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Ableismus tötet und Kapitalismus ebenfalls

Einroter Ziegelstein
"Ein kleiner Baustein", herausgebrochen aus "einer ganz großen Mauer, die da errichtet wird, ein großes Werk." So hat Kanzler Scholz in Usbekistan das UN-BRK-Koan formuliert und es mit seinem Besuch beim Behindertenrätsel-Beauftragten Dusel bekräftigt. (Ein Koan ist ein zenbuddhistisches Paradox)
Foto: Pixabay/OpenClipart-Vectors

Staufen (kobinet) Deshalb Ableismus stoppen und den Kapitalismus gleich mit! Dann laufen wir nicht länger einer Illusion von Inklusion hinterher, sondern schaffen mit einer „Revolution für das Leben“ erst realistische Voraussetzungen für inklusive Verhältnisse. – Das sind zunächst lediglich wegweisende Parolen. Wieso Inklusion in den kapitalistischen Arbeitsmarkt und in die neoliberale Wettbewerbsgesellschaft für die meisten behinderten Menschen sich als eine illusionäre Erwartung herausstellen dürfte und was alternativ dazu unter der antikapitalistischen Revolution für das Leben zu verstehen ist, davon handelten vier Kolumnen im Frühsommer. Dieses vierblättrige Kleeblatt hat für einen behindertenpolitischen Perspektivwechsel geworben. Im Folgenden geht es um dessen nachsommerliche Auffrischung für eine lebhafte behindertenpolitische Debatte.

Ein Wirtschaftssystem und eine Lebensweise auf dem Todestrip

Am deutlichsten ökologisch und klimatisch. Klimakollaps und ökologische Katastrophen sind die unmittelbarsten Zeugnisse für den Todestrip des globalen Wirtschaftssystems und die mit ihm einhergehende Lebensweise. Hochrüstung und weltweite Kriegsvorbereitungen kommen aktuell hinzu. – Soweit die objektive Kurzbeschreibung der Welt bzw. der Gesellschaft, an der wir Behinderten gleichberechtigte Teilhabe fordern. Benachteiligt und diskriminiert sind wir bereits Teil davon.

Tunnelblickartig auf den „allgemeinen Arbeitsmarkt“ fixiert

Zentral kreisen behindertenpolitische Bilanzierungen immer wieder um dieses Thema, wie weit man beim Zugang zum „ersten Arbeitsmarkt“ vorangekommen ist. Als dürften wir mit Erreichen dieses Ziels ausrufen, „geschafft, wir sind happy!“ Inwieweit hält diese Erwartung der Realitätsprüfung stand? Was ist davon zu halten, diese Frage gar nicht erst zu diskutieren?

Was ist (bei Integration in den Arbeitsmarkt und regulärer Berufstätigkeit) mit Arbeitstempobeschleunigung, Leistungsdruck, Selbstausbeutung, Selbsterschöpfung, kurz, mit kapitalistischem Todestrip auf individueller Ebene? Sollten Behinderte der Devise folgen: Hauptsache mitmachen, alles andere ist nicht so wichtig? Und bekommt, wer „Kapitalismus tötet“ für eine Übertreibung hält, nicht ein Stimmigkeits- und Glaubwürdigkeitsproblem beim Festhalten an der behindertenaktivistischen Zuspitzung „Ableismus tötet“ (weil sich dies nicht minder pauschal und übertrieben anhört)?

Den behindertenpolitischen Perspektivwechsel, für den ich plädiere, konkret vollziehen, hieße nicht zuletzt, sich vom Tunnelblick auf den „ersten Arbeitsmarkt“ zu lösen. Und stattdessen einen gesellschaftlich kontextrealistischen Blick auf das Paradigma Inklusion zu richten, an dem es an sich festzuhalten gilt. Dann könnten wir uns vielleicht auf die Hypothese einigen: Unter den kapitalistischen Rahmenbedingungen erscheint für eine begrenzte Zahl von Behinderten eine Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt (zu mit Nichtbehinderten vergleichbaren Bedingungen) realisierbar. Eine Integration, die inklusionspolitisch als ein bescheidenes Etappenziel einzustufen wäre.

Sich an der Verschleierung inklusionsfeindlicher Interessen nicht beteiligen!

Innerhalb der nichtbehinderten Dominanzgesellschaft gibt es Interessen (wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Sonderinteressen), die inklusionsfeindlich sind und der gleichberechtigten Teilhabe von Behinderten im Wege stehen. Das Vorhandensein ihrer inklusionsabträglichen Interessen wird von den Betreffenden gerne verschleiert bzw. geleugnet. Sie möchten nicht als die Verursacher und Nutznießer von Behindertenexklusion und Diskriminierung identifiziert und sichtbar werden. Manche von ihnen beteiligen sich umgekehrt gern an Aufführungen eines „Inklusionstheaters“, das ihnen Gelegenheit bietet, Inklusionsbereitschaft und guten Willen vorzuspielen, zu simulieren. Ein bei ihnen allen heutzutage vorhandenes „Gutsein“, das zeige, dass Diskriminierung und Behindertenfeindlichkeit der Vergangenheit angehörten.

Solches Inklusionstheater soll die fortbestehende inklusionsfeindliche Alltagswirklichkeit im öffentlichen Bewusstsein zum Verschwinden bringen.

„Desintegriert euch“, so lautet der provokante Ratschlag Max Czolleks an die jüdisch-deutsche Community hierzulande, um sich ihrer Vereinnahmung durch die offizielle deutsche Erinnerungspolitik zu widersetzen. Diese kreise um eine bloß symbolische Integration, führe ein „Versöhnungstheater“ auf, womit die eigene „Gutwerdung“, die des deutschen Täterkollektivs beglaubigt werden solle. Diese behauptete „Gutwerdung“ bzw. der mit ihr unterstellte Erfolg der deutschen Erinnerungskultur würden jedoch aktuell widerlegt durch die AfD-Wahlerfolge, das immense Wählerpotential der Rechtspopulisten.

