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Extrakolumne Fortsetzung Empowerment ohne basisdemokratische Machtumverteilung ist nur die halbe Miete und Inklusion ohne Revolution eine Illusion

sitzt auf einer Bank am Wald
Schutz-und schonungsbedürftiger Kolumnist in ebensolcher Natur
Foto: Hans-Willi Weis

Berlin (kobinet) Die erste Folge endete mit Krauthausens Ankunft im „Hamsterrad“. Zuvor erfuhren wir von Amy Zayed und Verena Bentele, man muss als behinderter Mensch „Eier oder Eierstöcke“ haben sowie eine „hohe Resilienz“, um beruflich oder karrieremäßig voranzukommen. Worauf sich mir die Frage stellte, was mit der Mehrzahl von uns Behinderten ist, die so forsch und widerstandsfähig nicht sind. Und auf die Schnelle dazu auch nicht empowert werden können. Ob für sie das neoliberale Haifischbecken die Art von Lebens- und Arbeitswelt darstellt, in die sie inkludiert werden möchten. Die Kolumne schloss mit meiner Frage, ob wir uns nicht Gedanken über einen behindertenpolitischen Perspektivwechsel und eine grundsätzliche gesellschaftliche Alternative machen sollten.(Siehe hier)

Die Fortsetzung geht von der These aus: Wir sollten uns behindertenpolitisch nicht schon am Ziel wähnen, sobald unsere Forderung nach Gleichstellung und Inklusion in ihrer unmittelbaren Bedeutung von Barrierefreiheit und Ende der Diskriminierung einmal durchgesetzt sein wird. Vielmehr sollten wir uns darüber hinaus für eine basisdemokratische Machtumverteilung in der Gesellschaft einsetzen. Was für eine „Revolution“ der Arbeits- und Lebensverhältnisse mir dabei vorschwebt, darum geht es in dieser Folge.

Revolution gegen Hamsterrad und Haifischbecken, für gerechte Teilhabe, Vielfalt und zwischenmenschliche und mitgeschöpfliche Rücksichtnahme

Partizipation, Diversität, Respekt – klingt erst einmal nicht wild, da werden viele, ja fast alle zustimmen. Okay, aber auch dann, wenn ich hinzufüge, diese Wertetrias muss begrifflich radikal gedacht und auf konsequente Weise in gesellschaftliche Wirklichkeit umgesetzt werden? Radikal heißt bis an die Wurzel, mit der hier das menschliche Verhalten und die gesellschaftlichen Verhältnisse angesprochen sind. Die Verwirklichung gerechter Teilhabe, von Vielfalt und zwischenmenschlicher und mitgeschöpflicher Rücksichtnahme käme unter solchem Vorzeichen einer veritablen Revolution gleich, einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und gängiger Praktiken menschlichen Verhaltens. Gleichstellung und Inklusion behinderter Menschen und chronisch Kranker in Lebensalltag und Beruf würden wohl erst dann zu einer weitestgehend gelebten Wirklichkeit werden.

Von einer „Revolution für das Leben“ spricht die Sozialphilosophin Eva von Redecker in einem meinen behindertenpolitischen Überlegungen geistesverwandten gedanklichen Zusammenhang. „Pflegen statt beherrschen, regenerieren statt erschöpfen, teilhaben statt verwerten“, sind von ihr gebrauchte Gegensatzpaare, bei welchen das Bejahen und Praktizieren des positiven Pools an die „Befreiung von kapitalistischer Herrschaft“ gebunden sei. Denn „Kapitalismus zerstört das Leben“, so Redecker. Lebenserhaltung und Schöpfungsbewahrung verlangen nach dem Gegenteil eines kapitalistisch destruktiven Selbst-und Weltverhältnisses (wie es sich im neoliberalen Habitus niederschlägt, von dem im Behindertenzusammenhang in der vorigen Kolumne ausführlich die Rede war). Darum muss, so sehe ich es, unsere behindertenpolitische Mobilisierung für die (in den Worten der Sozialphilosophin gesprochen) „Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“ gleichzeitig ein antikapitalistischer Kampf sein.

