. Ohne die Freien Demokraten sähe diese Pflegeversicherung anders aus: „größer, plumper, teurer“.

Schließlich ergriff dann für die PDS/Linke-Liste der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert das Wort. In dem er sich direkt auf die Ausführungen des Arbeits- und Sozialministers bezog, entgegnete er: „Aber Herr Blüm, es geht nicht um Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Es geht um Bürgerrechte und um Menschenwürde. Dass wird mit dieser Pflegeversicherung nicht geleistet.“ Hier setzte der Abgeordnete Ilja Seifert den entscheidenden Unterschied zu den Ausführungen Norbert Blüms und wies auf den inhaltlichen Schwerpunkt hin, den vor allem die Vertreter der emanzipatorischen Behindertenbewegung immer wieder verdeutlichten. So führte der Abgeordnete Seifert in seinem Beitrag weiter aus: „Es werden tatsächlich Almosen verteilt. Das wollen die Menschen die auf Pflege angewiesen sind nicht.“ Ausweislich des stenografischen Protokolls wurde der Abgeordnete Seifert während seiner Rede immer wieder von heftigen Zwischenrufen aus den Reihen der Koalitionsfraktionen unterbrochen. Der FDP-Abgeordnete Wolfgang Weng wurde mit dem sich wiederholenden Zwischenruf verzeichnet „Ihre Partei ist die Partei des Staatsbankrotts“. Gleichwohl ließ sich der Abgeordnete Ilja Seifert hier nicht beirren und wies im Rahmen seiner weiteren Ausführungen noch einmal auf das zentrale Problem des zurückliegenden langen Gesetzgebungsverfahrens hin: „ Es wurde monate- und jahrelang immer nur über das Geld gestritten. Die Leistung, die die Menschen wirklich in die Hand bekommen, ist nach wie vor so, dass höchstens 25 oder 26 Tage im Monat überhaupt etwas gewährt wird. Sollen die Menschen an den anderen 5 oder 6 Tagen nichts kriegen? Das kann doch wohl nicht sein.“ Die Vertreter der emanzipatorischen Behindertenbewegung hatten sich gemeinsam mit den Oppositionsparteien von Grünen/ Bündnis 90 und PDS immer wieder für ein bedarfsgerechtes, steuerfinanziertes Pflegeleistungsgesetz stark gemacht. Die diversen gesetzgeberischen Initiativen der Oppositionsparteien fanden jedoch nie eine Mehrheit. Die Regierungskoalition favorisierten im Schulterschluss mit den Sozialdemokraten die Versicherungslösung. Hier waren jedoch gedeckelte Sach- und Geldleistungen vorgesehen. Eben diesen Umstand deutete der Abgeordnete Ilja Seifert in der zuvor zitierten Passage an.

Für die Fraktionen von Bündnis 90/ die Grünen nahm der Regiesseur und ehemalige Bürgerrechtler Konrad Weiß zu dem Gesetzentwurf Stellung. Konrad Weiß wurde am 17. Februar 1942 im damaligen Niederschlesien geboren. Während der Wendezeit in der DDR gehörte er der Bürgerrechtsgruppe DEMOKRATIE JETZT an. In der Zeit von 1990 bis 1994 gehörte Konrad Weiß dem Deutschen Bundestag an. Im Jahre 2001 trat er aus der Partei Bündnis 90/ Die Grünen aus, da der Berliner Landesverband anlässlich der Wahlen zum Abgeordnetenhaus mit der PDS koalieren wollte; dieser Umstand bewog auch den behindertenpolitischen Sprecher der Berliner Grünen Dietmar Volk zum Parteiaustritt.

