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Sachsen-Anhalt: Sozialabbau in der Behindertenhilfe

Roland Frickenhaus
Roland Frickenhaus
Foto: Roland Frickenhaus

PLAU Am See (kobinet) Ach, schon wach? - Nein, so richtiges Mitleid will sich da nicht einstellen, wenn man den Blick nach Sachsen-Anhalt wendet, und schaut, was da gerade im Bereich der Eingliederungshilfe/ Teilhabe dort so alles passiert. Im März diesen Jahres wurde nämlich einseitig der Landesrahmenvertrag  zur Umsetzung des § 1 ABS 1 SGB IX durch das Ministerium für Arbeit, Soziales, und Integration des Landes Sachsen-Anhalt zum Jahresende 2024 gekündigt. Für Uneingeweihte: Der Landesvertrag regelt die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und ist damit durchaus bedeutungsvoll.

Ja, natürlich ist die Kündigung schlimm und dass die dortige Sozialministerien ein SPD-Parteibuch besitzt, beruhigt nicht wirklich. Nun wurde der Vertrag gekündigt, weil man das Ziel habe „bei einer Neuverhandlung wesentliche Ziele des Bundesteilhabegesetzes und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) besser umzusetzen“ (Mitteldeutsche Zeitung vom 27.März). Das verursacht doch eher Schnappatmung als Freudensprünge. Man sollte sich schon fragen dürfen, mit wem man da eigentlich monatelang verhandelt hat und ob allen Beteiligten klar war, worüber sie verhandelten, als sie miteinander sprachen.

Zur Erinnerung: Das BTHG dient sowohl der „Bremsung der Ausgabendynamik“ (bei steigenden Fallzahlen…) und gleichzeitig soll mit ihm auch die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden. Dass das grundsätzlich nicht gelingen kann, weil dies zwei divergierende Ziele sind, war doch schon 2016 klar. Und trotz teilweise deutlicher Kritik haben sich dann alle irgendwann soweit beruhigt, dass, ganz zur Freude der Politik, ein “Begleitetes Umsetzen“ des BTHG möglich wurde…

Auch das ist keine wirkliche Ruhmesgeschichte, sondern eher ein freundliches Signal der Kooperationsbereitschaft bei weitestgehender Ignoranz eigener Werte, Sichtweisen und Erkenntnisse.

Damals war bereits deutlich, dass der Dreh- und Angelpunkt des ganzen BTHG die Frage der Vergütung von Leistungen ist. Dass man diese Aufgabe den Ländern überlassen hat und diese nun eifrig auf Einkaufs- und Entdeckungstour zum Erwerb eines Instruments zur Ermittlung und Verpreislichung von Hilfebedarfen gingen, macht es für alle Beteiligten nur noch schwieriger und für Bundesländer, die geringe finanzielle Spielräume haben, nahezu unmöglich, menschenrechtskonforme Leistungen zu definieren und finanziell zu bewerten. Das erklärt auch, warum Sachsen-Anhalt nicht shoppen war und stattdessen eine Eigenkreation, die den Namen „Eingliederungshilfe Land Sachsen-Anhalt“ (ELSA) trägt, ins Rennen geschickt hat.

Sachsen-Anhalt bringt einwohnermäßig nicht einmal die Hälfte der Stadt Berlin auf die Waage. Sowohl Bundesländer als auch Gebietskörperschaften müssen bestimmte Mindestanforderungen erfüllen, um wirtschaftlich betrieben werden zu können. Das ist kein Geheimnis. Man mag es aber nicht überall gern hören. Was aber hat der Bürger von (s)einem Bundesland, das ihm bestimmte Leistungen nicht gewähren kann, weil ihm dazu einfach die Mittel fehlen? Auch das Verhältnis von Häuptlingen zu Indianern spielt dabei eine Rolle…

Mit Verlaub, aber es war von Anfang an erkennbar, dass die Frage der Bedarfsermittlung die zentrale das Frage des BTHG ist und dass es hier über kurz oder lang zu einem harten Aufprall in der Wirklichkeit kommen würde. In Sachsen-Anhalt, dem Land der Frühaufsteher, ist man nun in der Wirklichkeit angekommen.

Wenn seinerzeit diejenigen, die wissen, dass es fachlich gar nicht möglich ist, Hilfebedarfe für eine hypothetisch angenommene Lebenssituation zu ermitteln, nicht geschwiegen hätten, dann ginge es vermutlich heute vielen Menschen, die nun Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, deutlich besser.

Hilfebedarf kann (einigermaßen verlässlich…) doch nur für die Situation ermittelt werden, in der er erhoben wurde. Konkret: Wer den Hilfebedarf einer Person, die in einem Heim lebt, ermittelt, wird primär den Hilfebedarf feststellen, den die Person benötigt, um dort leben zu können. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Dass dies Sonderwelten zuarbeitet und mit Inklusion nichts zu tun hat, dürfte einleuchtend sein.

Und, auch das gehört zu dem, was man nicht gern hört: Solange es keinen Katalog fachlich begründeter Kriterien für qualifikationsgebundene Hilfeleistungen gibt, wird sich die Lebenssituation behinderter Menschen in Heimen nicht wirklich verbessern. Pauschalen passen der Verwaltung; nicht aber den einzelnen Anspruchsberechtigten, denn sie sind was sie sind: pauschal.

