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Dritter Versuch einer „Liebesheilung“ des kranken Amerika

hölzerner Rundbau mit Dach in Prärieumgebung
Schwitzhütte, traditionelles indianisches Heilritual, reinigt Körper, Geist und Seele von Besitzgier, Neid und Bosheit.
Foto: Pixabay/lastwolf

Staufen (kobinet) Ist Amerika krank? Nicht nur Pathologen drängt sich diese Frage auf. Bis in den Schlaf hinein verfolgt sie auch normale Zuschauer und raubt ihnen denselben. Religiöser Wahn bricht sich Bahn, zusätzlich zu den systemischen Pathologien. In den verwirrten Köpfen allzu vieler Americans hat die Stunde der göttlichen Vorsehung geschlagen. Da ist es besser, man sieht sich vor, schalte die ubiquitär gestreamte True Crime Trump Show vorübergehend aus und erkundigt sich nach Therapiemöglichkeiten für ein krankes System, dessen Land und Leute. Die Systemkrankheit und der Gotteswahn sind schließlich ansteckend und können uns alle mit in den Abgrund reißen.



Von einer Minute auf die andere nackt in Las Vegas gestanden

Die letzte Folge endete mit unserer Ankunft in Las Vegas. Meine Schwester und ich sind 1983 im Südwesten der USA mit dem Greyhound-Bus unterwegs. Wir sind gerade aus dem Bus ausgestiegen, um aus dessen Bauch unsere Rucksäcke in Empfang zu nehmen, müssen jedoch feststellen, dass sie verschwunden sind. Was nun? Kaum etwas auf dem Leib, nur in Trägerhemdchen, Shorts und mit Badelatschen an den Füßen, stehen wir quasi nackt im nächtlichen Las Vegas. Ratlos im Neonlicht der Ankunftshalle. Das Office der Busgesellschaft ist noch geöffnet. Breitbeinig hat sich der Officer in seinen Chair gepflanzt, der Öffnungswinkel seiner massigen Schenkel geht noch etwas weiter auseinander, als wir durch die saloonartige Schwingtür treten. An der Decke rotiert ein Propeller von annähernd Helikoptergröße. Als meine Schwester aufgelöst unseren Verlust meldet, keine Klamotten mehr, alles weg, selbst unsere Zahnbürsten seien im Rucksack, hebt der Officer abwehrend die Hände, no stipulation for that! In einem Fall wie diesem könnten keinerlei Regressansprüche der Company gegenüber geltend gemacht werden.

Aber dann fällt ihm doch etwas ein, sein Gesicht entspannt sich und fast amüsiert meint er, vermutlich handle es sich um Folgendes: Wir seien unterwegs umgestiegen und dort hätten die Fahrer das Umladen des Gepäcks übernommen, weil es schnell gehen musste. Wahrscheinlich seien wir ohne unser Gepäck in den Bus nach Las Vegas gestiegen und die Rücksäcke mit dem anderen Bus anschließend weiter nach Atlanta gefahren. Wo sie sich als herrenlose Gepäcksstücke schließlich noch befinden müssten. Er werde mit dem dortigen Office telefonieren und wenn es mit rechten Dingen zugehe, sollten unsere beiden Rücksäcke morgen früh gegen sieben Uhr mit dem ersten Bus aus Atlanta hier eintreffen. – Na toll, Atlanta, dachten wir. Atlanta war, statistisch ausgewiesen, in den USA die Stadt mit der größten Anzahl an Mördern im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Hatten wir Tage zuvor irgendwo gelesen.