Auch Konrad Weiß kritisierte in seiner Rede die Leistungen der Pflegeversicherung als nicht ausreichend: „Nach unserer Auffassung beinhaltet diese Pflegeversicherung kein innovatives Moment, dass auf eine qualitative Verbesserung der Pflege abzielt. Weder wird die Situation der stationären Pflege problematisiert noch nach neuen Wohn- und Betreuungsformen außerhalb von Großheimen gesucht. Es wurden keine Impulse gegeben, die ambulante und teilstationäre Pflege auszuweiten und weiterzuentwickeln. (…) Die selbstorganisierte ambulante Schwerbehindertenbetreuung wird mit Einführung der Pflegeversicherung geradezu zusammenbrechen. Wer sich auf familiäre Assistenz und Pflege nicht stützen kann oder diese nicht in Anspruch nehmen möchte, dem droht in vielen Fällen die Abschiebung ins Heim.“

Die Auswirkungen der Pflegeversicherung bei den Betroffenen

Gleichwohl fand der Gesetzentwurf die Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD. Knapp eine Woche später am 29. April 1994 stimmte auch der Bundesrat dem Gesetzentwurf zu. Damit konnte die Pflegeversicherung zum 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten. Die Leistungen konnten im April 1995 erstmalig in Anspruch genommen werden. Die zweite Stufe, bezogen auf die stationären Leistungen, würde dann ein weiteres Jahr später 1996 in Kraft treten. Aufgrund der durch die Abgeordneten Ilja Seifert und Konrad Weiß in ihren Beiträgen angedeuteten Probleme, musste der Gesetzgeber bereits 1996 umfassend nachbessern. Den wie schon das Gesundheitsreformgesetz aus dem Jahre 1988 brachte auch die Pflegeversicherung existentielle Gefahren für die zum Teil viel weiter gehenden Landespflegegeldgesetze mit sich. Diese boten bedarfsgerechte und einkommensunabhängige Geldleistungen, die es vielen Menschen mit Behinderungen möglich machten, selbstbestimmt außerhalb von Heimen zu leben. Die Soziale Pflegeversicherung als Bundesrecht schien diese Landesgesetze, z.B. in Berlin oder Bremen, nun zu verdrängen.

Auch das Verhältnis zu den Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz war ungeklärt. Viele Betroffene konnten damals aufgrund der Regelungen des Bundessozialhilfegesetz (BSHG) auch das Arbeitgeber-Modell nach dem Konzept der Persönlichen Assistenz organisieren. Danach konnten sie ihre Assistenten selbst auswählen, qualifizieren und als abhängig Beschäftige bei sich anstellen. Sie verfügten quasi über die Auswahl-, Anleitungs- und Finanzierungskompetenz und übten das Direktionsrecht über ihre Assistenzkräfte aus. Das Konzept der Persönlichen Assistenz wurde ausführlich in der Randschau-Ausgabe 1/93 u.a. von Swantje Koepsell aus Bremen und Ralph Loell aus Berlin erläutert. Eine sehr kritische Stellungnahme der Fördergemeinschaft der Querschnittsgelähmten in Deutschland e.V. zum Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt sich u.a. auch mit den Gefahren für das Persönliche-Assistenzmodell auseinander. Diese Stellungnahme ist in der Ausgabe 4/1993 des Paraplegikers abgedruckt. Auch diese Errungenschaft drohte durch die Pflegeverunsicherung, wie sie damals innerhalb der Behindertenbewegung bezeichnet wurde, verloren zu gehen. Denn das Gesetz sah vor, dass Pflegesachleistungen nur von Diensten und fachlich-qualifizierten Pflegekräften erbracht werden durften. Das Pflegegeld wiederum war zu gering, um die angestellten Assistenten entlohnen zu können. Eine Fülle an Problemen, die von der Politik nicht bedacht worden waren. Der Gesetzgeber würde also schon in einem Jahr nachbessern müssen.

Die Beratungen zur Einführung der 2. Stufe der Pflegeversicherung, des Pflegeversicherungsänderungsgesetzes und zur Einführung des § 3a BSHG.

Die Jahre 1995 und 1996 waren behindertenpolitisch geprägt von der Einführung der 2. Stufe der sozialen Pflegeversicherung. Parallel zu diesem Gesetzgebungsverfahren wurde ein von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachter Änderungsantrag diskutiert. Beiden Gesetzgebungsverfahren war gemeinsam, dass hier Probleme diskutiert wurden, die sich in dieser Form auch noch im Rahmen der Debatten zum Bundesteilhabegesetz stellten.

