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Die Stadt der Blinden – Erinnerungen an Marburg im vergangenen Jahrhundert (geschrieben im Oktober 2023)

Hans-Willi Weis im Biergarten Bier trinkend
Hans-Willi Weis Biergarten
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Keine Skyline, auch keine Untergrundbahn. Eine Stadtautobahn, das schon. Mit Sicht aufs Schloss, für Sehende. Vom Zugfenster aus verstreut Bauklötze, die Würfel der Geisteswissenschaftlichen Fakultätsgebäude, der dicke fensterlose Würfel mit der silbriger Lamellenfassade die Unibibliothek. – Die Stadt und der Stein. Altes Kopfsteinpflaster, mit dem Stock ertastbar. Fachwerk und Spitzgiebel. Über Jahrhunderte hindurch von Schuhsohlen plattgeschmirgelte Schwellen und Stufen, ein stetes Auf und Ab. Enge auf Schritt und Tritt. Gehsteig, Bordsteinkante, Straße. Verkehrsgeräusch und Glockengeläut am Fuß der Altstadt.

Keine Fata Morgana

Regentropfen, die von einem Söller oder Sims fallen, auf ihrem Kopf landen, ihr über die Wange laufen. Claudia, die sich vor dem Regen an die Kirchenmauer flüchtet. Tränen der heiligen Elisabeth assoziiert sie mit den Regentropen auf ihrem Gesicht. So erzählt sie es in ihrer Geschichte, Claudia aus unserer Schreibgruppe. Silvia liest mir ihre Geschichte vor und noch während des Lesens setzt bei mir ein Strom von Erinnerungen ein und Bilder steigen auf. Dem Portal der Elisabethkirche, an das man seitlich vom Bürgersteig ein paar Stufen abwärts gelangt, direkt vis a vis auf der anderen Straßenseite öffnet sich eine Lücke in der Häuserzeile und über viele Stufen steigt man einen Fußweg zum Hang hinauf. Nach den Stufen macht der Fußweg sogleich einen Schwenk nach rechts und schon hat man Höhe gewonnen und blickt den Häusern von der Straße, die man rechter Hand des Wegs unter sich zurück gelassen hat, aufs Dach. Doch nicht nur das, es bietet sich ein wahrlich kurioser Anblick. Das nächstgelegene Hausdach endet nicht einfach an der Giebellinie, über welcher dann nur noch Himmel wäre. Nein, dem Dach sind statt dessen zwei gewaltige Klötze aufgesetzt. Längliche Klötze, die sich im oberen Teil verjüngen
und in schlanken Spitzen auslaufen. Die Zwillingstürme der Elisabethkirche, was sonst. Deren untere Hälfte komplett verschwunden ist, samt der Frontseite des Kirchenschiffs mit dem stufenfreien Zugang, dem ebenerdig gelegenen Portal.

Ein Dach, auf dem zwei überdimensionale Türme sitzen. Megagroße Bauklötze und das Ganze zum Greifen nahe. Als müsste man bloß den Arm ausstrecken, um mit den Fingerspitzen das Dach und über ihm die mächtigen Quader zu berühren. Nicht nur beim ersten Anblick mochte ich mich von dem wunderlichen Bild gar nicht mehr abwenden. Eine optische Täuschung, die einem eine architektonische Unmöglichkeit vorspiegelt. Das Satteldach des Hauses müsste unter dem ihm aufgeladenen Gewicht der Basaltblöcke der beiden Türme eigentlich auf der Stelle kollabieren. – Trügt mich die Erinnerung nicht, sah ich sogar durch den Glockenteil der Türme. Wie durch zu groß geratene Schießscharten war das Licht auf der anderen Seite zu sehen. Kein himmlisches Jenseitslicht allerdings, „only sky“.

Wie stets spreche ich auch dies hier auf mein Diktaphon. Wir sind in einer günstigen Ferienwohnung in St. Peter bei Freiburg. Silvia ist an diesem Vormittag allein drüben zur
Musikmeditation bei Musicosophia, es ist Samstag, der 7. Oktober. Soeben gab es die stündlichen Nachrichten im Deutschlandfunk, beunruhigend, was da zu hören ist. Eine dumpfe Vorahnung in den Eingeweiden. Der Kopf kommt da so schnell nicht mit und will das auch gar nicht. Lieber wieder eintauchen und abtauchen in die Erinnerung. An Marburg, an die Türme der Elisabethkirche. Kommt mir der Ausdruck Zwillingstürme in diesem Augenblick vielleicht aus dem, was die Nachrichten in meinen Eingeweiden getriggert haben? Die sich auf ihre Weise erinnern, an zwei andere Türme, die Twin Towers in New York. „Nine eleven“, als an ihrer Stelle mit einem Mal eine Lücke klafft in der Skyline von Manhatten.