Die sich mir aufdrängende Parallele zwischen dem „Versöhnungstheater“ ( bezogen auf den Holocoust) zwecks Ablenkung von einer interessenbestimmten Wirklichkeit und einem behinderten-politischen „Inklusionstheater“: Die Aufmerksamkeitsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft uns Behinderten gegenüber ist etwas, „das sehr stark von Interessen gelenkt wird, was aber im direkten Gespräch gar nicht auf den Tisch kommt und es ist ganz schwierig, mit Menschen eine Art kritische Position zu bestimmen, wenn einem immer wieder als Argument entgegengehalten wird, aber wir meinen es doch gut mit euch.“ So Max Czolleks Worte. Und als Beweis solch guten Willens kann von politischer und speziell regierungsamtlicher Seite dann auch noch die UN-Behindertenrechtskonvention angeführt werden. So dass deren „Verabschiedung“ gleichbedeutend ist mit der Verabschiedung unserer Behinderteninteressen und Antidiskriminierungsangelegenheiten in die Endlosschleife der Symbolpolitik. In deren Windungen die behindertenpolitische Interessenvertretung erst einmal auf Jahre hinaus beschäftigt ist. So lange jedenfalls, wie ihr nicht der Kragen platzt und sie aus diesem „Inklusionstheater“ aussteigt. Der erste Schritt zum Ausstieg könnte der von mir vorgeschlagene behindertenpolitische Perspektivwechsel sein.

Zu den behindertenfreundlichen Lippenbekenntnissen der Mehrheitsgesellschaft folgendes Zitat zur Illustration: „Stellt euch vor, was für ein berechtigter Krawall losbrechen würde, wenn am deutschen Literaturinstitut in Leipzig, in dem ich um die Jahrtausendwende herum studierte, ein Schild mit der Aufschrift angebracht wäre, ZUTRITT NUR FÜR WEISSE. – Der Zugang zum Haus ist nur über Treppen ohne Handlauf möglich, was bedeutet, Zutritt nur für Gehfähige, ganz ohne Schild. Menschen mit Behinderung müssen leider draußen bleiben, ob jemand das will oder nicht. Und weil es so ist, heißt es, dass alle das wollen. Solidarität hieße im Übrigen, dass solange das so ist, alle draußen blieben. Das wird allerdings nicht eintreten. Solidarität wird nicht eintreten, weil sie dem Interesse der Mehrheit zuwiderläuft. Solidarität ist meist nur ein Lippenbekenntnis.“ (Jan Kuhlbrodt, Krüppelpassion – oder vom Gehen, 2023)

Ein behindertenpolitischer Perspektivwechsel, um alle mitzunehmen

Niemandem innerhalb der behindertenpolitischen Interessenvertretung unterstelle ich eine Elitepolitik. Doch wenn es dumm läuft, könnte sich eine als inklusiv etikettierte Realpolitik nach dieser Richtung hin entwickeln. Eine Leistungselite aus unserer Mitte wird den systemkonformen Ein- und Aufstieg schaffen. Die Taffen und Resilienten auf den ersten Arbeitsmarkt, die Paraolympioniken im Sport, die Instagram-Klickstars unter den Kulturell Kreativen. Der große Rest der Community darf sich auf gewisse Trickle-down-Effekte freuen, die für sie abfallenden Prosamen. – Um es offen auszusprechen (wie ich mir dies auch für behindertenpolitische Bilanzierungen wünschen würde): Mit dem derzeitigen neoliberalen Schuldenbremser- und Kriegsertüchtiger-Kapitalismus ist kein Inklusionsstaat zu machen.

P.S. Auch eine kapitalismuskritische Soziologie bietet dem Behindertenaktivismus seit langem eine nüchterne bzw. ernüchternde Sicht auf „Inklusion“ unter den Rahmenbedingungen des Kapitalismus. Stefan Lessenich urteilt 2009: „In der projektbasierten Ordnung des flexiblen Kapitalismus … kommt im wahrsten Sinne des Wortes „groß“ raus, wer sich durch grenzenlose Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit auszeichnet… Alle Herrschaft der Aktivitätsnorm hat ebenso entfremdenden wie ausbeuterischen Charakter. Was den Entfremdungsaspekt angeht, so sieht die Aktivierungsprogrammatik von den subjektiven Wertsetzungen und Adressatinnen und Adressaten ab, um diese voll und ganz im Sinne erwerbsgesellschaftlicher Wertmaßstäbe zu mobilisieren. … Aktivierung meint nicht anderes als Integration in Beschäftigung. Stets bildet das Beschäftigungssystem den Fluchtpunkt politischer Intervention, dienen die Lebensführungs- und Produktivitätsnormen der Erwerbsarbeit als Richtschnur gesellschaftlicher Erwartungen. Was die Menschen selbst für sich als Form und Inhalt eines „aktiven“ Lebens imaginieren und wünschen würden, spielt im spätkapitalistischen Aktivierungssystem schlichtweg keine Rolle. Wer diese Vorstellungen für sich unter den gegebenen Bedingungen realisieren kann, hat sich dann der gesellschaftlichten Realitätsnorm bereits gebeugt oder gehört zu jenen high potentials, denen die Aktivgesellschaft des flexiblen Kapitalismus allerorts huldigt. … Dass aus dieser Perspektive das spätkapitalistische Aktivierungsregime auch ein veritables Ausbeutungssystem darstellt … wird auch in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte kaum thematisiert.“ (Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa, Soziologie und Kapitalismuskritik, Frankfurt 2009, 286 f.)

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