Es gibt Gegensätze, an deren sprachlicher Deutlichkeit schon ablesbar ist, dass es ihre negative Seite am besten ganz zu meiden gilt (wie die komplette Selbsterschöpfung im Burnout als dem Gegenteil von Selbstverwirklichung). Andere Gegensätze lassen erkennen, das im negativen Pool entweder ein legitimer Kern enthalten ist oder überhaupt beide Pole ein relatives, komplementäres Recht für sich beanspruchen dürfen oder wo es schlicht um Ausbalancierung bzw. Ausgewogenheit geht. Wie bei dem von der Schriftstellerin und Feministin Marlene Streeruwitz formulierten Gegensatzpaar „Kosmos der Macht“ und „Kosmos der Pflege“, das mir für unsere Zwecke äußerst aufschlussreich und dienlich erscheint. In kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen, in der neoliberalen Wettbewerbs- und Aufstiegsorientierung, beherrscht der maskulin akzentuierte Pool der Macht einseitig und ungut den feminin akzentuierten der Pflege. Kampf, Überwältigung, „Eier haben“, aggressives und rücksichtsloses Durchsetzungsverhalten sind vorherrschend, sie dominieren, verdrängen, unterdrücken, marginalisieren „weiche“ Qualitäten wie Mitgefühl, Fürsorglichkeit, Behutsamkeit, Sanftmut und etliche mehr. Diese letzteren sind kultivierende oder Kulturpraktiken im engeren, authentischen Sinne, bedeutet das aus dem Lateinischen kommende Wort „Kultur“ doch „Pflege“. – Wäre es daher für uns Behinderte, die wir im besonderem Maße auf Rücksichtnahme angewiesen sind, nicht klüger wie uns fit machen zu wollen für einen „ersten Arbeitsmarkt“, auf dem die Aggressiven und die Starken das Heft in der Hand haben, uns ganz grundsätzlich für eine Kultur und Gesellschaft zu engagieren, in welcher der „Kosmos der Pflege“ und mithin der Schutz von Schwächeren und Vulnerablen strukturell dem „Kosmos der Macht“ nicht nur gleichrangig, sondern vorrangig wäre? Eine Gesellschaft, ein Lebensalltag und eine Arbeitswelt also, in der die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Macht der heute Mächtigen entschieden und entscheidend abgebaut wäre und basisdemokratisch umverteilt zugunsten der jetzt Ohnmächtigen.

Ein Fitnesstraining für den regulären Arbeitsmarkt gefällig? Nein danke!

Ganz schön utopisch? Ungefähr so utopisch wie die Vorstellung, eines Tages tummeln sich behinderte Menschen und chronisch Kranke in nennenswerter Zahl im Haifischbecken der neoliberalen Arbeitswelt. Zugestanden, es gibt auf dem sog. ersten Arbeitsmarkt gemäßigte Zonen, wo auch ich Behinderte ermutigen würde, sofern ihnen der Sinn danach steht, dort beruflich Fuß zu fassen, ihr Glück zu versuchen, Karriere zu machen. Wie ich denn auch keineswegs jeden Wettbewerb in Bausch und Bogen verurteile und berufliches Kräftemessen mit einem moralischen Verdikt belege. – Betrachtet man nämlich Wettbewerb und Kooperation, kompetitiv-individuelle berufliche Aufstiegs- und Erfolgsorientierung auf der einen Seite und kooperativ-gemeinschaftliche Orientierung der Einzelnen am wirtschaftlichen Erfolg und Vorankommen des Kollektivs andererseits, wiederum als polares Begriffspaar, so hat das eine wie das andere seine relative Berechtigung. Die Frage der Ausgewogenheit ist ausschlaggebend für eine gedeihliche und nicht menschenausbeuterische und naturzerstörerische Wirtschaft und Gesellschaft. Da allerdings hapert es seit langem gewaltig hierzulande und auch im globalen Maßstab. Die Abschaffung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse, die „Revolution für das Leben“, würde dem Pool der Kooperation, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität ein leichtes Übergewicht verschaffen und den der Konkurrenz, des individuellen Fortkommens und der egoistischen Existenzsicherung entsprechend einhegen. Und damit den nicht nur uns Behinderten hilfreichen und freundlichen „Kosmos der Pflege“ aus seiner Unterordnung unter die teils herrschaftsegoistischen und tendenziell kulturfeindlichen Interessen des „Kosmos der Macht“ befreien.