Bei der Einführung der 2. Stufe der Pflegeversicherung ging es nun darum, die Leistungen auch für Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen in Kraft zu setzen. Hier war ebenfalls ein Drei-Stufen-Modell vorgesehen, in dem die Bewohner Sachleistungen in Anspruch nehmen konnten. In besonderen Härtefällen sah die 3. Stufe eine erhöhte Sachleistung vor. Gleichzeitig befasste sich aber der von den Regierungskoalitionen CDU/CSU und FDP eingebrachte Entwurf auch mit Problemen, die mittlerweile aufgetreten waren. Dabei ging es zum einen um die Abgrenzung von Leistungen der Krankenkasse und Leistungen der Pflegekasse im Rahmen der Behandlungspflege. Hier war es insbesondere hinsichtlich der Finanzierung zu einem Streit zwischen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) und dem Gesundheitsminister und späterem Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) gekommen. Wie bei den Debatten um das Bundesteilhabegesetz erwies sich auch damals die Abgrenzung zwischen Leistungen der Pflegeversicherung und Leistungen der Eingliederungshilfe als weiteres Problem. Die Bewohner in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe sollten vollständig aus dem Leistungsbezug der sozialen Pflegeversicherung herausgenommen werden. Dies stieß bei den Behindertenverbänden auf erheblichen Widerstand.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen versuchte mit ihrem Antrag für ein Änderungsgesetz insbesondere die bisherigen Errungenschaften der persönlichen Assistenz bzw. des Arbeitgebermodells zu erhalten. Es herrschte nämlich die nicht ganz unberechtigte Befürchtung, dass durch die insoweit vorrangige Pflegeversicherung das bisher in der durch die nachrangige Bundessozialhilfe finanzierte Arbeitgeber-Assistenzmodell zum Scheitern verurteilt war. Dies versuchten die GRÜNEN nun mit ihrem Änderungsantrag zu korrigieren. Weiterhin forderten sie, dass es Menschen mit Behinderungen auch möglich sein musste, eigene Pflegebetriebe zu gründen. Dem standen jedoch die Regelungen des Pflegeversicherungsgesetzes entgegen, wonach Verträge nur mit entsprechenden Fachkräften abgeschlossen werden dürfen. Darin sahen sich insbesondere die Assistenzgenossenschaften und von Betroffenen organisierten ambulanten Diensten, etwa in Bremen und Berlin, gefährdet. Schließlich wandten sich die GRÜNEN auch gegen das Ruhen der Leistungen der Pflegeversicherungen bei einem Auslandaufenthalt. Dies, so ihre Argumentation, würde behinderte Menschen in ihrer Freizügigkeit tangieren. Konkret betraf dieses Problem insbesondere behinderte Studierende, die ein Auslandssemester planten.

In diesem Zusammenhang ist die Bundestagsdebatte vom 16. Februar 1995 besonders hervorzuheben. In dieser Debatte wurde in erster Lesung über den Änderungsantrag der GRÜNEN debattiert. Die Aussprache zeichnet sich durch eine besondere Klarheit und Ehrlichkeit aus, die man in den heutigen Debatten vermisst.

Es war der aus Berlin stammenden Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Andrea Fischer, sie würde in der kommenden Legislaturperiode die erste grüne Gesundheitsministerin im Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) werden, vorbehalten, den Gesetzentwurf ihrer Fraktion zu begründen. Nach ihrer Kritik am Ruhen der Leistungsansprüche bei dauerhaftem Auslandsaufenthalt wandte sich sie dem Arbeitgebermodell zu und führte aus: „Viele Behinderte haben in den letzten Jahren Konsequenzen daraus gezogen, dass sich Art und Umfang der Betreuung häufig mehr an den Organisationsplänen der ambulanten Pflegedienste und am Selbstverständnis der Pflegekräfte orientieren als an den Bedürfnissen der Betroffenen selbst. Sie wollen es nicht länger hinnehmen, daß ihnen eine Anpassung an die Versorgungsstrukturen abverlangt wurde, sondern sie fordern, wie ich finde, zu Recht, daß sich umgekehrt die Strukturen ihren Bedürfnissen anzupassen hätten.“ Unterbrochen vom Beifall ihrer Fraktion setzte sie dann wie folgt ihre Rede fort: „Um die Verfügung über den eigenen Alltag wieder zu erlangen, haben Behinderte ihre Pflegekräfte vielfach selbst angestellt oder sich zusammengetan, um eigene selbst organisierte Pflegebetriebe aufzubauen. In ihrer Arbeitgeberrolle haben sie dabei ein Maß an Selbstbestimmung gewonnen, das diese Gesellschaft für ihre behinderten Mitglieder ausgesprochen selten vorsieht. Sie wurden von Objekten der Fürsorglichkeit zu Subjekten eigenen Handelns.“ Das stenografische Protokoll des Bundestages verzeichnet an dieser Stelle den Zwischenruf des Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion Julius Looven: „Na, na Frau Kollegin!“