Doch dann lockerte sich auch unsere Kiefermuskulatur samt der Schulterpartie und wir sagten uns, sollen Atlantas Mörder doch unseren Rucksäcken die Bäuche aufschlitzen und sich die Klamotten und unsere Zahnbürsten unter den Nagel reißen, Hauptsache wir haben unsere nackte Haut gerettet und kommen mit dem Leben davon. Und dürfen obendrein eine Nacht in Las Vegas verbringen, die gar nicht eingeplant war. Und uns nicht einmal einen Cent kostet, denn wir gehen in kein Hotel, kehren nirgendwo ein und landen an keinem Spieltisch. Es ist Mitternacht und draußen auf der Straße hat es noch immer an die vierzig Grad, Las Vegas ist eine Wüstenstadt. Nackt, aber nicht splitternackt haben wir genau die richtigen Kleider am Leib. Orientierungslos, zwei lahmen Nachtfaltern gleich, torkeln wir unter riesigen Leuchtreklamen durchs Neongewitter. Werfen verstohlene Blicke ins Innere vibrierender Spielhöllen. In deren zur Straße hin offen stehenden glitzernden und blinkenden Foyers locken einarmige Banditen die Low Budget Customers an, weiter hinten, stellen wir uns vor, stehen die Roulette-Tische, an denen Vermögen verjubelt werden. Das Eldorado der Zocker und Zockerinnen flimmert uns vor den müden Augen, eine Phantasmagorie, die weder mir noch meiner Schwester unter die Haut geht, spurlos gleitet sie an deren ungeduschter schweißversiegelter Oberfläche ab.

Gegen vier Uhr früh kehren wir ins kalte Licht der Greyhound Station zurück, nur hier und da hängt eine schräge Gestalt in einem der Plastikschalensitze. An jedem zweiten oder dritten Sitz ist seitlich ein kleiner Fernseher montiert, auf dessen Bildschirm irgendein Football, Rugby oder sonstiges Match übertragen wird, eine Atmosphäre zum rammdösig werden. – Zwischen sechs und sieben die ersten Busse. Gegen halb acht schleppen wir uns zum Office hinüber und siehe da, seitlich an der Wand lehnen unversehrt und ganz entspannt unsere beiden Rucksäcke. Von nun an haben sie uns immerhin voraus, eine Nacht in der Mörderstadt Atlanta zugebracht und dieses Abenteuer auch ohne uns heil überstanden zu haben. Doch das Wichtigste für uns, wir haben unser Reisegepäck wieder, unser bewegliches Eigentum.

„Gods own country“ – Verpflichtung oder Wahn

Seit ihren Anfängen und seit sie begannen, den Rest der Welt zu zivilisieren, haben es die Europäer mit dem Eigentum. Eigentum ist das Zentralgestirn ihres Wertehimmels und seine Infragestellung oder der Angriff aufs Eigentum das Kardinalverbrechen. So sehr haben es die Europäer mit dem Eigentum, dass sie sich sogar Gott als einen Eigentümer vorstellen. Zum Beispiel konkret als einen Landeigentümer. Dann ist von „Gods own country“ die Rede und dieses Land soll Amerika sein, präziser die USA. Die dortigen Neueuropäer und gottesfürchtigen Pilgerväter haben es so entschieden. – Eine Wahnidee? Bei keiner geringen Zahl inbrünstig Gläubiger muss man dies fürchten. Und mehr noch die Folgen fürchten, die ihr Wahn zeitigt. Die Rede von Gottes eigenem Land kann allerdings auch anders verstanden werden, als zivilreligiöse Verpflichtung. Nämlich treuhänderisch pfleglich mit diesem fremden Eigentum umzugehen. Und was alles kreucht und fleucht auf ihm, einschließlich der menschlichen „Viehcher“.

