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Neujahrskolumne: „Disability Rat Race“ gecancelt

Kopf eines siberischen Husky mit stechend blauen Augen
Der Kolumnist grüßt den Huskybeauftragten und heisst die Huskycommunity im Kreis unserer Allies willkommen.
Foto: danmillerxyz In neuem Fenster öffnen via Pixabay In neuem Fenster öffnen

Staufen (kobinet) Gecancelt nicht nur für das soeben begonnene Jahr 2025. Die Absage gilt für den gesamten Rest des Jahrhunderts, also praktisch für immer, denn wer blickt schon über den Tellerrand des Jahrhundert-Endes, niemand! Was dann ist, „in the year 2525, if man is still alive“ (Popsong 1969), das kann uns herzlich schnuppe sein. Heute herrscht unter uns große Erleichterung: Das Behinderten-Wettrennen um die vorderen und vordersten Plätze auf den hinteren und hintersten Rängen der Gesellschaft fällt aus. Diese Dunkelform oder Darknet-Version der Paralympics, „Schwarze Pädagogik“ an Behinderten vollstreckt, findet nie wieder statt, Prosit Neujahr!

„Schwarze Paralympics“ = Schwarze Pädagogik = Dressur

Schwarze Paralympics? Das von mir vorgeschlagene andere Wort für „Disability Rat Race“, das Rattenrennen unter uns Behinderten, um beim neoliberalen Wettlauf unter „ferner liefen“ noch die eine oder andere gesellschaftliche und berufliche Position zu ergattern – diese „Schwarzen Paralympics“ haben nichts zu tun mit „Black Power“ oder „Black is beautiful“ oder „Black Lifes Matter“ . Nein, Schwarze Paralympics sind das Gegenteil, nämlich Zurichtung für Ausbeutung und Selbstausbeutung bis zur ultimativen Erschöpfung. Und daher gleichbedeutend mit „Schwarzer Pädagogik“, d.h. mit Dressur. Die mittlerweile durchweg unabhängig von einem äußeren Erzieher oder Zuchtmeister in Eigenregie als Selbstdressur, Selbstdisziplinierung, Selbstzüchtigung stattfindet.

Diese gnadenlose Selbstdressur von Körper und Psyche zu exakt jener maximalen Funktionstüchtigkeit, um im neoliberalen „Survival of the Fittest“ zu bestehen, dieser von der herrschenden Leistungs- und Erfolgsideologie in Wirtschaft und Gesellschaft, Beruf und Alltag ausnahmslos allen auferlegte Dressurzwang muss von Behinderten, wollen sie dazugehören und mitmachen, sich „inklusionsbereit“ und „inklusionstüchtig“ zeigen, noch getoppt werden. Mit doppelter und dreifacher Anstrengung müssen sie Michel Foucaults „Ökonomie des Überwachens und Strafens“ an sich selbst vollstrecken. Ihre Selbstdisziplinierung und Selbstoptimierung mit den avanciertesten Digitaltechniken des „Selftracking“ und Selfscoring“ vorantreiben.

Rebelliert der Körper gegen Drill und Dressur, verhält er sich seiner Abrichtung gegenüber wie ein Querulant wie es bei Körperbehinderung und Sinnesbeeinträchtigung besonders oft der Fall ist (Rebecca Maskos, kleinwüchsig und im Rollstuhl gebraucht den Ausdruck Querulant in diesem Zusammenhang). Muss er zum Schweigen gebracht und einmal mehr an die Kandare genommen werden. Denn so wie man ist, ist man nie gut genug, unablässige Selbstverbesserung ist die Bedingung, um als vollwertiger Mensch und gleichberechtigte Teilhaberin angenommen zu werden. Keine Anerkennung zum Nulltarif der puren Existenz, eines leistungslosen Daseins auf der Welt. – Erst recht gilt dies für das per definitionem mangelhafte und damit wertgeminderte Behindertendasein. Um so mehr ist es für diese leistungsmäßig Minderwertigen ebnen nicht egal, sondern absolut entscheidend, sich selbst und der Mehrheitsgesellschaft zu beweisen, bis auf welche Sprosse der Produktivitäts- und Leistungsfähigkeitsleiter sie dennoch halsbrecherisch hinaufzuklettern und sich menschlich zu verbessern willens und fähig sind. Für Behinderte gibt es realiter kein Teilhaberecht unabhängig von ihrer körperlichen und seelischen Verfassung sowie ihrer Nützlichkeit für den Arbeitsmarkt. Alle Inklusion ist an Leistungsparameter geknüpft und will verdient sein. Bedingungslose Zugehörigkeit zu einer Leistungsgesellschaft wäre ja noch schöner! Als „internalisierten Ableismus“ hat Raul Krauthausen zutreffend diesen kategorischen Imperativ bezeichnet, mit dem wir Behinderte noch im zurückliegenden Jahr bei der Disabilty Rat Race an den Start gegangen sind.

