Villmar - Weyer (kobinet) Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Beitrag unter der Kategorie Nachricht oder als Kolumne einstellen soll. Ich habe mich für das Zweite entschieden. Beim Verfassen ist es mir einfach nicht gelungen, meine Erfahrungen aus dieser Veranstaltung mit der für einigermaßen seriösen Journalismus gebotenen Neutralität zu formulieren. Die Kolumne hätte auch ein Erlebnisaufsatz mit dem Titel „Kommt ein Hesse nach Mainz…“ werden können. Für mich als mittelhessisches Landei, mit einer Angststörung, ist ein Besuch einer fast schon Großstadt wie Mainz eine echte Herausforderung. Schon die Suche nach einem Parkplatz, in der Nähe des Veranstaltungsortes, dem Kulturzentrum Mainz (Kuz)für meinen 2,50 Meter hohen Bus bedurfte tagelanger Planung und Recherche. Auf dem etwa 1 km langen Fußweg von der Zitadelle zum Kuz, bei dem mir Google Maps keine große Hilfe ist, verlaufe ich mich zweimal und treffe auf 3 obdachlose Menschen, die am Morgen gegen 8 Uhr, in Passagen oder unter Torbögen noch in ihren Schlafsäcken liegen. Heute Nacht sollen es in Mainz 10 Grad gewesen sein. Das ist eigentlich schon genug Erfahrung für einen Tag.
Das Kuz in Mainz befindet sich zwischen Altstadt und Rhein. Für mich alles andere als eine reizarme Umgebung. Man muss 3 stark befahrene Hauptstraßen überqueren. Die Fußgängerampeln haben Mainzelmännchen als Symbole. Lustig?! Zum Glück findet der Kongress nicht in der Innenstadt statt.
Für den heutigen Tag wurde das Kuz, in dem sonst Konzerte und Theateraufführungen stattfinden, von der LAG Selbsthilfe Rheinland-Pfalz angemietet. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die Landesarbeitsgemeinschaft eine Art Behörde, die den zahllosen Selbsthilfegruppen im Bundesland hilft, sich selbst zu helfen und dabei u.a. von führenden Krankenkassen gefördert wird. Ob dieser Umstand merkwürdig oder folgerichtig ist, erschließt sich mir noch nicht. So lautet meine 1. Frage an den Geschäftsführer der LAG, Johannes Schweizer auch, was die Politik und Behörden wohl ohne Selbsthilfegruppen tun würden? „Nichts!“, lautet seine eindeutige Antwort. „Das System würde zusammenbrechen!“
Das Programm des Kongresses ist vielfältig und findet in 3 Räumlichkeiten statt. So überschneiden sich Programmpunkte. Und die Frage, für welche der allesamt interessanten Themen ich mich am meisten interessieren soll, überfordert mich erneut. Auch die Unmengen an Flyern und Informationsmaterialien und Stellwände. Wer liest das alles?
Also entscheide ich erst einmal mich unter die Teilnehmenden zu mischen und mir fällt eine vermeintlich gute Einstiegsfrage ein: „Für wen oder was braucht es Veranstaltungen wie den Inklusiva Kongress?“ Einigen Befragten fällt reflexartig eine vermeintlich gute Einstiegsantwort darauf ein: „Um die Öffentlichkeit für das Thema Inklusion zu sensibilisieren!“ Sie ziehen diese Antwort aber umgehend zurück, als ich meinen Blick über die restlichen Teilnehmenden im Foyer des Kuz schweifen lasse und schulterzuckend bemerke: „Aber wo ist sie denn, die Öffentlichkeit? Ich sehe hier nur lauter Insider!“
Da überkommen mich schon wieder Selbstzweifel. Meine Reportagereihe heißt übersetzt „Die gute Nachricht!“ Was soll das werden, wenn ich schon zum Einstieg anstatt journalistisch qualifizierter Fragen, gemeine Fangfragen stelle? Ich bin ja auch nur Hobbyjournalist.
Also ändere ich meine Strategie und stelle mich zum Einstieg erst einmal meinen Gesprächspartner*innen vor: „Mein Name ist Stephan Laux und ich berichte für das Internetportal kobinet.“ Wenn man sich auf einem sozialpolitischen Kongress in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz mit diesen Worten vorstellt, bekommt man überdurchschnittlich oft die Antwort: „Bestellen Sie Ottmar Miles Paul einen schönen Gruß!“
Und das ist eine gute Nachricht! Die kobinet Nachrichten werden wahrgenommen, die Arbeit und das Engagement von Ottmar und seinen langjährigen Mitstreiter*innen ausdrücklich gewürdigt. Und als Berichterstatter erhält man eine größere Aufmerksamkeit.