Zur Zeit deutet leider vieles darauf hin, dass der Wahn die Oberhand gewinnt. Augenblicklich konkretisiert er sich in der festen Überzeugung, wenn Amerika „Gods own country“ ist, er auch von seinem Eigentumsrecht Gebrauch macht und das Land vor dem Untergang bewahrt, indem er ihm einen politischen Heiland sendet. Sich als nüchterner Beobachter sagen, da zieht in Wahrheit lediglich ein angeschossenes Schlachtross mit einem schnittigen Steeltown Hillbilly gegen ein liberales Elitengewächs in eine Wahlschlacht, wie man es von Amerikas Dollardemokratie doch seit eh und je gewohnt ist und sich sicher sein kann, die „checks and balances“ werden das System wieder irgendwie zurechtruckeln – diese Trostspende (in der immer schon ein gerüttelt Maß an realpolitischem Zynismus mitschwang) könnte sich diesmal als ein böser Irrtum erweisen. Sind doch die früher noch basisdemokratische Energien mobilisierenden amerikanischen Mythen – darunter der vom „stotternden kleinen Jungen aus Pennsylvania, der es bis ins Ovaloffice schafft“ – sind inzwischen so fadenscheinig, dass sie die Wirklichkeit plutokratischer Wirtschaftsmacht und politischer Elitenherrschaft nicht länger verdecken.

Nach diesem augenscheinlichen Obsiegen des religiösen Wahns über das Moment der humanen Verpflichtung auf der ideologischen oder Bewusstseinsebene frage ich mich heute: Waren die beiden Aufbruchsbewegungen der 1960er und frühen 1970er Jahre, das „Civil Rights Movement“ in der politisch-rechtlichen Arena und die „Counter Culture“ auf gesellschaftlichem und kulturellem Terrain, nicht auch schon die letzten Versuche, im großen Maßstab „Demokratie in Amerika“ aus einer rein besitzbürgerlichen Veranstaltung weißer Kolonisatoren doch noch in ein egalitär-demokratisches Projekt aller Bürger zu verwandeln? Die formale liberale Demokratie zu einer substanziellen sozialen Demokratie (die auch Wirtschaftsdemokratie einschließt) fortzuentwickeln? Ein damals über die USA hinaus international ausstrahlender Impuls. Dessen Realisierung freilich in Geist und Tat eine Abkehr von kapitalistischer Weltbemächtigung impliziert hätte. – An die Stelle der ausgebliebenen Revolution trat eine Systemintegration mit erweiterter formalrechtlicher Gleichstellung auf dem Boden kapitalistischer Wettbewerbsverhältnisse und für die Bewerbung um Aufstieg in die politische Herrschaftselite. Bei einer mittlerweile eklatant auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich und einer Spaltung der Bürger in politisch einflusslose Multitude und politisch einflussreiche Eliteangehörige.

Baden in „hot springs“ und weitere heilsame Praktiken

Wie es weiterging nach unserem unfreiwilligen Zwischenstopp in Las Vegas, wohin als nächstes, so genau weiß ich es nicht mehr. War es der von Flaggstaff Arizona aus im Kleinbus mit ein paar anderen Touristen unternommene Ausflug ins Monument Valley? Jeder und jede mit einem Lunchpaket ausgestattet, das zur Hälfte aus der Plastikverpackung bestand, zur anderen aus einem Stück Gummiadler im Wabbelbrötchen. Aber die Monumente! Diese bizarren Riesenskulpturen, die je nach Sonnenstand oder Belichtung rötlich, braun, ocker oder golden. Täuschend echt im Vergleich zum Original, wie man es aus der Werbung kennt. Jede der Figuren besaß einen Namen. Meine Schwester und ich ließen uns vor den „Three Sisters“ ablichten, Brüderlein und Schwesterlein vor ihren drei großen Steinschwestern. Demonstrative Zuflucht zu unserem irdenen Totem, welches uns und unsere Rucksäcke vermutlich auch während des Las Vegas Abenteuers beschützt haben dürfte. Der indianisch mythologische Anklang passt auch deshalb, weil Monument Valley zum Navajo Reservat gehört, dem Fleckchen Eigentum, das die weißen Gotteslandpächter für die unzivilisierten Wilden reservierten, man musste sie ja irgendwo zusammenpferchen.