Ketzerbach

Hatte ich mich endlich von dem surrealen Anblick losgerissen, ging es den Weg am Hang weiter empor. Die Dächer und die beiden Türme ließ ich hinter mir zurück und ein Pfad führte dann gleich in den Wald. Durch den Wald konnte man bis nach Wehrda laufen. Falls man nicht vorher nach links abbog und in einem nochmaligen Bogen – vorüber an der unvergesslichen Hohlwegstelle, wo mir ein wutentbrannter Dackel einmal in maßloser Selbstüberschätzung in die Wade gebissen hat – schließlich in der Wilhelm-Roser-Straße ankam. An deren unterem Ende es im spitzen Winkel in die Carl-Strehl-Straße geht, die zur gleichnamigen Schule führt, der Carl-Strehl-Schule, besser bekannt als Blista. Beide Straßen stoßen auf die Ketzerbach, von wo aus man stadteinwärts zuletzt wieder bei der Elisabethkirche anlangt. Kirche und Ketzer, beides lag im Mittelalter dicht beieinander.

Doch zurück zur Gegenwart. Was mich jetzt zeitlich brennend interessieren würde: Ob es auf Höhe jener Hanglage, wo der Pfad in den Wald führt, genau unterhalb, dort nämlich, wo die Straße nach Wehrda abgeht, ob es da noch die Pizzeria Hubertus gibt. Ecke Bahnhofstraße, genau gegenüber der Commerzbank, die es inzwischen wahrscheinlich auch nicht mehr gibt an dieser Stelle. Die Bank mit dem in jenen Tagen ganz unökologisch zu verstehenden Werbeslogan vom „grünen Band der Sympathie“ und an deren Kassenschalter ich eines Tages den Auszahlungsschein fürs Geldabheben nicht mehr ausfüllen konnte, weil man bei den neuen Formularen jede Ziffer und jeden Buchstaben
akkurat in ein Kästchen setzen sollte, was der Zielwasservorrat meines Sehrests leider nicht mehr hergab. Gerissen das grüne Band der Sympathie, anders als Inklusion geht Exklusion ganz einfach.

Die Pizzeria Hubertus war zwischen 1974 und 1980 mein italienisches Stammlokal, während der Jahre, die ich in unserer Wohngemeinschaft in der Bahnhofstraße 5 zugebracht habe. – Zwei Italiener führten die Pizzeria, zwei Brüder nehme ich an, italienische Mannsbilder in den besten Jahren, vermutlich in den Vierzigern, wenn ich damals plus minus Mitte zwanzig gewesen bin. Sollte der Betrieb noch existieren, wären die beiden Betreiber steinalt, sozusagen passend zur Elisabethkirche einige Hausnummern weiter. Wie dem auch sei, ich sehe sie wie damals vor dem inneren Auge. Der eine, der etwas jovialere, gewöhnlich hinter der Theke und am Zapfhahn, der andere, etwas förmlichere, der mit den buschigen Augenbrauen und der gedrungenen Physiognomie eines Pyknikers nahm üblicherweise die Bestellung auf. Wegen meines knapp bemessenen Bafög-Budgets entschied ich mich entweder für Rigatoni, kleine Pizza Hubertus oder den kleinen italienischen Salat. Worauf er fragte, zum Trinken wieder „piccolo birra“? Grazie. Die Speisekarte
in seiner Linken klappt energisch zu, die Rechte versenkt Bestellblock und Stift behände in der Innentasche des Jackets, das gravitätische Haupt deutet mit sanfter Neigung eine Verbeugung an, ein formvollendeter Abgang. Und bald darauf landet nicht minder elegant mit einer schwungvollen Bewegung der Pizzateller vor mir auf dem Tisch. Das „Prego“ ist mir bis heute im Ohr.

Ob es die Pizzeria Hubertus also noch gibt, die gegenwartsgültig ortskundige Claudia könnte mir die Frage wohl beantworten. Sie erwähnt ja auch Wehrda und den Wehrdaer Weg in ihrer Marburger Weihnachtsgeschichte, den Ortsteil und den Straßennamen gibt es folglich noch. Geographie schlägt Gastronomie, die topographischen Infrastrukturen sind beständiger als die kulinarischen. – Ich weiß, Google und Bing, die dienstbaren Ungeister, drängen auch mir ihre Dienste auf. Nein danke, sage ich, diesmal auf keinen Fall, mein Erinnern gehört mir. Zeitlich und topographisch richtig oder falsch, sind hier nicht die Frage. Vielmehr sollten wir es mit Novalis halten: Wer sich in seiner Seele heimatlich fühlen möchte, muss die Erinnerungswelt „romantisieren“. Die Suchmaschine wäre da ein Schlag mit der Entzauberungskeule.