Wären die mit ihrem Namenskürzel „WfbM“ bereits erwähnten Werkstätten für behinderte Menschen – behindertenaktivistisch subversiv und mit antikapitalistischer Stoßrichtung gedacht – nicht ein naheliegendes, geradezu sich anbietendes Übungsfeld zum Ausprobieren von alternativen Ansätzen kooperativ-solidarischen Arbeitens? Mit besonderer arbeitsorganisatorischer Berücksichtigung von Kriterien des „Kosmos der Pflege“, angefangen bei dem Prinzip „Entschleunigung statt Arbeitshetze“ bis zu dem, was einem an menschenfreundlicher Umgestaltung konkreter Arbeitsprozesse, an „Humanisierung der Arbeitswelt“, einfällt, hört man sich aufmerksam und einfühlsam Nele Dehnenkamps Rundfunkfeature über Werkstätten an. (https://www.swr.de/swrkultur/doku-und-feature/foerderbedarf-arbeitsmoeglichkeiten-fuer-menschen-mit-behinderung-feature-2024-04-19-100.html)

Die Behindertenwerkstätten zu Pionierstätten für ein „anders arbeiten und leben“ umfunktionieren, sie proaktiv für Gehversuche einer beginnenden „Revolution für das Leben“ umwidmen – warum die Provokation dieses Gedankens nicht einen Moment lang auf sich wirken lassen. Er provoziert, nehme ich an, sowohl diejenigen, die in der Sondereinrichtung einstweilen die beste Lösung sehen für betrieblich wenig Belastbare und bei Arbeitsprozessen Unterstützungsbedürftige einen beruflichen Schonraum bereitzustellen, der einigen der Betroffenen sogar ein gewisses Geborgenheitsgefühl schenkt. Wie er auch diejenigen provoziert, die auf der Erfüllung der ursprünglichen Aufgabenstellung dieser Sondereinrichtung bestehen, behinderte Menschen zur Ausübung einer regulären Berufstätigkeit vorzubereiten und zu befähigen. Und die damit einmal mehr dem „Kosmos der Macht“ arbeitsweltlich und beruflich den Vorrang und die Oberhoheit einräumen.

Woher das Provozierende jenes Gedankens? Vermutlich daher, weil einem bei der Überlegung, Behindertenwerkstätten einmal als humane Arbeitsalternative konzeptionell anders zu denken, um so mehr die Härte und nicht selten Gnadenlosigkeit in weiten Teilen unserer Arbeits- und Berufswelt bewusst wird. Müllwerker und Bauarbeiter sind mit knapp über sechzig selbstredend „kaputt“, eine verdinglichende Zustandsbeschreibung, die bei rentenpolitischen Diskussionen keinerlei Entrüstung auslöst, ebenso wenig wie die Feststellung, Pflegekräfte in Krankenhäusern sind nach so und so vielen Berufsjahren „verschlissen“. Genau so „normal“ und unabänderlich, dass Paketlieferanten sich unter hohem Zeitdruck an ihren Lasten abschleppen und Pizzaboten und sonstige Kurierdienstler Tag für Tag, Stunden über Stunden sich die Hacken ablaufen. Man muss sich gar nicht gruselige Schätzungen zu Gemüte führen wie die von David Graber, dreiviertel aller Jobs seien heute sinnentleerte „Bullshit Jobs“. Oder eine Meldung wie die, wonach die Zahl der Suizide höher ist als die der Unfalltoten und der Mord- und Totschlagsopfer zusammen (auch wenn lediglich ein Teil davon sich dem Elend der Arbeitswelt wird zuschreiben lassen). – Im Bewusstsein einer derartigen Realitätsabgleichung dürfte es einem einigermaßen schwerfallen, am Postulat festzuhalten, Behinderte in der Sondereinrichtung „Werkstatt“ durch ein entsprechendes Fitnessprogramm für den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt berufspraktisch vorzubereiten und mental zu empowern. Wie dies die Europaparlamentarierin Katrin Langensiepen (selber körperbehindert) unverdrossen tut (ohne zum allgemeinen Arbeitsmarkt über dessen allgemeinen Ausbeutungscharakter mit seinem Menschen- und Naturverschleiß ein Wort zu verlieren). Und in Nele Dehnenkamps Werkstätten-Feature fordert sie, „wir müssen wegkommen vom Schutz- und Schongedanken“, denn der bedeute „am Ende des Tages Ableismus“.