Ob nun diese Anspielung auf den Siedler Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern oder jener uns vom nächtlichen Las Vegas dargebotene Anflug eines überflussgesellschaftlichen Albtraums – beides konfrontiert mit einem „American Dream“, der sich in einen nightmare verkehrt hat. Mit den offenkundigen Verzerrungen und Entstellungen des amerikanischen Traums wuchs auch ein Bewusstsein von denselben und bei nicht wenigen das Bemühen, dem Übel abzuhelfen. Doch wo lagen dessen tiefste Wurzeln? Musste man nicht ein zutiefst eingeschliffenes, jedoch spirituell verfehltes Weltverhältnis in Frage stellen? Das nach dem Imperativ verfährt, sich die Erde untertan zu machen, ihre Schätze auszubeuten, Privateigentum anzuhäufen und dessen Größe zum individuellen Erfolgsmaßstab zu machen. „Persuit of happyness“ als persuit of success ohne Rücksicht auf Verluste. Mag sich der Besitzindividualismus und sein Erfolgsstreben auch als kollektiver Todestrip herausstellen. – Sollte es sich tatsächlich um eine ideell verursachte, eine bewusstseinsbedingte Systempathologie handeln, dann muss ihr auch mit einem fundamentalen Bewusstseinswandel begegnet werden, mit einer spirituellen Heilung. Dies jedenfalls die Überzeugung einer in den Sixtees sich innerhalb der kapitalistischen Metropolen formierenden Gegenkultur, deren dezidiert spiritueller Zweig bald unter dem New Age Label auftrat (dessen Ankunft als „Age of Aquarius“ schon im Hippiemusical „Hair“ besungen und gefeiert wurde). Ein Treffpunkt solcher Wassermänner und Wasserfrauen lag auch auf unserer südkalifornischen Reiseroute, ein magischer, direkt an der Pazifikküste gelegener Ort.

Esalen Institute heißt das renommierte Therapiezentrum in Big Sur. Wegen der heißen Quellen einstmals ein indianischer Kultplatz, der Ortsname leitet sich vom gleichnamigen Indianerstamm her. Hier laufen wir nun in der Tat splitternackt umher, steigen mit anderen in die mit heißem Quellwasser gefüllten „hot pots“, gemauerte viereckige Bottiche auf einer in Hanglage hoch über der Pazifikbrandung schwebenden Terrasse. Nach ihrem Bad in der warmen Brühe legen sich die total entspannten Körper auf die bereitstehenden Liegen und geben einander im Wechsel die legendäre Esalen-Streichmassage. Die Augenlider sanft geschlossen, die Ohren umschmeichelt vom rhythmischen Rauschen des Ozeans, driften unter den fließenden Streichbewegungen heilender Hände Leib und Seele vereint in den siebten New-Age-Himmel – wie ein altes verschwitztes Linnen, besser noch wie eine lebenslängliche Zwangsjacke, fällt der Dauerstress aus dem „persuit of happyness“ von einem ab. An einem heilsamen Ort wie diesem, so könnte man etwas überspitzt sagen, wo dich gewissermaßen umgekehrt das Glück seinerseits auf Schritt und Tritt verfolgt. Wenn es flankierend zur Freiluftmassage zügig nacheinander zu weiteren Healing-Sessions geht. In Ausdruckstanz, Sensory Awareness, schamanischem Reisen durch innere Welten, gestalttherapeutischer Beziehungsarbeit, die Konjunkturen der gerade angesagten hippen Verfahren lösen einander ab über die Jahrzehnte hin. Wie weit dabei jeweils der Sockel abgetragen wird an Kultur, Gesellschaft und Politik infizierender psychischer Pathologie in jedem Einzelnen von uns, schwer zu sagen.

Heilung des kranken Amerika allenfalls in uns?