Der Kongress beginnt dann offiziell mit den obligatorischen Grußworten. Hier treffe ich wieder auf Staatssekretär Dr. Denis Alt, Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung in Rheinland-Pfalz, den ich schon auf der Dialogveranstaltung zu den nicht sichtbaren Beeinträchtigungen kennenlernen durfte. Damals sagte er, sein Ministerium hätte schon eine Menge Geld zu verwalten und müsse es zielgerichtet und effizient ausgeben. Er muss sich mit seinen Grußworten kurzfassen, weil der Name seines Ministeriums so lang ist. Mir fällt es immer schwer, Grußworten zu folgen. Ich habe Vorurteile gegenüber Grußworten. Meine Erwartungshaltung an Grußworte ist zu sehr vorgefertigt.
„Schönen guten Tach und Gruß von der Ministerin!“, würde doch dem Wortsinn genügen? Aber meistens sagen die Grüßenden noch irgendwas rund um die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema.
Ellen Kubica, Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen von Rheinland-Pfalz, brachte jedoch noch einen anderen Aspekt in Ihre Grußworte. Den der Feinde der Demokratie, denen man sich angesichts aktueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen entschieden entgegenstellen müsse. In einfacherer Sprache meinte sie wohl die AFD angesichts der Wahlergebnisse im Osten. Und schon wieder schweifen meine Gedanken ab. Und anstatt als ambitionierter Hobbyjournalist der Grußbotschaft aufmerksam und ehrfürchtig zu lauschen, frage ich mich:
- Ob man die Feinde der Demokratie mit 3 Buchstaben erklären kann?
- Warum die Feinde der Demokratie offensichtlich nicht auf dem Kongress sind, damit ich mich ihnen entschieden entgegenstellen kann (ebenso wie die Öffentlichkeit, um sie zu sensibilisieren)? Und
- Ob man sich den Feinden der Demokratie nicht am effizientesten entgegenstellt, in dem man sozialpolitische Entscheidungen nicht tot diskutiert, sondern endlich umsetzt?
Ich brauche jetzt unbedingt gute Nachrichten und finde sie in der Gesprächsrunde über den Reformprozess der WfbM aus Sicht der LAG WR RLP (Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatt-Räte Rheinland-Pfalz) (Ich versuche in diesem Bericht Abkürzungen auszuschreiben. Um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren!)
Definitiv einer der besten Fachbeiträge, denen ich in den letzten Jahren beiwohnen durfte. René Schachtschabel und Andreas Kaiser zuzuhören ist erfrischend realitätsnah! Ihre Präsentation faktenbasiert, ohne Schnickschnack oder Symbolik. Ihre Berechnungen zu einem gerechten Entgelt in WfbMs (Werkstätten für behinderte Menschen) sind eindeutig und beschreiben, erklären und vergleichen bestehende und Modelle aus der Politik mit eigenen Vorschlägen.
Andreas Kaiser spricht gerne von dem Gesamtpaket Werkstatt. Dieses Gesamtpaket kommt ihm entgegen. Es berücksichtigt seine Bedarfe, seine Ressourcen und seine Beeinträchtigungen. „Es wird nur zu schlecht bezahlt. Mit dem Geld kommt man schwer selbstbestimmt durchs Leben“ ergänzt René Schachtschabel. Andreas Kaiser ist sich sicher, dass er auf dem sogenannten 1. Arbeitsmarkt scheitern würde. Er ist gelernter Verwaltungsangestellter. „Bis ich ein Blatt aus einem Kopierer gefummelt habe, hat ein Kollege oder eine Kollegin eine ganze Akte bearbeitet.“ Natürlich gäbe es auch in Werkstätten Verbesserungspotenzial, so René Schachtschabel. Dafür setzen sich die Werkstatträte ein. Aber das Gesamtpaket sei gut und entwickle sich weiter.