Pünktlich am 5. Mai, zum Europäischen Protesttag, schlägt eine Expertin der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung um 7 Uhr 15 im Deutschlandfunk-Gespräch in die gleiche Kerbe. Nachdem sie sich ganz zurecht gegen die WfbM als ein „unhaltbares“ weil ausbeuterisches „Parallelsystem“ ausgesprochen hat, dreht sich das Gespräch sogleich wieder um die „Eingliederung“ in den allgemeinen Arbeitsmarkt. „Reduzierte Belastbarkeit, geringere Leistungsfähigkeit, längere Fehlzeiten von Menschen mit Behinderung“ tut sie kurzerhand als „Stereotype“ und als bloße „Befürchtungen“ ab. Gleichzeitig kein Wort der Arbeitsmarktforscherin darüber, was in punkto humane Arbeitswelt auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ganz generell im Argen liegt. „Humanisierung der Arbeit“, die nur allzu berechtigte DGB-Forderung aus dem vergangenen Jahrhundert ist gleichsam auf Geheiß des allen aufgezwungenen Neoliberalismus-Regimes in der Mottenkiste verschwunden. Heute heißt das Reglement in der Arbeitswelt, keine Gnade, für niemand. Rare Ausnahmen einiger privilegierter Arbeitsplätze (z.B. in selbstbestimmten Nischen des kulturell-kreativen Sektors) bestätigen die Regel.

Der Werkstättenbonus: Arbeitsplatz ohne Leistungszwang und soziale Lebensmitte der Beschäftigten

Müllwerker, Bauarbeiter und Paketeschlepper zählen sicher nicht zu den favorisierten Berufswünschen behinderter Menschen, so wenig wie Raul Krauthausen Dachdecker werden wollte. Stimmt, entkräftet jedoch meine anders akzentuierte Argumentation nicht. Aber anstatt gemeinplätzliche und dennoch folgenlos bleibende Floskeln zu wiederholen wie, „man muss halt schauen, dass man dann auch alle mitnimmt“ (so nochmals die Arbeitsmarktforscherin), warum nicht auch an dieser Stelle die Maxime beherzigen, „nichts über uns ohne uns“ und den in den Werkstätten Arbeitenden einmal genau zuhören: „Sag mal sind die verrückt, dann haben wir ja das Problem wie früher,“ so eine mehrfachbehinderte Mitarbeiterin der Berliner Mosaikwerkstätten, die dort ihr halbes Leben zugebracht hat, gefragt, wie es für sie wäre, würden die Werkstätten aufgelöst und alle auf dem regulären Arbeitsmarkt untergebracht. „Mosaik hat sich ja aus dem Grund 1965 gegründet, damit halt Leute, die nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten können, einfach mal ’nen Platz haben, wo sie in Gesellschaft sind, wo sie nicht alleine sind, wo sie nicht zuhause sitzen. Nicht alle, die in einer Werkstatt arbeiten, wollen oder können auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten.“ – Ein lernbeeinträchtigter Mitarbeiter aus der Wäscherei sagt, „hier hat man nicht so viel Stress wie in einer normalen Wäscherei, das würd ich nicht durchhalten, wenn man da im Rekord arbeiten muss“. Und ein gelernter Modenäher, der an Epilepsie leidet, äußert, „man hat ’nen gesicherten Arbeitsplatz“ und er fügt hinzu, „also ich fände es richtig gut, wenn man den Mindestlohn einführen würde“.