Wenn überhaupt, selbst ein solch bescheidener Heilungserfolg in der Psyche von Individuen wird hinsichtlich seiner nachhaltigen Wirksamkeit auf kulturelles, gesellschaftliches und politisches Handeln seitens realpolitisch argumentierender Stimmen angezweifelt. Seit Jahr und Tag bezichtigen sie Meditierende der „Flucht in die Innerlichkeit“, des apolitischen Aussteigertums. Werfen sie in ein und denselben Topf mit der „sanften Verblödung“ einer seit Jahrzehnten im kapitalistischen Kommerz florierenden Esoterik. Wozu sich mittlerweile auch der auf Selbstoptimierung getrimmte Achtsamkeits-Boom gesellt, der pseudospirituelle Fastfoodbetrieb von „Mac Mindfullness“. – 1975 erschien im linksintellektuellen Merve-Verlag das Büchlein „Die Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt“, eine Bestandsaufnahme der US-amerikanischen „Counterculture“ und ihres antikapitalistischen Potentials. Was damals noch in der Schwebe war, scheint heutzutage eine ausgemachte Sache und der Buchtitel müsste so lauten, „Die Healing-Session, die Therapiestunde ist zu Ende, die Krankheit und der Wahn haben gewonnen“.

Die aktuelle Politik unterstreicht dieses niederschmetternde Urteil, „Amerika in den Fängen ökonomischer und sozialer Pathologien“, was sonst, möchte man sagen. Und die übrige „Freie Welt“ eifert ihm nach. Unfriede und Krieg werden als Normalität akzeptiert, befördert und begrüßt. Die kurze Phase der Entspannungspolitik und Abrüstung nach dem Ende der Ost-West-Block-Konfrontation soll Vergangenheit sein, Klimakollaps hin oder her, es wird hochgerüstet und Krieg vorbereitet, was das Zeug halt. Verrückte sind am Werk, heller Wahnsinn auf ganzer Linie. – Nein, die Sechziger waren keine „verrückte Zeit“ im Sinne politischer Pathologie, die damalige Antikriegsbewegung, die Gegenkultur, die Hippies, sie waren nicht verrückt, „love and piece“, Martin Luther Kings Gewaltfreiheits-Pathos, kein politischer Irrweg. Bob Dylan wandte sich zurecht gegen die „Masters of War“, egal auf welcher weltanschaulich politischen Seite.

Rückblickend mögen die zu geringen, zu mutlosen Bemühungen einer „Liebesheilung“ des kranken Amerika und seines weltweit rücksichtslosen Wettbewerb und schrankenkosen Konsum stimulierenden „Way of Life“ misslungen sein, doch wüsste ich nach wie vor keine andere rettende Alternative, als es abermals mit „Love Politics“ zu versuchen. Sich weigern, die tödlichen Spiele in Gesellschaft und Politik mitzuspielen, diese „große Verweigerung“ (von der Herbert Marcuse zu den Achtundsechzigern gesprochen hat) scheint mir auch heute die Bedingung der Möglichkeit einer anderen Welt. Eines vom Existenzkampf und von Überlebensängsten befreiten friedlichen, „pazifizierten“ Daseins. – Beginnen, erfahrbar werden, kann ein solches Dasein bereits hier und jetzt, mitten im katastrophischen Wirbelsturm um uns her. In den Momenten der meditativen Stille, die überhaupt erst die nötige Distanz zum bestehenden Schaffen und Kraft zu dessen Veränderung verleihen. Vom „Zentrum des Zyklons“ sprach John C. Lilly, ein weiterer Spiritus Rector individuell und sozial heilsamer Praktiken und einer der Mitbegründer des Esalen-Institutes im kalifornischen Big Sur.