Der Kollege Julius Looven war es dann auch, der als erster vehement gegen den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen argumentierte. Er wies hinsichtlich des Ruhens von Leistungen bei dauerhaften Auslandsaufenthalten darauf hin, dass ein dauerhafter Export ausdrücklich vom Gesetzgeber nicht gewollt gewesen sei. Dies würde aber keinesfalls einen bis zu sechswöchigen Urlaubsaufenthalt der jeweils Betroffenen ausschließen. Sodann lehnte er die Übertragung des Arbeitgebermodells auch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ab und begründete dies folgendermaßen: „Ihrer weiteren Forderung, Pflegesachleistungen in geeigneten Fällen auch durch eigene Pflegebetriebe der Pflegebedürftigen erbringen zu können, kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Diese Forderung orientiert sich am sog. Arbeitgebermodell der Leistungsgewährung. (…) Hierbei treten die Pflegebedürftigen als Arbeitgeber auf. Ich sehe noch keine Notwendigkeit, dieses Modell in die Pflegeversicherung zu übernehmen; denn die Kosten hierfür sind erheblich. Sie haben im Einzelfall bis zu 20.000 DM betragen.“ Die Zahl 20.000 DM würde im Rahmen der Diskussion um die Assistenzkosten noch häufiger verwandt werden.

Auch die SPD konnte sich nicht dazu entschließen, dem Antrag der Grünen zuzustimmen. Für seine Fraktion erläuterte dies der Abgeordnete Gerd Andres. Auch er wies unter Bezugnahme auf eine entsprechende Regelung im Krankenversicherungsrecht darauf hin, dass der Leistungsausschluss sich auf einen Aufenthalt von längstens 6 Wochen im Kalenderjahr beziehe. Urlaubsreisen seien somit auch für Menschen, die Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen wollten, weiterhin möglich. Hinsichtlich des Problems der Erweiterung des Begriffes der Pflegefachkraft wandte er sich ebenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt gegen eine Gesetzesänderung. Vielmehr sollten hier die Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit mit den Vertretern der Behindertenverbände noch einmal ins Gespräch kommen. „Das Problem des Arbeitgebermodells ist gegenwärtig so geregelt, daß bestehende Verträge weitergeführt werden können. Ausnahmen sind bereits jetzt durch das Gesetz vorgesehen. Es stellt sich aber die prinzipielle Abgrenzungsproblematik für alle Pflegebedürftigen, da mit einer solchen Arbeitgeberkonstruktion die klare Trennung zwischen Sach- und Geldleistungen im Gesetz insgesamt infrage gestellt wird.“ Hierzu wolle man die weiteren Gesetzesberatungen abwarten und sich noch nicht abschließend positionieren. Ergänzend kann noch angeführt werden, dass das Persönliche Budget als dritte Form der Leistungsgewährung erst im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum SGB IX eingeführt werden wird.