Interessant auch, was die Minderheit der Werkstattbeschäftigten an Erfahrungen berichtet, die es auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben oder sich auf dem Sprung dorthin befinden. Wo sie umgekehrt ein hohes Arbeitstempo und ein hohes Stresslevel erwartet und sie keinen gesicherten Arbeitsplatz haben. Wo sie vielmehr Leistungszwang und Leistungsdruck ungemindert und auf sich selbst gestellt ausgesetzt sind. „Ein Knochenjob“, aber es gehe, sagt einer, der nun als reguläre Pflegekraft in einem Pflegeheim arbeitet und anschaulich schildert, was es ihm an Lernaufwand, Eigeninitiative und Angstüberwindung abverlangt hat. Als einzelne am neuen Arbeitsplatz stark sein und kämpfen müssen, nachdem man sich auf den Weg dorthin von den bürokratischen Mühlen der Arbeitsagentur nicht hat kleinkriegen lassen – ich bin skeptisch, ob den Betreffenden, die es so schließlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geschafft haben, am Ziel all ihrer Mühen ein Spielraum bleibt für „Selbstausdruck“ und „Selbstverwirklichung“ (um an das Versprechen zu erinnern, das auch die nicht aus einer Sondereinrichtung kommende Amy Zayed zu ihren Anstrengungen motiviert hat). – Atmosphärisch etwas davon spürbar (von der beruflichen Wunscherfüllung „kreativer Selbstausdruck am Arbeitsplatz“) wird einzig gegen Ende des Features am Beispiel einer Artistin mit Behinderung, der es gelungen ist, sich eine Festanstellung mit Arbeitsassistenz (finanziert durch das gesetzlich verankerte Budget für Arbeit) beim regulären Arbeitgeber „Zirkus Sonnenstich“ zu erkämpfen. „Ich habe Verantwortung, Respekt gegenüber meinen Arbeitskollegen und das ist das Tolle“, so hörbar angetan von ihrem Job die neue reguläre Mitarbeiterin, für die ihre Arbeit beim Zirkus ein Traumjob ist, sie kann andere Menschen unterstützen, sich weiterentwickeln und ihre Künste auf der Bühne vor Publikum präsentieren.

Träger des inklusiven Zirkusprojekts ist das „Zentrum für bewegte Kunst“. Im Klartext, wir haben es mit einem subventionierten und folglich untypischen Betriebsprojekt innerhalb kapitalistischer Rahmenbedingungen zu tun. Wo Kooperation und harmonisches Zusammenspiel der Mitarbeitenden für ein gutes Betriebsergebnis (Bühnenauftritt der Artisten) von weitaus größerem Belang ist als individuelle Wettbewerbsorientierung und Karriererivalität zwischen den Beschäftigten. Das gerade produzierte Stück des Zirkus heißt „Journey to Mimoto“, das japanische Wort für Identität und die Feature-Autorin kommentiert: „Die Ensemble-Mitglieder mit Trisomie 21 gehen in ihrem Stück auf die Suche danach, nach dem, was sie sind und was sie gut können“ und sie schließt mit dem O-Ton des Projektleiters, „die Idee zu dem Projekt ist nicht aufgrund einer künstlerischen Auseinandersetzung entstanden, sondern es ist klar geworden in unserem beruflichen Qualifizierungsprojekt, dass es die Menschen einfach sehr stärkt, wenn sie ihren Beruf ausüben, wenn sie wissen, wer sie sind und was ihr Kraftzentrum ist“. – Unterm Strich also ein betriebliches und berufliches Ausnahmeszenarium, leider nicht verallgemeinerbar mit Blick auf die Masse der Stellenangebote auf dem ersten Arbeitsmarkt. Denn dort regiert unerbittlich das Wirschaftlichkeitskriterium (im wahrsten Sinne des Wortes auf Kosten des Kriteriums kreative Selbstverwirklichung). Wirtschaftlichkeit im Kapitalismus meint privatwirtschaftliche Rentabilität und deren Maßstab heißt Gewinn- bzw. Profitmaximierung. Ein zwar betrieblich kollektiv erwirtschafteter Profit, der aber privat- und eigentumsherrschaftlich angeeignet wird und bei dessen Wiederverwendung oder Reinvestition die Beschäftigten (die eigentlichen Reichtumsproduzenten) nichts zu sagen haben und ihre Lebens- und Selbstverwirklichungsinteressen so gut wie keine Rolle spielen.

