Villmar - Weyer (Kobinet) Im Allgemeinen wird davon abgeraten, Bären aus dem Winterschlaf aufzuschrecken. Einen Kolumnisten aus seiner Sommerpause zu reißen, kann aber auch zu einem Problembärverhalten führen.
Die Stadtverwaltung Limburg hat auch in diesem Jahr einen Tag der Selbsthilfe ausgerufen. Am 21. September findet dieser Tag, in diesem Jahr, unter dem Motto „Sei dabei – Limburg barriereFrei“ statt. Dieses Motto hat Stephan Laux veranlasst, seine Sommerpause kurz zu unterbrechen.
Seit ich mich auf diese Behinderten Community eingelassen habe, sind Urlaube auch nicht mehr das, was sie mal waren. Mein Sinn für Barrierefreiheit ist seitdem derart geschärft, dass ich jeden Campingplatz daraufhin untersuche und vor jeder Bäckerei, in der ich mir das morgendliche Croissant organisiere, die Treppenstufen zähle. 2 Wochen Frankreichurlaub haben den Eindruck hinterlassen, dass unsere Nachbarn ein Stück weiter beim Thema Barrierefreiheit sind. U.a. informiert jeder von mir in die engere Wahl gezogene Campingplatz darüber, ob und wie barrierefrei er ist. In der Umsetzung, wirkt das manchmal etwas improvisiert und in Jahre gekommen, was ein Indiz dafür sein könnte, dass man sich schon länger mit dem Thema beschäftigt.
Die Stadt Limburg an der Lahn ist da, nach meinem Eindruck, schon ziemlich weit. Die Homepage der Domstadt bietet z.B. eine Vorlesefunktion, eine teilweise Übersetzung in einfache und Gebärden Sprache und eine visuelle Hilfe für Sehbeeinträchtigte an. Dies alles schon auf der Startseite. Ohne umständliche Suchen. https://www.limburg.de/ . Mich würde interessieren, wie wirklich betroffene Menschen die Seite wahrnehmen? Bitte nutzen Sie die Kommentar-Funktion dieses Beitrages für ein Feedback!
Limburg scheint über einen gut funktionierenden, hoch engagierten Behindertenbeirat und einen kooperierenden Bürgermeister zu verfügen! Welch ein Glück für die Kreisstadt! Ich kenne Aktivist*innen aus der Szene, die sich die Finger wund tippen, um Reaktionen auf Ihre konstruktiven Anregungen in Stadt- und Kreisverwaltungen oder anderer Behörden, Krankenkassen oder der lokalen Presse zu erbetteln.
Ignoranz ist auch eine Form der Diskriminierung!
Ich selbst wurde schon im April für die Veranstaltung in Limburg im September angefragt. Mehrere meiner schriftlichen, konstruktiven Vorschläge für mein Mittun, etwa durch die Teilnahme an der Podiumsdiskussion oder der Vorstellung meines und des Buches von Ottmar Miles Paul wurden ignoriert.
Wie barrierefrei Limburg nun tatsächlich ist, davon können sich Betroffene und Interessierte z. B. am Tag der Selbsthilfe selbst überzeugen. Der Flyer, der die Veranstaltung ankündigt, dürfte keine Hilfe dabei sein. Der Inhalt und der Lageplan informieren weder über einen barrierefreien Zugang noch über Behindertentoiletten, eine barrierefreie Anfahrt, entsprechende Parkplätze oder Voraussetzungen für Begleit- oder Assistenzhunde.
Vielleicht ist hier der Zusammenhang der Veranstaltung zwischen Barrierefreiheit und Selbsthilfe zu sehen.
Selbsthilfegruppen und Initiativen gründen sich nämlich immer dann, wenn Behörden, Politik und Krankenkassen versagen. Oder ihrer sozialstaatlichen Pflicht nicht nachkommen. Vielleicht wird der Tag der Selbsthilfe deswegen, laut Flyer, auch vom Zentralverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und allen führenden Krankenkassen gefördert?
Was würde die Politik, Behörden und Krankenkassen wohl ohne Selbsthilfegruppen und Initiativen tun? Ihre Arbeit?
Ich kenne auch aus eigener Selbsthilfeerfahrung etliche Fälle, in denen solche Ehrenamtler*innen den Personalmangel, aber auch fehlendes Engagement und Fachwissen solcher Behörden kompensieren.
50 solcher Selbsthilfegruppen werden sich am 21. September in Limburg vorstellen. Für mich war die Lebenshilfe immer die „Mutter aller Selbsthilfegruppen“. Gründete sie sich doch 1958 durch eine Initiative von betroffenen Eltern. Leider ist die Lebenshilfe, genauso wie andere große Einrichtungen der Eingliederungshilfe aus der Region, nicht vertreten. Wieder einmal spielt der Personenkreis von kognitiv beeinträchtigten Menschen so gut wie keine Rolle bei einer Veranstaltung, die sich Inklusion auf die Agenda schreibt.
