Mainz (kobinet) In diesen Tagen wird viel über den Schichtwechsel berichtet, bei dem Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen ihren Arbeitsplatz mit Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tauschen. "Mehr als 4.000 Menschen in Deutschland nehmen beim bundesweiten Aktionstag Schichtwechsel teil. Unter ihnen fast 2.500 Menschen mit Behinderungen", heißt es in einem Beitrag des Hessischen Rundfunk, auf den Sabine Lohner hinweist. Ob daraus konkrete Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entstehen, das steht noch in den Sternen. Vor vielen Jahren hat Jutta Simon, die vorher in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet hatte, auch ohne Schichtwechsel ihren "Traumjob" gefunden. Sie hat eine ausgeprägte Form der Legasthenie. Bei der Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen (gpe) hat sie vor 24 Jahren als Servicekraft im Hotel INNdependence in Mainz begonnen und arbeitet immer noch in diesem Inklusionsbetrieb. Darüber berichtet Marta Thor im Rahmen der diesjährigen Woche der seelischen Gesundheit, die vom 10. bis 20. Oktober 2024 begangen wird,
Jutta Simon hat eine ausgeprägte Form der Legasthenie. Über die gpe hat sie vor 24 Jahren ihren Traumjob als Servicekraft im Hotel INNdependence in Mainz gefunden.
Bericht von Marta Thor
Jutta Simon strahlt Ruhe, Kraft und Selbstbewusstsein aus. Im Hotel INNdependence der Gesellschaft für psychosoziale Einrichtungen (gpe) in Mainz arbeitet sie seit dem ersten Betriebstag. Das Hotel ist ein Inklusionsbetrieb, in dem viele der Mitarbeitenden eine Behinderung haben. Simon ist der „Service-Sonnenschein“ des Betriebs. Sie liebt den Gastkontakt – und die Gäste lieben ihre resolute Art. Ein Betrieb ohne sie? Undenkbar.
Doch es gibt sie, die Momente, wenn die forsche Frau mit den stechend blauen Augen ins Wanken kommt. Dann, wenn sie das Tagesmenü lesen muss. Dann setzt der Stress ein und sie muss sich konzentrieren, um aus den geschwungenen Linien und Strichen sinnvolle Worte zu bilden.
Jutta Simon hat eine ausgeprägte Form von Legasthenie, eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Ob es daran lag, dass sie als Frühchen mit acht Monaten zur Welt kam? Man weiß es nicht. Erst in der Schule bemerkten die Lehrer, dass Jutta Simon sich anders als ihre Klassenkameradinnen und -kameraden entwickelt. Schon bald kam sie auf die Förderschule. Denn das war damals oft der Weg, sagt Jutta Simon.
Nach ihrem Abschluss kam sie direkt in eine Werkstatt. Im Grunde hatte sie sich damals selbst schon abgeschrieben, jemals einen „richtigen“ Job zu finden, sagt die 53-Jährige heute. Denn anders als ihre Freunde und Familie, die die Legasthenie als Teil von ihr akzeptierten, war der Arbeitsmarkt nicht ganz so tolerant. Eine Ausbildung hätte sie nicht geschafft. Dabei mangelt es ihr absolut nicht an gesundem Menschenverstand. Jutta Simon arbeitet schnell, ist schlagfertig und wortgewandt – und führt die Getränkelisten der Gäste mittlerweile anhand einer Strichliste. Alexander Tränkmann, Geschäftsbereichsleiter in der gpe, hat diese Lösung als Stütze für sie in die Arbeitsabläufe eingebaut. „Das fand ich ganz gut“, sagt Jutta Simon. Und andere gpe-Betriebe haben dies dann ebenfalls übernommen.
Die Eröffnung des INNdependence vor 24 Jahren war ein Glücksfall für Simon. Sie hat sogar noch den Rohbau miterlebt und sich über die Werkstatt für behinderte Menschen als Zimmermädchen beworben. Betten machen, das könnte sie schaffen. Trotzdem hatte sie Zweifel. „Die nehmen mich nie“, dachte sie. Doch sie nahmen sie. Mehr noch. Sie erkannten das menschliche Potenzial und schickten sie in den Servicebereich, wo sie nun seit 24 Jahren für das Frühstück zuständig ist.
Ihr Tag beginnt sehr früh. Aus Budenheim reist sie mit dem Zug um 4.46 Uhr an. Mit ihrer „Fahrgemeinschaft“, wie sie die anderen regelmäßigen Pendler, die sie täglich trifft, nennt. Um 6 Uhr ist Dienstbeginn, um 7 Uhr kommen die ersten Gäste. Jutta Simon lächelt den Gästen freundlich zu, fragt Zimmernummern und Getränkewünsche ab. Dann räumt sie das Geschirr weg, bereitet schon die Platten für den kommenden Tag vor. Das würde sie morgens nicht mehr schaffen.
Eine Routine, die ihr genug Zeit und Raum lässt, um an ihren Schwächen zu arbeiten. Regelmäßig nimmt sie an Lesekursen teil. Und übt auch daheim. Sie muss die Fähigkeiten ständig trainieren. „Einiges kann ich behalten, einiges nicht. Aber wenn man nicht dranbleibt, wird es wieder schlechter mit dem Lesen“, sagt Jutta Simon. Sie erkennt zwar die Buchstaben, aber das Zusammenziehen funktioniert nicht so gut. Als ob ihr Gehirn das Gelernte nicht dauerhaft Verknüpfen könne.
Doch Jutta Simon lässt sich davon nicht mehr entmutigen. Denn bei ihrem Traumjob spielt es gar keine Rolle, dass sie als Mitarbeiterin im Inklusionsbetrieb nur sechs Stunden am Tag arbeitet. Dafür erhält sie durch die pädagogische Unterstützung mehr Hilfe beim Lesen üben. Und in Inklusionsbetrieben erhalten alle Mitarbeitenden die gleiche Vergütung, wie in regulären Betrieben. Für Simon zählt jedoch vor allem die Wertschätzung am Arbeitsplatz, die sie täglich neu erfährt. Denn Gastkontakt? Den muss man können. Und bei Jutta Simon ist diese Fähigkeit in Fleisch und Blut übergegangen. „Hier lässt man mich nicht mehr weg“, sagt sie und grinst schelmisch.
Warum heißen Inklusionsbetriebe Inklusionsbetriebe und nicht „Integrationsbetrieb zur Förderung von Inklusion“? Diese Bezeichnung würde klarer verdeutlichen, dass es sich um Einrichtungen handelt, die Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt integrieren und aktiv an der Schaffung eines inklusiven Umfelds arbeiten.
Schön gesagt….. Ich stimme zu 100% zu!!!!!