Die ableistische Wunde heilen oder wie als behinderter Mensch seinen Selbstwert zurückgewinnen und stabilisieren

Die blinde Musikjournalistin Amy Zayed rechne ich (so mein Eindruck nach dem Hören ihres Radiofeatures) zu jener Minorität unter uns Behinderten, die nicht (oder jedenfalls nicht in einem schwerwiegenden Maße) an einem defizitären Selbstwertgefühl laboriert. Weshalb sie selbstbewusst für sich in Anspruch nimmt „nicht geschont“ zu werden, nicht aufgrund von Behindertenförderung „bevorzugt“ zu werden, sondern „nach den gleichen Bedingungen“ beurteilt und behandelt zu werden wie Nichtbehinderte. Ihrer Selbstauskunft nach versteht sie sich als eine mit „Eigensinn“ und „Ehrgeiz“ ausgestattete Behinderte und bewegt sich mit dem erforderlichen Durchsetzungswillen und der notwendigen Frustrationstoleranz erfolgversprechend und chancenreich in ihrem medialen Teilsegment auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Und setzt sich damit, behaupte ich, gut gerüstet und ohne daher ein Wort darüber verlieren zu müssen eben jenen rauhen Witterungsverhältnissen auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt und seinen herausfordernden Jobbedingungen aus, denen sich die Majorität behinderter Menschen und chronisch Kranker nicht gewachsen fühlt. Woran solche, die es bereits versucht haben, gescheitert sind, denen sie sich kein weiteres Mal aussetzen möchten, denen sie sich nicht ohne Grund verweigern.

Tun sie nicht Recht daran? Denn was steht ihnen in der „normalen Arbeitswelt“ bevor? Was bekommen sie bereits bei der Vorbereitung, in der Fitmachphase, zu spüren? Wo man das Programm „Fördern und Fordern“ auf sie anwendet. Dieses janusköpfige Wechselwesen aus Ünterstützungsversprechen und Sanktionsandrohung, Zuckerbrot und Peitsche altmodisch gesprochen. Die schon arbeitsmarktregulär und medienbetrieblich inkludierte Amy verlangt sogar ausdrücklich, man möge sie in ihrer beruflichen Tätigkeit „fordern“. Womit sie natürlich meint, man fühlt sich von einer Arbeit unterfordert, wenn diese langweilig, monoton, uninteressant, stumpfsinnig ist. Allerdings läuft das Fordernde kapitalistischer Arbeits- und Betriebslogik in der Regel nicht auf die Überwindung dieser Art von Unterforderung hinaus, indem sie den Beschäftigten eine interessante, spannende, abwechslungsreiche Tätigkeit offeriert. Vielmehr bedeutet Fordern gewöhnlich in die Mangel nehmen, Zurechtstutzen, die letzten Reserven aus der Ressource Arbeitskraft herausholen, bis zur Erschöpfung.