Von „romantisieren“ leitet sich sprachgeschichtlich der „Roman“ her. Da passt es doch wunderbar, dass mir der Ortsname Wehrda vor Claudias jüngster Erwähnung das letzte Mal 2014 im Roman „Fliehkräfte“ von Stephan Thomae begegnet ist. Der Protagonist hat jemanden mit dem Auto in Wehrda abgeholt, sie fahren durch die Elisabeth-Straße, vorbei an der Elisabethkirche und das wars auch schon an Marburger Lokalkolorit. Man muss wissen, der Autor Stephan Thomae ist ein gebürtiger Biedenkopfer, stammt aus dem Landkreis. Marburg, Biedenkopf und die Lahn, das perfekte Ensemble von Stadt-Land-Fluss. – Seinen Roman „Fliehkräfte“ mit dem Hochschullehrer-Helden Hartmut habe ich gern gelesen bzw. gehört in der Blindenbibliothekshörversion. Ach, ich liebe sie, die Bandwurmwörter, ein echtes Alleinstellungsmerkmal im Deutschen.

Aber Achtung, mich nicht von den Fliehkräften fortreißen lassen. Zurück in de Stadt der Blinden. Der Name ist geklaut, na wenn schon. Hauptsache er trifft zu. Wohingegen bei Saramago – der ihn für seinen Roman „Die Stadt der Blinden“ vermutlich urheberrechtlich reklamiert – die Blinden und die Blindheit lediglich wieder einmal als Allegorie herhalten müssen.

Flurtelefon und Mondscheintarif

Um meine persönlichen Memories of Marburg weiter abzurunden, vorerst auf die um die Elisabethkirche versammelte Lokalität beschränkt. Ich verbrachte meine Studentenzeit in der Stadt der Blinden damals noch als Sehbehinderter. Wäre ich seinerzeit bereits erblindet gewesen, wäre mir das Bild der Zwillingstürme überm Dachfirst vorenthalten geblieben. Wie auch weitere solcher Postkartenmotive. Etwa der Blick ins idyllische Hinterhofgewinkel aus Annes kleinem Wohngemeinschaftszimmer in der Bahnhofstraße Nummer 5. Im wörtlichen Sinne ein Idyll, was ja „kleines Bildchen“ bedeutet, dieser Fensterblick. Im rechten Augenwinkel hatte man das spitzige Türmchen auf der Apsis der Elisabethkirche, im Winter manchmal mit Schneehaube schwebte es wie ein Krönlein seitlich über dem hinteren Ende des Hofgemäuers. Den gleichen romantischen Ausblick hatte man nebenan vom Küchenfenster aus.

Eine studentische Wohngemeinschaft war im Jahr 1974, als wir Vier die unsrige gründeten, noch eine historisch junge Vergesellschaftungsform in der biederen Bundesrepublik. Sie stand im Ruch des Rebellischen, des studentenprotestlerischen Aufbegehrens gegen die sittliche Weltordnung. Theo hatte mit jugendlichem Charme die alte Frau Hartmann, stets mit Gehstock, unsere Vermieterin und Hausbesitzerin, bezirzt und obendrein das gebrochene Herz ihrer unlängst unglücklich entlobten Tochter mit dem Hinweis gerührt, man präferiere die gemeinschaftliche Wohnform auch deswegen, weil man mit vereinten Kräften einen sehbehinderten Kommilitonen unterstütze (ihm das Auszahlungsformular von Girokonto ausfüllen und dergleichen Handreichungen). So zogen wir ins obere lichtdurchflutete Stockwerk des bürgerlichen Hauses Bahnhofstraße 5. Unter uns die mit stattlichen Kronleuchtern ausgeleuchteten Gemächer der Damen Hartmann und im Erdgeschoss des Hauses die Buchhandlung Rasch. Wo wir uns gelegentlich eine Gratislektüre besorgten, wie es damals linke studentische Unsitte war.

Unsere Küche und Annes Zimmer, beide mit dem bezaubernden Hinterhofblick, lagen auf der rückwärtigen Seite des Hauses, während die Zimmer von Theo, Jürgen und mir nach vorne auf die Bahnhofsstraße gingen. Mein Zimmer war das größte und weil ich mit Anne ein Paar bildete war ihres das kleinste. Von Theos Erkerzimmer aus blickte man die Bahnhofstraße hinauf, Richtung Woolworth und Aldi. Meinem Fenster gegenüber lag die Hauptpost mit dem Treppenaufgang, links davon die drei knallgelben Telefonzellen, auf der rechten Seite die Fahrradständer. Von den Telefonzellen aus führten wir das erste Jahr über unsere seltenen Telefonate. Nicht zuletzt für Ferngespräche hielten wir im Küchenschrank eine Schatulle mit Zehn-Pfennig-Stücken für den Münzschlucker vor.

Der Fortschritt war indes nicht aufzuhalten. Als wir uns nach ca. einem Jahr ein Wohngemeinschaftstelefon zugelegt hatten, waren wir stolz wie die Schneekönige. Der mausgraue
Apparat mit Wählscheibe fand seinen festen Standort auf einem Beistelltisch im geräumigen Flur. Wo wir in einem wackligen Korbstuhl sitzend auch die Telefongespräche führten. War das noch vor der Sintflut oder schon kurz danach, fragt man sich heute. Die Ortsgespräche kosteten zwanzig Pfennig, längere Ferngespräche, zumal welche ins Ausland, konnten teuer werden. Entlastung brachte der Mondscheintarif, ein Geschenk des Fernsprechmonopolisten Deutsche Bundespost vor allem an romantische Paare, die in voneinander weit entfernten Städten an Trennungsschmerz litten.