Dressur bei tierischer Winterkälte: Schlittenhunderennen ebenfalls abgesagt

Mit der Absage der Disabilty Rat Race in diesem Jahr und für den Rest des Jahrhunderts ist nun Gott sei Dank Schluss mit der selbst auferlegten Tortur. Niemandes elementare menschliche Gleichwertigkeit, gesellschaftliche Zugehörigkeit und gleichberechtigte Teilhabe, kurz, niemandes Menschenwürde, wird von jetzt an davon abhängig sein und sich danach bemessen, wie produktiv und leistungsfähig er oder sie ist bzw. zu sein von sich behauptet und es schafft, dies massenmedial wirksam in unser aller Köpfe zu hämmern. Nicht länger muss man unentwegt die Ellbogen ausfahren und gegenüber den zu bedrohlichen Konkurrenten gewordenen Mitmenschen sich seelisch verhärten und verpanzern. Zwischenmenschliches Tauwetter setzt ein, die „menschliche Winterkälte“, die sich zwischen uns Behinderten beim Rattenrennen um die Trostplätze ausgebreitet hat, schmilzt dahin wie Schnee unter den Strahlen der Frühlingssonne. Wo vormals eisige Kampfzone war, flanieren wir per pedes oder im Rollstuhl uns freundlich zuwinkend ganz entspannt im Hier und jetzt umher. – An diesem wunderschönen Neujahrstag 2025 hat ein neues Zeitalter begonnen, Anbruch einer echten Zeitenwende, „morning has broken like the first morning, black bird has spoken like the first bird“ ( Popsong von Cat Steven alias Yusuf Islam). Du musst nicht immer wieder zuerst ein anderer, eine andere werden, um dich menschlich angenommen und gesellschaftlich dazugehörig zu fühlen. Adornos Freiheitsutopie ist Wirklichkeit geworden, du kannst ohne Angst ein anderer, eine andere sein, so wie der liebe Gott dich gemacht und gewollt hat.

Ab sofort muss sich kein Mensch seine unantastbare Menschenwürde dadurch verdienen, dass er sich der Zwangsvorstellung unterwirft, um jeden Preis sich selbst und das Land „voranbringen“ zu müssen. Dieser Vorwärtswahn mit seiner Steigerungswut ist kein Fortschritt, er ist (so der jüdisch-deutsche Philosoph Walter Benjamin) „die Katastrophe“. Die Katastrophe für Mensch und Natur und jedwede Kreatur. Dass es mit dieser Raserei endlich ein Ende hat, dazu passt die wundere Meldung von der Absage des Schlittenhunderennens, des diesjährigen und aller weiteren. – Wieso mir an diesem herrlichen Neujahrsmorgen ausgerechnet diese Nachricht noch einmal eine besondere Freude macht? Weil ich vergangenes Jahrhundert im Südschwarzwald Zeuge des grausamen Spektakels wurde: Ein winterlicher Wanderweg, das Gespann fegt an mir vorüber und mich beinahe in den Graben. Hechelnde Hunde mit hängender Zunge, sogenannte Huskys mit den kurzen Strampelbeinchen vor einen Schlitten gespannt. Ein grimmig dreinblickender Schlittenführer im Pelz, der die Peitsche schwingt und gnadenlos auf die Kreaturen eindrischt. „Hunde, wollt ihr ewig leben“, fiel mir dazu ein, die Tierquäler- und Goldsuchergeschichten von Jack London. Auch das Schwarzwälder Schlittenhunderennen wurde bereits damals etliche Male abgesagt, mangels Schnee.