Schließlich ergriff dann Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) das Wort: Auch er wies zunächst noch einmal darauf hin, dass Urlaubsreisen durch die geplante Regelung nicht betroffen seien. Auf eine entsprechende dezidierte Nachfrage der Abgeordneten Andrea Fischer führte er aus: „Es entspricht dem gesunden Menschenverstand, daß jemand, der sich vorübergehend zu einem Urlaub ins Ausland begibt, anders zu behandeln ist, als jemand, der seine Pflegeleistungen ins Ausland mitnimmt, so daß Pflegeleistungen an einen Wohnort exportiert werden. Der Urlaubsort ist doch nicht der Wohnort.(…) Es ist etwas anderes, ob jemand an einen Urlaubsort reist und dort 4 Wochen mit einem Pflegebedürftigen, den er mitnimmt, bleibt, oder ob jemand Pflegeleistungen aus Deutschland irgendwo im fernen Ausland beziehen will, was überhaupt nicht mehr kontrollierbar wäre, was auch im Sinne des Gesetzes überhaupt nicht mehr zu überwachen wäre.“ Auch hinsichtlich des Arbeitgebermodells vertrat der Bundesminister hier eine klare Position: „Bei dem Arbeitgebermodell handelt es sich in der Tat um ein anderes Modell. Sie würden dann auf ein Kostenerstattungsprinzip umsteigen. Sie können praktisch nicht mehr zwischen Sach- und Geldleistungen unterscheiden. Den Behinderten kommen diese Leistungen auch zugute. Sie werden Pflegegeld erhalten, die mit dem Arbeitgebermodell angesprochenen Pflegebedürftigen haben einen Anspruch auf Pflegegeld. Die Pflegeversicherung kann aber nicht an die Stelle des von der Eingliederungshilfe finanzierten Arbeitgebermodells treten. Die Pflegeversicherung kann überhaupt nicht alles leisten, was von ihr verlangt wird. Sie kann nicht die Sozialhilfe mit ihren Eingliederungshilfen völlig ersetzen oder die ganze Behindertenpolitik bezahlen. Sie hat auch nicht die Kraft, die ganze Rehabilitation zu finanzieren. Die Pflegeversicherung ist ein wichtiger Fortschritt für die Pflegebedürftigen, aber sie hat nie beansprucht, alle Fragen des Sozialstaates zu lösen.“

Abgesehen davon, dass der Minister hier insoweit einem Irrtum unterlag, als dass die Leistungen für das Arbeitgebermodell zumindest auch aus der Hilfe zur Pflege des Bundessozialhilfegesetzes finanziert wurden, kann man das Problem der gedeckelten Leistungen der Pflegeversicherung nicht treffender zusammenfassen! Während dann die Abgeordnete der PDS-Fraktion, Petra Bläss, noch einmal auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe hinwies und auch die Strukturen der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung gefährdet sah, lehnte die Sozialexpertin der FDP-Fraktion Dr. Gisela Babel die Überführung des Arbeitgebermodells in die Pflegeversicherung kategorisch ab. Vielmehr verwies sie die Betroffenen auf das Pflegegeld: „Beim Pflegegeld ist der Behinderte durchaus ein Arbeitgeber, nämlich dann, wenn er einen Vertrag abschließt und entsprechende Leistungen dafür bekommt. Das ist mit Absicht so erfolgt.“ Im Weiteren ging sie noch einmal auf die berühmt-berüchtigten 20.000 DM im Monat ein, die im Rahmen des Arbeitgebermodells durch die Sozialhilfe in Einzelfällen aufgewendet werden. Dabei ließ sie sich zu einem bemerkenswerten Appell hinreißen: „Ich finde, es ist ein gutes Zeichen für unseren Sozialstaat, wenn wir in einer Größenordnung von 20.000 DM Hilfe finanzieren. An dieser Stelle könnte man ruhig einmal sagen: Anerkennung für den Sozialstaat Deutschland.“ Darüber hinaus sprach sie sich auch dafür aus, ausgebildete Pflegekräfte als Leitung von Pflegebetrieben zuzulassen.

Der Entwurf wurde sodann in die zuständigen Ausschüsse verwiesen, wo er unter anderem im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschuss für Arbeit und Soziales am 20. September 1995 mit den betroffenen Verbänden, zu denen in diesem Falle auch die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. und der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland e. V. gehörten, diskutiert. In der Randschau 1/1996 finden sich zahlreiche kritische Beiträge zur Einführung der Pflegeversicherung, insbesondere zum Vergütungssystem wo statt nach Stunden nach der Dauer der jeweiligen Verrichtung kalkuliert wird. In dem Heft wurden Beiträge von Horst Frehe und Andreas Jürgens, beides Richter und damals Sprecher bzw. Mitglieder des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, aber beispielsweise auch von Matthias Vernaldi, der sehr anschaulich erläuterte, warum ihm die Pflegeversicherung sein Frühstück versaut. Es findet sich in dem Heft auch ein ausführlicher Beitrag von Ursula Aurin über Proteste Berliner AktivistInnen beim Paritätischen in Berlin. Auch da ging es um die sog. Modulabrechnung und die Folgen gerade auch für das ArbeitgeberInnenmodell.