Bekommt man eigentlich die richtige Antwort, wenn man Mondscheintarif googelt?

Damals gab es noch kein Googeln, wohl aber Gurgeln mit „Odol“, der Mundhygiene wegen. Jürgen benutzte das unverwechselbare Porzellanfläschchen mit dem erfrischenden Gurgelwasser. Das Fläschchen stand auf der Spiegelablage unseres innen gelegenen Badezimmers, in dem es stets ein wenig muffelte. Sicher, unser Domizil hatte auch Nachteile, das Klo lag auf dem zugigen Außenflur und im Winter fror man sich den Hintern ab. Den man sich anschließend im Zimmer bei voll aufgedrehter Heizung wieder gewärmt hat.

Wenn das eigene Wohngemeinschaftszimmer – wie ein jeder „room of ones own“ – idealtypischerweise ein Ort ist oder sein sollte, um gut mit sich allein sein zu können: Eingetaucht in was für eine Beschäftigung sehe ich mich am ehesten in meinem damaligen WG-Zimmer? Dies frage ich mich gerade beim Schreiben und was daraufhin spontan in mir aufpoppt, im Digitaljargon gesprochen: Ich sehe mich in meinem Sperrmüllsessel in der Zimmermitte an dem runden Raucherbeistelltisch, dem Erbstück von Onkel Rudolph mit dem angekokelten Tischbein, darauf das Häkeldeckchen meiner Mutter. Dicht vor meinem Gesicht halte ich in der linken Hand das aufgeschlagene Buch, mit der rechten schiebe ich die Lupe zwischen Daumen und Zeigefinger längs der Buchzeilen. Ich lese, ein einäugiges Lesen, bei dem mein rechter Augapfel fast die konvexe Wölbung der Visolettlupe berührt. In der mein Zyklopenauge gerade einmal jeweils zwei oder drei Worte im Sehfeld hat. Entspanntes Lesen schaut anders aus, oder. Wer zusähe, wie mir das Buch förmlich am Gesicht klebt und die Hand zwischen Wange und Buchseite die dicke Lupe angestrengt hin und her bewegt, dessen „sieht echt behindert aus“ könnte ich kaum widersprechen.

So quälte ich mich in Schule und Studium durch den Lektürestoff. Tausende Seiten, ich habe nicht gezählt. Lektüre, die freilich nicht nur aus vorgeschriebenem Lernstoff bestand. Lieblingsbücher während der Wohngemeinschaftsjahre, sollte ich spontan drei davon nennen, meine Favoriten wären: „Die Wörter“ von Jean-Paul Sartre, französisch „Les Mots“, eine Kindheit mit Büchern und dem Kopf zwischen Buchdeckeln. Von Peter Weiss der erste Band seiner „Ästhetik des Widerstands“. Nur dem äußeren Anschein nach, weil fast ohne Absätze, eine Bleiwüste. Erzählt wird von Kunst und Klassenkampf, der Bildungsbiographie eines proletarischen Jugendlichen im Faschismus. Drittens von Erica Jong „Angst vorm Fliegen“, ihr auflagenstarker Ratgeber gegen Flugangst. – Doch Scherz beiseite, mich macht diese Erinnerung und Leseerfahrung schwermütig. Wer liest diese Sachen heute noch, wie viele lesen heute überhaupt Bücher? Für sie schreibe oder spreche ich von böhmischen Dörfern. Deprimierend, du möchtest, was dich begeistert und dein Leben hat reich und erfüllt sein lassen, transgenerationell an Lesende weitergeben und die wollen nichts davon haben, nichts darüber hören.

Aber zurück zum alles beherrschenden Marburger Kulturdenkmal. Diesmal zu dem kopfsteingepflasterten kleinen Platz hinter der Elisabethkirche, der gleichfalls von mittelalterlichem Mauerwerk umstanden war. In einem der Gebäude dort im Souterrain, einem Gewölbe, lag der Übungsraum der Psychodrama-Praxis des diplomierten Psychologen Kurt Gombert. Wo von Mitte bis Ende der 1980er Jahre – da wohnte ich bereits mit Katrin in der Wilhelm-Roser-Straße – meine Bioenergetik- und Yogagruppen stattfanden. Kurt kennengelernt hatte ich während meines ABM-Jahres als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni, ich befragte professionell Tätige im Gesundheitswesen, die sich im alternativmedizinischen Bereich versuchten, seinerzeit schulmedizinisch nicht minder angefeindet als heutzutage. ABM ist das Kürzel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Hast du keine Arbeit, beschaff dir eine, übers Arbeitsamt, lautete unsere Devise.