Für mich als Kritiker von Sondereinrichtungen wie der WfbM sind die Ausführungen von René Schachtschabel und Andreas Kaiser eine von mir selbst stark vernachlässigte Perspektive. Dazu gehört auch das Fazit dieses Teils des Inklusiva Kongresses: Nicht alleine die WfbM ist reformbedürftig. Es ist vor allem der sogenannte 1. Arbeitsmarkt, wenn es wirklich weiter erklärtes Ziel der Inklusion bleiben soll, mehr als derzeit 0,33 Prozent der WfbM Beschäftigten auf diesen allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Ein durchgehender Programmpunkt im Foyer des Kuz ist der Austausch. Eine hervorragende Gelegenheit, sich festzubabbeln. Dafür bin ich prädestiniert. Dort zeigt sich ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses. Netzwerken. Überaus interessante Gespräche und Kontakte ergeben sich hier. Es werden eifrig Visitenkarten ausgetauscht.
In Vorbereitung auf den Kongress habe ich meine Visitenkarten auf die Rückseite der kobinet – Karten geklebt. Ich habe mir dadurch einen Synergieeffekt erhofft, der wahrscheinlich nach hinten losgeht. Wer auch nur ein zartes Interesse an meiner Arbeit als Fortbildner und Coach oder an einem meiner Workshops entwickelt, wird dann wohl auch meine Kolumnen lesen und sich wahrscheinlich nie wieder melden. Auch weil ich selbst ein Programmpunkt im Bereich Austausch im Foyer bin, verpasse ich praktisch jedes der noch folgenden Angebote.
Allerdings treffe ich während dieses Programmpunktes u.a. auf eine Gruppe von Mitarbeitenden der Lebenshilfe des Kreises Ahrweiler. Alleine der Austausch mit ihnen war einen Besuch in Mainz schon wert. Die Einrichtungen des Vereins befinden sich im ländlichen Raum. Die verheerende Flutkatastrophe macht einen sprichwörtlichen Neuaufbau unumgänglich. 12 Menschen mit Behinderung sind bei dieser Katastrophe ums Leben gekommen. Viele Bewohner*innen und Mitarbeitende sind traumatisiert. Die Herausforderungen, vor denen das Team von Geschäftsführer Hans Christian Seifert steht, sind Ehrfurcht gebietend, aber auch ermutigend. Die Lebenshilfe Ahrweiler befindet sich in guten Händen! Eine gute Nachricht!
Vielleicht ist Ermutigung auch ein Aspekt, unter dem solche Kongresse stattfinden. Wenn man sich die einzelnen Punkte im Programm, mit Ihren zahlreichen Hintergrundinformationen noch einmal anschaut, wird deutlich, dass ermutigende Initiativen zu mehr Barrierefreiheit vor allem auch im digitalen und Medienbereich existieren. Ermutigend und unbedingt zu erwähnen ist auch die nahezu perfekt organisierte Barrierefreiheit des Kongresses. Eine wahre Materialschlacht! Vorträge und Gesprächsrunden wurden allesamt Gebärden gedolmetscht und in Schriftsprache übersetzt. Man konnte sie auch per Livestream und Chat verfolgen. Über viele Programmpunkte wurden in leichter Sprache informiert. Alle Bühnen waren über Rampen zu erreichen.
Leider betreibt das Kuz in Mainz bei seinen Kulturveranstaltungen kaum einen solchen inklusiven Aufwand. So berichtete mir Sabine Wollstädter, die mit ihrem Team das Projekt Inklusiva Kongress leitete. Bleibt zu hoffen, dass ein solcher Event Impulse bei den Verantwortlichen für den Kulturbetrieb in Mainz und anderswo setzt. Dann wäre auch ein Stück mehr Öffentlichkeit mit im Boot.
Und was machen wir mit den Feinden der Demokratie? Trauen wir uns, sie zu solchen Veranstaltungen einzuladen? Dazu braucht es Mut zum Dissens. Man könnte ja klein anfangen? Vielleicht mit Marco Buschmann?
Und noch eine gute Nachricht zum Schluss.
Ich habe mich, nach dem Inklusiva Kongress, unversehrt, über 3 Mainzelmännchenampeln, zurück zu meinem Parkplatz durchgeschlagen und hatte keinen Strafzettel an meinem Bus. Wenn das mal kein gutes Omen für meine Reise nach Bremen zum Kongress >Menschenrecht ohne Schranken< ist!
Bis bald
Stephan Laux Oktober 2024