Mit dem nunmehr endgültigen Aus auch dieses Rennens atmet aller Orten die erniedrigte, geschundene und geknechtete Kreatur auf. Mit dem heutigen ersten Januar hat die „Revolution für das Leben“ begonnen. 2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen, der Behindertenschutz bereits 1994. Solch bloße Symbolpolitik wird durch die Revolution für das Leben in eine die Schöpfung – die bis dahin in Drangsal und Qual seufzende Schöpfung (mit dem Apostel Paulus zu sprechen) – befreiende und erneuernde Realpolitik verwandelt. Nie wieder Schlittenhunderennen! Nie wieder Disability Rat Race! Nie wieder Krieg! Begrüßen wir diese uns heilige Dreieinigkeit mit einem nochmaligen herzhaften Prosit Neujahr!

Danksagung

An Raul Krauthausen, der noch im alten Jahr unter dem Zugzwang stand, seine nicht unerfolgreichen Podcasts „voranbringen“ zu müssen. Den die Teilnahme am Klickzahlen-Rennen und sein Aufstiegserfolg an der medialen Aufmerksamkeitsbörse zum „disability burnouter“ hat werden lassen und der nun gleichfalls aufatmen und durchatmen kann. Seine Rede auf dem Vielfaltskongress der Grünen hat mich mit zu meiner Kolumne inspiriert. Hat er in dieser Rede doch das Paradigma von einem Inklusionspark grob skizziert, wie er nunmehr nach der nochmaligen Zeitenwende radikalisiert und gattungsübergreifend Wirklichkeit geworden ist. Krauthausens historische Rede mit der Parkskizze findet ihr im Netz.
https://raul.de/leben-mit-behinderung/inklusion-ist-keine-frage-des-geldes-es-geht-um-gleichwertige-teilhabe/

Adornos Freiheitsutopie zeitgemäß weitergedacht hat mit dem Begriff der „Bleibefreiheit“ die Sozialphilosophin Eva von Redecker. Bleibefreiheit eignet sich als punktgenauer Gegenbegriff zur Unfreiheit des Voranbringenmüssens. Eva von Redecker verdanke ich im übrigen die Rede von der antikapitalistisch akzentuierten „Revolution für das Leben“. Was Revolution für das Leben behindertenpolitisch bedeutet, habe ich in meiner Kolumnenserie „Inklusion ohne Revolution eine Illusion“ dargelegt. Hier der Link zur ersten Folge: https://kobinet-nachrichten.org/2024/05/03/extrakolumne-zum-5-mai-empowerment-ohne-basisdemokratische-machtumverteilung-ist-nur-die-halbe-miete-und-inklusion-ohne-revolution-eine-illusion/
Ich empfehle diese Kolumnen – mein „Zündeln an den verkrusteten Strukturen der Behindertenpolitik“ – als Einstiegslektüre ins neue Jahr. Diese Neujahrskolumne möchte ich der behindertenpolitischen Aktivistin Nicoletta Rapetti zueignen, der wir die Metapher von der „menschlichen Winterkälte“ verdanken.

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Ralph Milewski
01.01.2025 17:45

Hans-Willi Weis spricht in seiner Kolumne „Disability Rat Race“ einen wichtigen und oft unbequemen Punkt an: Die Leistungsgesellschaft zwingt Menschen mit Behinderungen dazu, ihre Anerkennung durch außergewöhnliche Leistungen zu „verdienen“. Ein prägnantes Beispiel dafür ist Johannes Grasser. In seinem Buch „Mich bremst niemand aus“ beschreibt er eindrucksvoll, wie er seine Behinderung aktiv zum Ausgangspunkt für seine Erfolge macht und dabei gesellschaftliche Erwartungen erfüllt, anstatt sie grundsätzlich zu hinterfragen.

Grasser ist zweifellos beeindruckend. Trotz seiner Tetraspastik hat er es geschafft, als Sportler, Unternehmer und Coach Erfolge zu feiern. Seine Botschaft „Impossible is nothing“ und sein Fokus auf harte Arbeit, Disziplin und Selbstoptimierung verkörpern jedoch genau das, was Weis als „Selbstdressur“ beschreibt. Grasser stellt seine Erfolge bewusst gegen stereotype Erwartungen an Menschen mit Behinderungen und bricht damit gesellschaftliche Vorurteile auf.