Um kein bloßes Name-Dropping oder in diesem Fall Location-Dropping zu betreiben, schiebe ich eine Psychogruppen-Reminiszenz ein. Sie illustriert, was in Kurts Kellergewölbe so abging. Die Psychoszene der frühen 1980er Jahre war noch nicht wie ihr heutiger Wachstumsmarkt stromlinienförmig und smart designed. In den damaligen Psychogruppen schrammte man verschiedentlich knapp am Nervenzusammenbruch vorbei. Sogar Yoga war noch keineswegs jener domestizierte sanfte Breitensport von heute. Manche fürchteten beim Üben, eine falsche Verrenkung und die Kundalini werde mit ihnen durchgehen oder besser durchbrennen. Diese feurige Schlange aus der Hindu-Mythologie, die normalerweise am unteren Ende der Wirbelsäule zusammengerollt im Tiefschlaf verharrt, wird sie stimuliert, also quasi getriggert, plötzlich aufwacht und die Wirbelsäule hinauf in den Kopf steigt und dir im Falle einer vorschnellen Erleuchtung mit feuriger Zunge im Hirn herumfuhrwerkt.

Bevor der Yogi in mir mit seiner Fachsimpelei nicht mehr zu stoppen ist, geschwind die versprochene Psychogruppen-Reminiszenz. Bioenergetik, eine Zeit lang der Renner in meinem Gruppenangebot. Ein Programmhöhepunkt die Fallübung. Teste mal, ob du dich fallen lassen kannst, eine Vertrauensübung mit anderen Worten. Und das Ganze als Partnerübung. Man steht im Abstand von ca. einem Meter hintereinander. Die vordere Person, die mit dem Fallen dran ist, lässt die Arme locker hängen mit etwas Luft unter den Achselhöhlen. Der Hintermann oder die Hinterfrau, die sie auffangen sollen, stehen stabil und halten die Unterarme waagrecht nach vorne gestreckt, damit sie diese den Rückwärtsfallenden unter die Achseln schieben und so deren Sturz rechtzeitig auffangen. Eine Mutprobe für die Fallenden und ein Wachsamkeitstest für die, welche
sie vor einem harten Aufprall am Boden bewahren sollen. Männliche Teilnehmer brauchten bisweilen eine Ewigkeit, bis sie sich endlich nach hinten fallen ließen, in der Regel ohne einen Mucks. Kippten die Frauen, taten sie es in der Regel mit einem gellenden Schrei. Der so mark- und beinerschütternd sein konnte, dass mir selbst als Übungsleiter der Schreck in die Glieder fuhr und ich schon dachte, um Himmels Willen, nun sind drüben an der Elisabethkirche sämtliche Kirchenfenster zu Bruch gegangen. Nicht anders als beim schrillen Schrei des Oskar Mazerath aus der Blechtrommel. Oder schlimmer noch: dem Küster, der eben in der Sakristei andächtig das Weihrauchfass mit einem Läppchen poliert, fällt das Gefäß vor Schreck aus der Hand und das kostbare Stück aus dem dreizehnten Jahrhundert zerschellt auf den Steinfliesen. Eine innerkirchliche Katastrophe mittleren Ausmaßes, leichtfertig verursacht durch eine ungenügend schallgedämpfte bioenergetische Fallübung.

Doch ich schweife abermals ab und kehre reumütig zur Hauptsache zurück, zu Marburgs frühgotischem Renommierbau. Und gestehe abschließend zu meiner Schande, kein einziges Mal während der ganzen Jahre in der muffigen Krypta der Elisabethkirche die dort verwahrten Gebeine der vor Jahrhunderten verblichenen Heiligen Elisabeth von Thüringen in Augenschein genommen zu haben. Was kann ich anderes zu meiner Entschuldigung beibringen, als dass ich in jenen Tagen nur ein Auge für die noch nicht vom Fleisch gefallenen Beine junger Frauen hatte, wie sie draußen an der frischen Luft umherliefen, sehbehindert hin oder her. Später im vorgerückten Mannesalter
begegnete mir die Heilige Elisabeth noch einmal im Plot von Wagners „Tannhäuser“, wo sie für das Ideal christlicher Keuschheit steht, Venusberg hin oder her. Wobei mir am Tannhäuser ohnehin musikalisch die Ouvertüre das Liebste ist. – Vorhin hat mich Silvia davon in Kenntnis gesetzt, dass im Netz virtuelle Besuche der Elisabethkirche angeboten werden. Na also, was soll ich mich länger abmühen.

