Berlin (kobinet) Zum Artikel "Behinderte bitte draußen bleiben! Status der digitalen Barrierefreiheit der Kommunen in Deutschland" vom 20.06.2024 bei uns hat Sebastian Fischer sich an uns gewandt, um den Sachverhalt zu kommentieren. Wir halten das Thema ebenso für wichtig und veröffentlichen seinen Standpunkt.
Anfang 2024 wurde der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ vom Verein Inclusion Tech Lab e.V. mit großem Werbeaufwand veröffentlicht, um uns zu erklären, dass 97 Prozent der Webauftritte für kommunale Dienstleistungen nicht digital barrierefrei sind. Diese Erkenntnis ist aber nicht neu, denn der Bericht der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT Bund) aus dem Jahr 2021 zeigte auf, dass kein Webauftritt alle Kriterien der BITV (Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung) erfüllt. Doch kommt die Überwachungsstelle zur Erkenntnis, dass etwa 80 Prozent der Kriterien mehr oder weniger erfüllt seien.
Dabei ist Studie nicht gleich Studie: Der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ verwendet selbst definierte Kriterien, die keine gesetzliche Konformität überprüfen.
Aber schauen wir uns diese Studie einmal genauer an:
Methodik der Studie: Fragwürdige Kriterien
Der Atlas basiert auf den folgenden als gleichwertig angesehenen Kriterien:
- Kann man die Schriftgröße ändern?
- Gibt es eine Vorlesefunktion?
- Gibt es ein Angebot in Leichter Sprache?
- Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt?
- Kann man in wenigen Minuten erfahren, wo man einen Termin zur Verlängerung seines Personalausweises vereinbaren kann?
Die Auswahl der Kriterien sollen behinderte Menschen der DasDies Service GmbH getroffen haben, ohne dass wir wissen, warum diese Menschen gerade diese Kriterien ausgewählt haben. Auch wissen wir überhaupt nicht, welche Beeinträchtigungen diese Menschen hatten, und ob diese behinderte Menschen digitale Barrierefreiheit benötigen.
Aber schauen wir uns diese Kriterien einmal genauer an:
- Ob die Schriftgröße verändert werden kann, ist kein Kriterium für Barrierefreiheit. Vielmehr muss es möglich sein, dass die Schriftgröße mit den Mitteln des Browsers bis auf 200 Prozent vergrößert werden kann. Diese Vergrößerungsfunktion auf der Website ist darüber hinaus nutzlos, da jeder sehbehinderte Anwender sich seinen Computer so eingerichtet hat, dass er überall die entsprechende Schriftgröße hat.
- Eine Vorlesefunktion wird ebenfalls nicht von den gesetzlichen Normen gefordert und ist nutzlos. Jedes Betriebssystem oder jeder Browser hat eine viel bessere Vorlesefunktion. Für blinde Anwender wird aber gefordert, dass die Webseiten von Screenreadern verarbeitet werden können und die hier integrierte Vorlesefunktion einwandfrei arbeitet. Für blinde Anwender sind die auf Webseiten integrierten Webreader verhängnisvoll: sollten diese versehentlich aktiviert werden, hat der Anwender zwei gleichzeitige Sprachausgaben!
- Ein Angebot in leichter Sprache wird gemäß BITV gefordert und richtet sich nach den Kriterien des Netzwerkes Leichte Sprache. Ob sich die Studie nach diesen Kriterien richtet, ist aber völlig unklar!
- Das BITV fordert eine „Erklärung zur Barrierefreiheit“, mit klaren Inhaltsangaben. Mit dieser Erklärung kann der Stand der Barrierefreiheit von Experten eingeschätzt werden. Die Studie lässt uns aber im unklaren, was genau geprüft wurde. Anscheinend ist dieses Kriterium in der Studie auch erfüllt, wenn eine öffentliche Stelle auf ihrem Webauftritt schreibt: „Digitale Barrierefreiheit ist uns völlig egal!“
- Die BITV fordert an keiner Stelle, dass einzelne Verwaltungsakte innerhalb von wenigen Minuten auffindbar sein müssen; vielmehr muss alles entsprechend der gesetzlichen Konformität digital barrierefrei sein!
Die Kriterien 1, 2 und 5 sind bezüglich digitaler Barrierefreiheit sinnlos.
Die Kriterien 3 und 4 werden detailliert von der BITV gefordert. Da diese Studie aber nicht auf diese Normen verweist, ist die Überprüfung nicht aussagekräftig.
Auch werden in der Studie die 5 Kriterien gleich gewichtet. Ein Webauftritt ist aber nicht zu 20 Prozent barrierefrei, wenn er das Kriterium der Webreader erfüllt!