Doch der Spruch „Impossible is nothing“ wirkt bei näherer Betrachtung problematisch. Er setzt voraus, dass jeder Mensch die gleichen Möglichkeiten und Privilegien hat, um seine Ziele zu erreichen. In Wahrheit ist dies oft nicht der Fall. Solche Aussagen verschleiern systemische Probleme, indem sie individuelle Anpassung als Lösung präsentieren und strukturelle Hürden ausblenden. Dabei ignorieren sie bestehende gesellschaftliche Barrieren wie unzureichende Barrierefreiheit, fehlende politische Unterstützung und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Dies kann den Eindruck erwecken, dass Versagen hauptsächlich auf mangelnde Anstrengung zurückzuführen sei, und schiebt Betroffenen indirekt die Schuld für ihr Schicksal zu. Es lenkt von der Notwendigkeit umfassender gesellschaftlicher Veränderungen und eines inklusiveren Systems ab, das auf Gleichberechtigung und Barrierefreiheit basiert.

Grasser betont in seiner Selbstpräsentation Durchhaltevermögen und Kampfgeist – Werte, die bewundert werden, aber auch den Druck auf andere Menschen mit Behinderungen erhöhen können. Gleichzeitig hebt er seine Behinderung immer wieder stark hervor und präsentiert sie als Ausgangspunkt für seine Erfolge. Damit läuft sein Ansatz Gefahr, mehr die Überwindung der eigenen Einschränkungen zu inszenieren, als tatsächlich eine inklusive Normalität zu zeigen. Ein Blick in Grassers Buch „Mich bremst niemand aus“ zeigt diese Dynamik deutlich. Während er seine persönlichen Kämpfe und Erfolge schildert, verstärkt er dabei ungewollt die gesellschaftliche Norm, dass Menschen mit Behinderungen nur dann akzeptiert werden, wenn sie außergewöhnliche Leistungen erbringen. Seine Erzählungen konzentrieren sich auf extreme Herausforderungen und deren Überwindung, was den Fokus erneut auf individuelle Anpassung statt auf gesellschaftliche Barrierefreiheit lenkt. Dies könnte als Beispiel für das dienen, was Weis als „internalisierten Ableismus“ beschreibt – den Glauben, dass Behinderte sich erst beweisen müssen, um ihren Platz in der Gesellschaft zu verdienen.

Grassers Selbstdarstellung als Extremsportler und Überwinder von Grenzen wirft damit die Frage auf, ob seine Botschaft tatsächlich Inklusion fördert. Vielmehr könnte sie die Wahrnehmung verstärken, dass Menschen mit Behinderung außergewöhnliche Leistungen erbringen müssen, um als gleichwertig akzeptiert zu werden. Anstatt Barrieren abzubauen, betont seine Darstellung individuelle Anpassung und persönliche Höchstleistungen, ohne dabei die strukturellen Probleme in den Vordergrund zu rücken. Dies untergräbt die Idee einer echten Inklusion, die auf Gleichberechtigung ohne Leistungszwang basiert.

Ein inklusiverer Ansatz könnte darin bestehen, Geschichten von Menschen mit Behinderungen zu zeigen, die ihren Alltag bewältigen, ohne spektakuläre Leistungen zu vollbringen. Statt Heldenerzählungen zu inszenieren, sollte der Fokus auf Barrierefreiheit, gesellschaftlicher Akzeptanz und gleichen Chancen liegen. Grasser könnte seine Plattform nutzen, um diese Themen stärker zu betonen und sich für strukturelle Veränderungen einzusetzen, die langfristig allen Menschen mit Behinderungen zugutekommen.

Damit soll Grassers Erfolg keineswegs abgewertet werden. Er inspiriert und zeigt, was mit Willenskraft und Einsatz möglich ist. Doch sein Beispiel verdeutlicht die Gefahr des „Disability Rat Race“: dass gesellschaftliche Anerkennung häufig an außergewöhnliche Leistungen gekoppelt wird.

Hans-Willi Weis wirft damit eine essentielle Frage auf: Wie können wir eine Gesellschaft schaffen, in der Teilhabe nicht an Leistung gebunden ist, sondern als selbstverständliches Recht anerkannt wird? Grassers Geschichte bietet viele Impulse, doch die Debatte über echte Inklusion und bedingungslose Gleichberechtigung sollte darüber hinausgehen. Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, den Fokus stärker auf strukturelle Veränderungen zu legen, die Barrieren abbauen, Chancengleichheit schaffen und gesellschaftliche Akzeptanz fördern. Dazu gehört die Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen für Barrierefreiheit, eine stärkere Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Medien und Politik sowie die Förderung inklusiver Bildungs- und Arbeitsumfelder. Nur durch solche Maßnahmen kann eine Gesellschaft entstehen, die Vielfalt nicht als Ausnahme, sondern als Normalität begreift.