Da ich gedanklich noch immer in der Stadt der Blinden bin: wo halten sich die Blinden in meinem Erinnerungslabyrinth versteckt? Sie haben sich nicht versteckt. Für Sehende, Marburger Bürger oder Touristen, waren und sind sie sichtbar, ein integraler Bestandteil im städtischen Weichbild. Mit ihren weißen Stöcken, ob einzeln oder gruppenweise. Schülerinnen und Schüler der Carl-Strehl-Schule hauptsächlich. Eines meiner Erinnerungsbilder: Wie sie sich in Polonaise-Formation – die eine Hand auf der Schulter der Vordermanns oder der Vorderfrau – gelenkig durch die Zwischenräume der Gondeln im Supermarkt oder Kaufhaus schlängeln. Vor allem aber gehörten die Blinden
zum Straßenbild. Und bereits in den 1970er Jahren gab es in der Stadt der Blinden, was es damals meines Wissens in keiner anderen Stadt gab, nämlich Ampeln mit Drücker und Summton. Heute gibt es sie überall, „the times they are changing“.

Pilgrimstein mit Asthmatreppe

Dennoch ist mir wehmütig ums Herz. Wohin mit all den Erinnerungen, ein echtes Entsorgungsproblem. Und von so mancher Sehenswürdigkeit Marburgs habe ich nicht einmal
gesprochen. Beispielsweise vom damals viel befahrenen und entsprechend abgasgesättigten Pilgrimstein, von dem die berühmte Asthmatreppe abgeht, die hinauf in die Altstadt führt. Ein Muss, die Asthmatreppe, für alle mit Atembeschwerden Beschwerten. Ja, die Marburger Altstadt, eine Legende für sich. Die zahlreichen Kneipen, die Destille und das Delirium. Einschlägige Lokalitäten zum Versumpfen. Was mir nie passiert ist, ich bin nicht der Typ dazu. Ob es auch das Delirium nicht mehr gibt? Delirien sind an sich überzeitlich gefragt. Möglicherweise wüsste da Claudia Näheres. Für mich auf alle Fälle vorläufig genug des erinnerungsseligen Delirierens. Finito. Halt! Bevor ich den Fehler begehe, die keineswegs in zwielichtigen Spelunken versumpfenden gediegeneren Stadtbewohner zu vergraulen: Wohin ging die Marburger Creme de la Creme, wenn sie ins Cafe ging? Ins Cafe Vetter natürlich. Cremetorten aller Sorten, einstöckige und mehrstöckige, in deutsch biedermeierlichem Plüsch mit einem Schuss Wiener Cafehaus-Atmosphäre. Dieser Buttercreme- und Zuckergußtempel der Luxusklasse war und ist hoffentlich noch immer unverrückt an seinem Stammplatz. Am Aufstieg zur Altstadt nämlich, sofern die
Besucherin den Weg vom Philippinum her einschlägt, der mittelalterlichen trutzburgartigen Universitätskapelle mit theologischer Fakultät. An Sonntagvormittagen gab es Literaturlesungen mit Klaviereinlage. Damit bediente das Cafe Vetter seine bildungsbürgerliche Klientel, so dass diese nicht nur in Sacher und Sahne schwelgte. An zwei dieser Lesungen erinnere ich mich besonders.

Jean Amery, der aus seinem Roman „Charles Bovary“ aus dem Leben eines Landarztes las. Darin geht es um den Ehemann der ehebrecherischer Emma Bovary, der Heldin von Flauberts „Madame Bovary“. Es war das Jahr, in dem wenige Monate später Jean Amery „Hand an sich legte“, um es mit dem Titel seines Essays über den Selbstmord zu sagen. – Die andere Lesung war mit Karin Struck, sie las aus ihrem Romanerstling „Klassenliebe“. Erzählt wird von der sozioökonomisch verkomplizierten Liebe einer jungen Frau aus der bildungsfernen Unterschicht, vulgo Arbeiterklasse, zu einem Studenten aus bürgerlichem Elternhaus. Ein Plot, der nowadays von der Literaturkritik unter dem Oberbegriff „Klassismus“ verhandelt wird. The times they are changing.

Sollte das Cafe Vetter nicht mehr existieren, gäbe ich Marburg in meiner Phantasie verloren. Es wäre ein herber Verlust, den selbst die Elisabethkirche mit den mehreren Jahrhunderten auf ihrem steinernen Buckel schwerlich wettmachen könnte. Doch Moment mal, da wäre mir um ein Haar die Nennung meines Lieblingskuchens im Cafe Vetter durch die Lappen gegangen. Der Vierfruchtkuchen mit dem luftig-lockeren Biskuitboden, aber bitte mit Sahne. Dem Proustschen Gesetz autobiographischen oder autofiktionalen Erzählens zufolge, schmeckt kein lebensgeschichtlich real genossenes Stück Kuchen so gut wie das schreibend imaginierte Kuchenstück im Prozess des Erinnerns. – Übrigens ist Vierfruchtkuchen mit Sahne nach wie vor mein Lieblingskuchen. In dieser persönlichen Kuchentellerhinsicht haben sich die Zeiten überhaupt nicht geändert.