Was mittlerweile auf keiner „Inklusionsveranstaltung“ wie auch bei der in Limburg fehlen sollte, ist ein Inklusion-Erlebnisparcours. Der laut Ankündigung „eine faszinierende Gelegenheit bieten soll, die alltäglichen Herausforderungen und Barrieren hautnah zu erleben.“
Wie bilden sich wohl die Lebensrealitäten von kognitiv beeinträchtigten Bewohner*innen von Sondereinrichtungen in einem solchen Parcours ab? Und besteht nicht die Gefahr, dass solch ein Parcours die tatsächlichen und permanenten Herausforderungen für beeinträchtigte Menschen verharmlost? Und ist das alles wirklich so faszinierend?
(Antworten von Betroffenen gerne in den Kommentaren)
Muss man Barrierefreiheit erklären? https://kbnt.org/sciu679
Vielleicht wird die Frage Thema der Podiumsdiskussion. (An der ich nicht teilnehmen darf 🙁 )
Lustig wird’s auf jeden Fall! Martin Fromme, der bekannte Comedian, tritt auf. Allein deswegen lohnt sich schon ein Besuch. Und natürlich wird die Veranstaltung ein Erfolg. Ihr bleibt gar nichts anderes übrig!
Das wünsche ich ihr trotz alledem. Denn mit Sicherheit steckt auch hier unglaubliches Engagement von den Organisator*innen und Ehrenamtlichen hinter diesem Tag.
Bis dahin ziehe ich mich wieder auf meine Hängematte zurück und lasse mich noch etwas ignorieren. 😉
Ich wünsche allen noch einen barrierefreien Restsommer!
Ich danke Stephan Laux für seine Kolumne und die klaren Worte zur Veranstaltung „Seidabei – Limburg barriereFREI“. Es gibt jedoch einige weitere Punkte, die in der Kolumne nicht angesprochen wurden, die aber ebenfalls einer kritischen Betrachtung bedürfen.
Digitale Barrierefreiheit:
Die Bereitstellung von Veranstaltungsinformationen als JPG-Dateien (durch Selbsthilfegruppen) ist nicht barrierefrei. Solche Dateien können weder von Suchmaschinen indiziert noch von Screenreadern gelesen werden. Menschen mit Sehbehinderungen oder Blinde werden dadurch ausgeschlossen. Alle Informationen sollten in barrierefreien Formaten wie HTML oder PDF bereitgestellt werden.
Nachhaltigkeit der interaktiven Elemente:
Die Begrifflichkeit „Erlebnisparcours“ vermittelt eher eine „Freizeit“-Komponente. Solche Erlebnisparcours könnten dazu neigen, die tatsächliche Komplexität und Vielfalt der Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu vereinfachen oder zu verharmlosen. Das Erleben der Barrieren für einen kurzen Zeitraum kann niemals die kontinuierlichen Herausforderungen und die tiefgreifenden Lebenserfahrungen behinderter Menschen vollständig abbilden und stellt für mich die Nachhaltigkeit solch eines Angebots sehr in Frage.
Ein breites Spektrum, aber zu wenig Fokus:
Viele der teilnehmenden Gruppen haben keinen direkten Bezug zur Barrierefreiheit. Die Folge? Die Veranstaltung wirkt unübersichtlich und verwässert den eigentlichen Fokus. Die Vermischung von Selbsthilfe und Barrierefreiheit ohne klare Differenzierung kann zu Unklarheiten führen. Ein „Tag der Selbsthilfe“ sollte sich auf die Unterstützung und Vernetzung von Selbsthilfegruppen konzentrieren, während „Seidabei – Limburg barriereFREI“ das Thema Barrierefreiheit und Inklusion adressieren sollte.
Zeitliche Begrenzung – ein Hindernis für tiefere Gespräche:
Die Veranstaltung findet an nur einem Tag und innerhalb eines engen Zeitrahmens statt. Dies führt zu einer Überlastung des Programms und lässt wenig Raum für tiefere Gespräche und Vernetzung. Eine Ausweitung auf mehrere Tage könnte hier Abhilfe schaffen und den Teilnehmern mehr Zeit für Interaktionen bieten.
Einbindung politischer Entscheidungsträger:
Die Einbindung politischer Entscheidungsträger und Vertreter von Regierungsbehörden ist nicht ausreichend. Ihre aktive Teilnahme könnte helfen, politische Unterstützung für Inklusionsmaßnahmen zu mobilisieren und langfristige Veränderungen anzustoßen. Dies wäre eine wertvolle Ergänzung zur Veranstaltung und würde ihre Relevanz erheblich steigern.
Ich möchte betonen, dass Limburg in Sachen Barrierefreiheit auf einem guten Weg ist und großartige Arbeit leistet. Es geht hier nicht darum, per se zu kritisieren, sondern darum, Schwachstellen aufzudecken und Verbesserungspotential aufzuzeigen. Ich hoffe, dass diese Kritikpunkte berücksichtigt und umgesetzt werden, damit „Seidabei – Limburg barriereFREI“ in Zukunft nicht nur ein gut gemeinter Event bleibt, sondern einen echten Unterschied macht.