Abgesehen davon, dass das Risiko oder die Wahrscheinlichkeit von Selbstausbeutung oder Scheitern und Selbsterschöpfung als Endresultat für Behinderte ein Ankommen auf dem ersten Arbeitsmarkt und beharrliches Bemühen auf demselben Fuß zu fassen, einmal mehr zweifelhaft, ja selbstschädigend und sinnlos erscheinen lässt: Dieses Trimm-Dich-Programm in Ehrgeiz und Fokussiertheit zur Erlangung kapitalistischer Arbeitsmarkttauglichkeit geht überdies rabiat hinweg über die für ein humanes Arbeiten und Leben mindestens gleichermaßen wichtigen Eigenschaften oder Fähigkeiten. Nämlich Loslassen, Entspanntheit, Muse, dem Gegenpol zu Ehrgeiz, Strebsamkeit, Anstrengung sowie Öffnen und Weiten des Blickhorizonts als dem Gegenpol zu Fokussiertheit und dem bornierten Starren auf ein einziges Ziel. Jene rezeptiven bzw. empfänglichen, sanften und nachgiebigen Qualitäten (die sich primär dem feminin akzentuierten „Kosmos der Pflege“ verdanken) wären heute aber nötiger denn je, um der Verwilderung und Raserei des wachstumsorientierten kapitalistischen Wirtschaftens und einem destruktiven besinnungslosen Konsumieren (inklusive des Verbrauchs von Menschen und Natur) Einhalt zu gebieten oder wenigstens ein zivilisierendes Element entgegenzusetzen.

Mit ihm sind wir zugleich bei jenem Element, das ich wie kein anderes für geeignet halte, die ableistische Wunde behinderter Menschen zu heilen. Die Selbstwert-Wunde, die ihnen eine ableistische Gesellschaft geschlagen hat mit ihren expliziten und impliziten oder subtilen Abwertungen, mangelhaft zu sein, weniger wert und nützlich als normale, nicht behinderte Menschen. Das ihnen wie mit einem Stempel Aufgedrückte oder auch nur stillschweigend vermittelte Defizitäre ihres Daseins und Wesens (ob in der Dimension „Aussehen und Verhalten“ oder „Tauglichkeit und Leistungsfähigkeit“) kann nur auf dem Weg einer dauerhaft gegenteiligen Erfahrung einer ihnen entgegengebrachter Wertschätzung wieder von ihnen genommen und sozusagen aus der Welt geschafft werden. Durch Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Anerkennung ihres Soseins und Andersseins. Ohne wiederum an die Bedingung von „Anders-Werden-Müssen“ und „Leistungserbringung“ geknüpft zu sein, also gewissermaßen bedingungslos.

Allein in einem nicht fordernden, nicht zu Leistungsvergleich und Steigerungsverhalten zwingenden Raum mit seiner menschenfreundlich akzeptierenden und bedingungslos wertschätzenden Atmosphäre kann – gerade auch, wenn dies durch eine lebensgeschichtlich nachholende Entwicklung geschehen soll wie bei in ihrer Würde verletzten Menschen mit Behinderung – ein grundlegendes Selbstwertgefühl und ein basales Selbstbewusstsein entstehen, wachsen und gedeihen. Produzieren, gleichsam aus dem Boden stampfen lässt es sich nicht. Wo die ableistische Wunde bei behinderten Menschen noch nicht wieder geheilt ist, könnten, fürchte ich, erste Ansätze, Selbstwert zurückzugewinnen und zu stabilisieren, sogar konterkariert werden durch ein der Logik des „Kosmos der Macht“ gehorchendes Empowerment (mag es behindertenpolitisch noch so gut gemeint sein). – In diesem Sinne komme ich abschließend auf den Anfang dieser Fortsetzungskolumne zurück und zitiere zur Profilschärfung des von mir vorgeschlagenen behindertenpolitischen Perspektivwechsels noch einmal die Sozialphilosophin Eva von Redecker: „Arbeit regenerieren statt erschöpfen, Güter teilen statt verwerten, Eigentum pflegen statt beherrschen. Überall, wo wir damit beginnen und weitermachen, wächst die Revolution für das Leben.“

Redaktioneller Hinweis. Auch diese Fortsetzungskolumne wird fortgesetzt, darin: Wie sich nach dem behindertenpolitischen Perspektivwechsel die Rolle und der Spielraum von professionellen Behindertenvertretern darstellt. Wie verhält es sich mit Aufsteigern und Aufsteigerinnen aus der Behindertencommunity in die meritokratische Elite und so weiter. Also dranbleiben, mitdenken und den Moment nicht verpassen, an dem dann die gemeinsame Denkanstrengung viral geht.