Ach, eines noch. Weshalb mich die Existenzfrage, Sein oder Nichtsein der Pizzeria Hubertus so brennend interessiert. Weil ich unwillkürlich an „Dinner for One“ denken muss, wenn ich mir den Kellner von damals heute als Hochbetagten vorstelle. Dann habe ich den alten Butler vor Augen wie er in angetütteltem Zustand mit dem Serviertablett auf die Old Lady am Tisch zustürmt und über den Löwenkopf vom Löwenfellteppich stolpert, oder was das für ein Ding da am Boden ist. In der Pizzeria saß ich gewöhnlich – „the same pocedure as every year“ – an einem der Tische im etwas erhöhten Separee rechts vom Eingang. Und genau da sitze ich auch jetzt wieder in meiner Vorstellung, ein halbes Jahrhundert später und sehe in diesem Moment meinen guten alten Kellner, korrekt wie eh und je, nur bedenklich vorn über gebeugt und der Haarschopf grau wie ein Wischmopp, mit dem Pizzateller voran auf mich zusteuern. Aber nein, nicht auf mich zusteuern, um Gottes Willen, auf mich zustürzen. Denn er stolpert so unglücklich über die Stufen zum Separee, dass er nurmehr mit Daumen und Zeigefinger den Pizzateller festhalten kann, während die Pizza in hohem Bogen durch die Luft fliegt und exakt vor mir auf dem gestärkten Tischtuch landet. Nur
leider verkehrt herum. Und im nächsten Augenblick, zusammen mit dem Aufprall des Kellners an der Tischkante, knallt dann separat auch der leere Pizzateller auf den Tisch und springt in tausend Stücke. Dem Knall und Scherbenklirren folgt ein gequältes „Prego“, mühsam entwindet es sich dem gequetschten Zwerchfell des geschundenen Alten. In mir aber jubiliert es, herrlich! Da war es gerade wieder, das alt vertraute „Prego“, als wäre die Zeit stillgestanden, genau so, wie ich es von damals noch immer im Ohr habe. – Überhaupt höre ich das alles bloß, fällt mir soeben ein, ich sehe es nicht wirklich und auch die Zeit ist nicht wirklich stehengeblieben; denn sonst wäre ich auch nicht, was ich mittlerweile bin, nämlich blind.

Schebbe-Gewisse-Gass

Wirklich, der Slapstick wäre so ein schöner Schluss gewesen. Dummerweise kam aber jetzt im SWR2-Mittagskonzert wieder einmal die „Symphonie Fantastique“ von Hector Berlioz. Und meine Lieblingsstelle darin, der Weg zur Richtstätte mit diesem phantastischen Offbeat, dieses Tam-tam, Bam-Bam, woran hat mich das erinnert? An Marburg und den Richtsberg, wo ich von 1972 bis 1974, vor unserer Wohngemeinschaftszeit, mit Anne in einem der Blocks in der Sudetenstraße wohnte. Der kürzeste Weg von der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät am Krummbogen hinauf zum Richtsberg führte durch die Schebbe-Gewisse-Gass. Im Sommer wegen der Steigung eine schweißtreibende Angelegenheit, auch wenn einen oben nicht der Galgen erwartete. Und wer wohnte gleichfalls auf dem Richtsberg? Mohamed, der blinde Perser, meine erste Blindenbekanntschaft überhaupt im Leben. Und ich bekäme nun selber ein „schebbes“ Gewissen, würde ich nicht davon noch erzählen.

Aufgefallen war mir Mohamed schon mehrere Male an der Bushaltestelle beim Mensa-Parkplatz, wo ich nach dem Seminar auf den Stadtbus zum Richtsberg gewartet habe. Da stand er im Wintersemester 72/73 unter dem Dach des Wartehäuschen, in einem beigen, bis oben hin zugeknöpften Mantel, die Hände auf Brusthöhe am Knauf des Blindenstocks. Mit der schwarzen Hornbrille gab er das Bild eines archetypischen Blinden, wie er klischeehaft durch die Vorstellungswelt der Sehenden vagabundiert. Als Anne einmal dabei war, sprach sie ihn kurzerhand an, ob sie ihm beim Einsteigen behilflich sein könne. Und siehe da, so stocksteif und zugeknöpft wie er zuvor dagestanden war, so offen und lebhaft zeigte er sich auf einmal. Im Bus saßen wir zu dritt auf der Rückbank, Mohamed zwischen uns. Und so erfuhren wir, dass er aus Persien kam, hier Pädagogik studierte und in dem neu errichteten Wohnheim für studentische Ehepaare auf dem Richtsberg wohnte. In dem Hochhaus mit den moosgrünen Längsstreifen an der Fassade bei der ersten Haltestelle, wo der Bus in das Neubaugebiet einbog. Paare mussten einen Trauschein vorweisen, um dort einziehen zu dürfen. Heterosexuelle Paare, versteht sich, alles andere hätte
Sodom und Gomorrha heraufbeschworen. Mohamend lud uns gleich ein, ihn und seine Frau Ilona bei der nächsten Gelegenheit einmal zu besuchen.