Schon in der Debatte vom Februar 1995 klang bei den meisten Rednern der Regierungskoalition, aber auch der SPD, durch, dass man es hinsichtlich des Arbeitgeberassistenzmodells dabei belassen wollte, diese für die Selbstbestimmung behinderter Menschen unverzichtbare Leistung im Rahmen des steuerfinanzierten, aber nachrangigen und einkommens- und vermögensabhängigen Sozialhilfesystems zu belassen. Die Ablehnung eines steuerfinanzierten Sicherungssystems brachte der damalige Abgeordnete Karl-Josef Laumann jedoch in der Debatte vom 10. Mai 1996 auf den Punkt. Anlässlich der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfs der Regierungsfraktion zur Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung führte er folgendes aus: „An die Grünen und an unsere werte Kollegin Andrea Fischer vielleicht nur ein Wort noch: Hören Sie doch auf zu glauben, man könne die großen Lebensrisiken über steuerfinanzierte Sicherungssysteme finanzieren. Ich glaube, die Antwort, die man schon in der katholischen Soziallehre nachlesen kann, dieses versicherungsrechtlich zu tun, indem die Menschen eine Vorsorge für diese Risiken durch ihre Beiträge treffen, ist allemal der richtigere Weg, weil an erster Stelle die Leistung in Form von Beiträgen und später ein Anspruch steht. Das halte ich auf jeden Fall für besser, als ein steuerfinanziertes System.“

Einige Monate zuvor wurde im Rahmen der Debatte zur ersten Lesung des Gesetzes zur Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung am 29. Februar 1996 noch einmal ausführlich über die Abgrenzungen von Leistungen der Eingliederungshilfe zu Leistungen der Pflegeversicherung debattiert. Es dürfte nicht überraschen, dass sich der Gesetzentwurf der Grünen nicht durchsetzen konnte. Ungeachtet dessen wiesen in den diversen Debatten alle Politiker darauf hin, dass diese Abgrenzungsprobleme nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden dürften. Dabei wurde insbesondere die Besitzstandsregelung im Rahmen des Art. 51 des Pflegeversicherungsänderungsgesetzes als Beleg dafür verwandt, dass Menschen mit Behinderungen durch den Sozialleistungsträger trotz Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung bedarfsdeckend abgesichert sein würden.

Der Vermittlungsausschluss von Bundestag und Bundesrat konnte sich nach mehreren Sitzungen dann noch auf folgende Ergebnisse einigen: Die Pflegeversicherung würde die Kosten der medizinischen Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtungen bis zum 31. Dezember 1999 übernehmen. Leistungen an Behinderte an vollstationären Einrichtungen werden in den Leistungskatalog der Pflegeversicherung aufgenommen. In diesem Zusammenhang würde die Pflegekasse 10 % des jeweils zu zahlenden Heimentgeltes, höchstens jedoch 500 DM im Monat übernehmen. Heilerziehungspfleger und Heilerzieher würden als ausgebildete Pflegefachkräfte anerkannt werden und schließlich würde es für bisherige Verträge im Rahmen des Arbeitgebermodells eine Bestandsschutzregelung geben. Daraufhin konnte, nachdem sowohl der Bundestag in seiner Sitzung vom 23. Mai 1996 als auch der Bundesrat in seiner Sitzung vom 24. Mai 1996 diesen Ergebnissen des Vermittlungsausschusses zugestimmt hatte, die zweite Stufe der Pflegeversicherung in Kraft treten. Im Bundesrat führte Bundesarbeitsminister Norbert Blüm am 24. Mai 1996 dazu aus:

Es ist nicht der Schlußstein einer Kathedrale – das weiß ich auch -, aber vielleicht der letzte Ziegel einer Schutzhütte, die wir heute erstellen. Es ist kein vollkommenes Gesetz. Es wird viel Kritik ertragen müssen. Aber die Perfektionisten sind die praktizierenden Nihilisten. So hat die Sozialpolitik nie gearbeitet. Sie wartet nicht, bis das Wünschbare möglich wird, sondern lässt das Mögliche Wirklichkeit werden.