„A boys best friend is his mother“

Friedvoll und beglückt wie im absolut windstillen Auge des Zyklons fühlen, kann man sich ebenfalls in meditativer Naturbegegnung. Nach ihr stand vor allem meiner Schwester der Sinn im Verlauf unserer Amerikareise. Auch die amerikanische Natur in ihrer sprichwörtlichen Weite ist auf andere Weise „groß“, verglichen mit unserer kleinen europäischen. „River deep, mountain high“, John Denvers „Blue Montana Skys“ oder ein gigantischer Gewitterhimmel bei Sonnenuntergang über der Wüste von Arizona, leuchtend in allen Rottönen, himbeerfarben, magenta, purpur, violett. – Ein Naturschauspiel, das auch unsere Mutter verzaubert hätte, die das Schlimmste befürchtete, als wir ihr in der uns vor aller Unbill in der Welt beschirmenden häuslichen Wohnstube unsere Amerika-Reisepläne eröffneten. „Aber da gibt es doch Wölfe!“ Blankes Entsetzen stand ihr im Gesicht. Aber kann mütterlicher Instinkt so gänzlich in die Irre gehen? Wenn nicht von Wölfen gefressen, könnte uns in Amerika nicht noch anderes Unheil drohen?

Sie meinte es nur gut, war in Sorge um ihren sehbehinderten Sohn, die zwölf Jahre jüngere Schwester würde ihn nicht vor allen Gefahren, zumal den in Amerika und im wilden Westen lauernden beschützen. „The boys best friend is his mother“, wer hatte das noch gleich gesagt? Genau, der Psychopath Norman Bates in Alfred Hitchcoks Thriller „Psycho“. Norman, das Muttersöhnchen. Um sich seine „dear mom“ über ihren Tod hinaus dauerhaft zu erhalten, hat er sie konserviert, sie sitzt als Mumie auf einem Lehnstuhl im Keller. – Ganz schön gestört und ich will meine Mutterbeziehung damit überhaupt nicht vergleichen. Meine Schwester und ich nach Amerika, waren ihr Ängste wirklich so ganz und gar unbegründet?

Man stelle sich nur einmal das Folgende, durchaus nicht vollkommen unrealistische Szenario vor: Irgendwie, weiß der Teufel wie, landen wir auf dem platten amerikanischen Land, selbst in Amerika gibt es 1983 noch keine Navis, in was für einem Kaff sind wir da, die Sonne steht schon tief über dem Horizont. Kein zwielichtiges „Hotel California“, wie es die „Eagles“ in ihrem Song porträtiert haben und in dem sowieso alle Zimmer und Stockbetten belegt wären. Nur ein billiges Motel, der Besitzer überlässt uns das einzige Apartment für die Nacht, keine Ahnung, weshalb er mich an Norman Bates erinnert. Es heulen weder Wölfe noch Schakale, doch die Zikaden zirpen auf eine geradezu unheimlich penetrante Art und Weise, so als müssten sie im Akkord ein Friedhofsgerippe oder eine Mumie zersägen, Chaplins „Modern Times“ im Tierreich. Wir lassen uns nichts anmerken, meine Schwester ist so was von „taff“, wie das erst Jahre später auf Neudeutsch heißt. Sie prüft die Bettwäsche, alles im Apartment zeugt von zwanghafter Reinlichkeit.

Erst lange nach Mitternacht fallen wir beide in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann, stell ich mir vor, dreht sich an der Tür zu unserem Apartment ein Zweitschlüssel im Schloss. Meine Schwester, durch das kaum vernehmbare Geräusch aus ihrem leichte Schlummer geweckt, öffnet kurz die Augen. Auf dem Rücken liegend fällt ihr Blick auf die helle Raute an der Decke, der Schein einer Laterne, das Rollo am Fenster ist nicht heruntergelassen. Als schaue sie auf eine Leinwand, sieht meine Schwester im nächsten Augenblick wie sich ein Schatten über die Raute schiebt. Ein Schatten, aus dem ein Arm ragt, an dessen Ende sie etwas Langes und Spitzes erkennt.

Redaktionelle Notiz: Fortsetzung folgt, in der enthüllt wird, was es mit dem unheimlichen Schatten auf sich hat und was sich unmittelbar darauf an Entsetzlichem zugetragen hat.

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Stephan Laux
04.09.2024 10:00

Nicht nur diese Reihe von Hans Willi Weis wäre eine Veröffentlichung in Hörbuch-, Buch- oder e-book-Form wert! Ich freue mich auf die Fortsetzung.