Und noch etwas gehört auf den Tisch: Es gibt keine fachliche Notwendigkeit, dass behinderte Menschen in Heimen leben. Weil dies so ist, kommt es in der Folge der weiteren Umsetzung des BTHG auch immer wieder zu Unklarheiten. Was fachlich keinen Sinn macht, das lässt sich fachlich auch nicht stichhaltig begründen und ausgestalten.

Es gibt aber nicht nur den Landesrahmenvertrag, es gibt auch Versorgungsverträge zwischen den Leistungserbringern und der Öffentlichen Hand als Leistungsträger. Der Folgeschritt für die Leistungserbringer muss der sein, dass sie für sich definieren, wo die Grenze dessen ist, was sie für menschenrechtlich vertretbar ansehen und was ihrem christlich-ethischen Selbstverständnis entspricht und was nicht.

Die Geschichte zeigt, dass die Missachtung dieser Grenze nur Verlierer kennt. Dann wird eben ein Versorgungsvertrag gekündigt und die Verantwortung zurück in die Zuständigkeit der kommunalen Daseinsvorsorge gegeben. Das dürfte die Zahl der Frühaufsteher signifikant erhöhen.

Und noch etwas ist denkbar: Solidarische bundesweite Protestaktionen. Die damaligen Proteste hatten durchaus ihren Anteil daran, dass es zum sogenannte „BTHG-Reparaturgesetz“ kam. (Anmerkung: Weil Sprache Denken ist, sei angemerkt, dass die Bezeichnung „Reparatur“ falsch ist, denn „repariert“ wird etwas, das zuvor intakt war. „Unter Reparatur – von lateinisch reparare „wiederherstellen“- beziehungsweise Instandsetzung wird der Vorgang verstanden, bei dem ein defektes Objekt in einen funktionsfähigen Zustand zurückversetzt wird“ (WIKIPEDIA). Der Begriff „Reparaturgesetz“ soll also implizieren, dass etwas wiederhergestellt wurde, das zuvor bereits schon funktioniert hat. Dem ist aber nicht so…)

Wer denkt, dass es „nur“ um Sachsen-Anhalt geht, der irrt. Es geht um Menschen mit Behinderungen und ihre Leistungsansprüche. Das Problem im Bereich der Behindertenhilfe ist, dass es Formen von Behinderung gibt, die Betroffenen eine Selbstvertretung nahezu unmöglich machen, sodass längst nicht alle Menschen, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, auch autark für sich sprechen können.

Je komplexer die Beeinträchtigung, desto notweniger ist es, dass dies Fürsprecher tun. Dies sind in der Regel Angehörige, gesetzliche Vertreter, die Behindertenbeauftragten in Bund, Land und Kommune und, natürlich, auch die Leistungserbringer. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte  ist eine gute Adresse.

Es wird noch einmal deutlich, dass es sich rächt, als die Politik beim BTHG damals auf „Schnelligkeit vor Gründlichkeit“ setzte und das BTHG durch die Gesetzgebung gejagt hat – weil sie Angst vor einem (möglichen) Scheitern im Vermittlungsausschuss hatte. Angst ist kein guter Ratgeber und so gibt es seit knapp acht Jahren juristische Regelungen, die von der Verwaltung bis heute noch nicht komplett umgesetzt sind. Das ist, gelinde gesagt, ein Skandal und produziert Ungleichheit.

Weil die Verwaltung mit ihren schwerst-mehrfach behinderten Bürgerinnen und Bürgern primär nur indirekt zu tun hat und stattdessen mit den Einrichtungen und Verbänden kommuniziert, kann sie dies zu dem Denken verleiten, dass es den Leistungserbringern primär um ihre Interessen gehe und dass man sie, die Leistungserbringer, munter vor sich hertreiben könne. Das ist aber schon einmal schiefgegangen und wir wissen, dass es auf schiefen Ebenen kein Halten gibt.

Der Irrtum, dass in der Eingliederungshilfe jeder jederzeit über jeden Stock springt, den die Politik ihm hinhält, lässt sich ausräumen: Verbündete suchen, juristisch gut aufstellen, sich seiner Geschichte erinnern, Strategien entwickeln, Kampagnen organisieren und das tun, was die Betroffenen in jedem Fall täten, wenn sie es könnten: Mutig sein, kreativ sein, laut sein, konsequent sein, selbstbewusst sein und, natürlich, authentisch sein.

Ansonsten ist davon auszugehen, dass Sachsen-Anhalt nur der Anfang ist…

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Stephan Laux
24.10.2024 16:14

Als „Eingeweihter“ kann ich Roland Frickenhaus nur Recht geben. Vielleicht werden wir bei der sogenannten „Hilfebedarfsermittlung“ demnächst wieder Kreuzchen setzen:
Kann selbstständig: 0,- €
Kann mit Unterstützung: 100,- €
Kann mit umfassender Unterstützung: 200,- €
Kann nicht: 300,- €