Beim ersten Besuch öffnete uns Ilona, wie Mohamed eine kleine rundliche Person. Sie empfing uns freundlich im weiß gestärkten Küchenkittel, ihrem üblichen Hausfrauenhabit. Sie geleitete uns ins Wohnzimmer, wo Mohamed vor seinem Sessel schon fürs Händeschütteln auf uns wartete, sie strahlten beide übers ganze Gesicht. Wir nahmen Platz und Ilona bediente uns nach bewährter Hausfrauenmanier. Sie selber studierte nicht und ging so einmal mehr ganz in dieser Rolle auf. Was Mohamed zweifelsohne guttat, wie man seinem Bäuchlein unschwer ansehen konnte. Zweimal täglich eine warme Mahlzeit für den nicht mehr ganz so jungen Pascha. Und die Schale mit dem Pistazienkernen für zwischendurch wurde von Ilona emsig nachgefüllt. Zum ersten Mal sah ich auch, nachdem wir uns um den Wohnzimmertisch versammelt hatten, womit Blinde ihre Wohnzimmerwände tapezieren, mit Regalen grauer Leitzordner, prall gefüllt mit Braille-Schriftbögen. Erblindet war Mohamed bereits mit zwei Jahren, als er beim Spielen in einer Grube auf dem häuslichen Anwesen ungelöschten Kalk in die Augen bekommen hatte, die Narben waren sichtbar, hob er einmal kurz die schwarzen Brillengläser. Seiner Frohnatur hatte der tragische
Unfall offenbar nichts anhaben können. Mohamed war ein lustiger Gesell, unentwegt zum Lachen und zum Scherzen aufgelegt. Jedesmal, wenn wir die beiden besuchten und um den Tisch saßen, gab er Derwisch-Geschichten aus seiner Heimat zum Besten. Wir hörten ihm gerne zu, lachten und knabberten Pistazienkerne um die Wette. Oder auch Erdnussflipps, die Ilona extra für mich hinstellte, denn die mochte ich noch lieber, weil man sie sich gleich in den Mund stopfen kann und sie nicht wie die Pistazienkerne von einer widerspenstigen Schale befreien muss.

Die Engerlinge, wie die Erdnussflipps bei mir bis heute heißen, waren auch für das Malheur verantwortlich, das ich bei einem unserer Besuche verursachte. Wir saßen also um den
Wohnzimmertisch, Mohamed war mitten in seiner Derwischgeschichte, gestikulierte lebhaft mit seinen fleischigen Händen und ich vermochte wieder einmal meine Naschgier nicht zu bezähmen. Ich langte über den Tisch zur Schale mit den Engerlingen und reckte mich dabei so weit nach vorne, dass ich mit der Stirn gegen den dicken Kristallklunker der tiefhängenden Wohnzimmerlampe stieß. Die Kugel sprang aus der Halterung und krachte auf die Tischplatte als schlüge eine Bombe ein. Kristallsplitter, wohin das Auge sah. Der blinde Mohamed auf seinem Sessel – der als einziger von uns glauben musste, es sei tatsächlich eine Bombe eingeschlagen – war zur Salzsäule erstarrt. Ilona
war die erste, die sich aus der Schreckstarre löste und gleich wusste, was zu tun war. Schon war sie in die Küche geeilt und kam mit Schaufel und Handfeger zurück. Kann passieren, beschwichtigte sie die Gemüter, ist doch bloß die Lampe, sie habe das klobige Glasding sowieso nie gemocht. Während sie das Glas am Boden zusammenfegte, klaubte Anne die Kristallscherben auf dem Tisch zwischen den verstreuten Engerlingen und Pistazien zusammen. Die Frauen waren noch mit den
Aufräumarbeiten zugange, als auch in Mohamed und mich die Lebensgeister wieder zurück gekehrt waren und er den Faden seiner Derwischgeschichte fortspann und ich mir die restlichen Engerlinge, die ich aus dem Chaos gerettet hatte, desto genüsslicher in den Mund schob.

Vor Mohameds Geschichte hatte ich noch nie etwas von Derwischen gehört. Was es geschichtlich mit ihnen auf sich hat, ihre Rolle im mystischen Zweig des Islam, darüber machte ich mir erst viel später Gedanken. Nachdem ich in meine spirituelle Phase eingetreten war. Und mit Sabine befreundet war, die in einer Bruchbude in der Ketzerbach logierte. In ihrem winzigen Hinterhauskabuff, wo gerade einmal Tisch und Matratze Platz hatten, las sie mir während nächtlicher Sitzungen bei Kerzenlicht und Salbeitee aus einen dünnen Fischer-Taschenbüchlein vor, auf dessen Einband ein tanzender Derwisch wirbelte. Reshad Feilds Esoterik-Klassiker „Ich ging den Weg des Derwisch“. – Diesen Weg aber gehen wir jetzt nicht auch noch, denn das ist nun wirklich eine andere Geschichte.