Alle in der Studie aufgeführten Kriterien hätte man auch maschinell prüfen lassen können, und nicht eine Beschäftigungstherapie für behinderte Menschen machen müssen.
Beispiele
Nehmen wir an, eine Gemeinde hat einen Abfuhrkalender für die Mülltonnen. Es existiert eine Erklärung zur Barrierefreiheit. Der Kalender genügt den Anforderungen der BITV und es gibt ein Formular, um die Leerungstermine zu erfahren. Zudem kann in leichte Sprache gewechselt werden. Für einen blinden Nutzer mit seinem Screenreader wäre diese Webseite perfekt und zu 100 Prozent barrierefrei.
Es fehlen aber die Kriterien 1, 2 und 5. Nach dieser Studie wäre dieser Webauftritt nur zu 40 Prozent barrierefrei; diese Bewertung ist aber unsinnig!
Auch der Webauftritt der Studie „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ ist in Bezug auf die BITV nicht barrierefrei. Bei Verwendung eines Screenreader wird wegen des verwendeten Overlay-Tools jede Überschrift doppelt vorgelesen!
Wird mittels Tastatur (TAB-Taste) durch die Webseite navigiert, wird dem Screenreader-Nutzer dutzendmal „Vorlesen Schalter“ angesagt. Damit ist keine sinnvolle Tastaturbedienung möglich!
Für blinde Menschen ist dies nervig und lässt vermuten, dass keine Expertise über digitale Barrierefreiheit bezüglich blinder Menschen vorhanden ist.
Fazit: Mehr Schaden als Nutzen
Die gesetzliche Konformität der BITV und der Verweis auf die WCAG legen technische Standards fest, die allen behinderten Menschen mit ihren vielfältigen Einschränkungen ermöglicht, einen weitgehenden digital barrierefreien Informationszugriff auf öffentliche Webseiten mit ihren speziell angepassten Hilfsmitteln ermöglicht. Der „Atlas Digitale Barrierefreiheit“ definiert fünf willkürliche Kriterien, die mit digitaler Barrierefreiheit überhaupt nichts zu tun haben. Dass diese nicht durchdachten Kriterien von Beschäftigten einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung getestet wurden, macht die Studie nicht besser.
Es ist zu befürchten, dass der Atlas als Entscheidungsgrundlage für öffentliche Behörden dienen wird, mit dem einfachen und preiswerten Werkzeug eines Overlay Tools wie „EyeAble“ oder „DigiAccess“ die meisten der fünf Kriterien zu erfüllen. Einige abschreckende Beispiele gibt es bereits: Köln, Essen oder Schweinfurt. Mit dem Einsatz von Overlay Tools kann man niemals digitale Barrierefreiheit erreichen, wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und das European Disability Forum kritisieren.
Eine in der Grundanlage schlechte Studie ohne Aussagekraft wird der digitalen Barrierefreiheit nicht helfen – aber wahrscheinlich sogar Schaden anrichten. Schade um die etwa 300.000 Euro, von denen ein Teil von der „Aktion Mensch“ stammen!
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Sebastian Fischer, blinder Diplom Informatiker univ. und Experte für digitale Barrierefreiheit
Er ist seid etwa 5 Jahren erblindet. Leider muss er feststellen, dass es unzählige digitale Barrieren gibt. Deshalb engagiere er sich sehr intensiv um die Beseitigung dieser. So hat er unzählige öffentliche Webseiten in Bayern als nicht gesetzeskonform bzgl. BITV ermittelt und viele Durchsetzungsverfahren angestoßen.
So schlimm können Overlays nicht sein, schließlich wird deren Einsatz von der Aktion Mensch gefördert. Einfach die Suchmaschine des Vertrauens anwerfen, dann findet man es. Ein deutscher Overlay-Anbieter, der seine Kritiker gerne mit rechtlichen Schritten einschüchtert. Mehr sage ich mal nicht, die Aktion Mensch hat kein gutes Händchen, wenn es um Projekte zur digitalen Barrierefreiheit geht, die sie fördern. Nun ja, Einfach für alle haben sie eingestellt und seit 14 Jahren warten wir auf den neuen BIENE-Wettbewerb.
Die Kritik ist ja schon mehrfach geäußert worden, u.A. von Casey Creer oder netz-barrierefrei. Es spricht glaube ich für sich, dass die Atlas-Macher ihre Website nicht nachgebessert haben und sich gar nicht zur Kritik äußern. bleibt zu hoffen, dass die Förderer der „Studie“ das nächste Mal besser hinschauen.