Kassel / Dresden (kobinet) "Was macht eigentlich Birger Höhn?" Dieser Frage ist kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul im Interview mit Birger Höhn aus Dresden nachgegangen. Seit vielen Jahren engagiert sich dieser in eine Reihe von Bereichen in der Behinderten- und Inklusionspolitik. Seit dem letzten Jahr, als Birger Höhn an der Weiterbildung zum Empowerment zur Selbstvertretung des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) teilgenommen hat, hat sich einiges in seinem Leben und seinem Engagement getan, wie Ottmar Miles-Paul erfuhr.
kobinet-nachrichten: Sie haben 2023 an einer Weiterbildung zum Empowerment zur Selbstvertretung behinderter Menschen in der Politik und in Gremien des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) teilgenommen. Hat dies Ihrem Engagement neuen Schwung gegeben?
Birger Höhn: Ja natürlich, und so ganz nebenbei an der ein oder anderen Stelle auch neue Kontakte, die weiterhin gepflegt und intensiviert werden. Darüber hinaus sind ja im Zeitrahmen der Weiterbildung auch neue Sachen hinzugekommen – eben durch neue Anfragen aus diesen Kontakten heraus. So bin ich seit September 2023 Mitglied der Besuchskommission in den Einrichtungen sächsischer Behindertenhilfe, also Werkstätten und Wohnheimen. Ein erster Besuch in einer Werkstatt hat auch schon stattgefunden, weitere sind geplant. Es ist schon gut, dass es diese Möglichkeit gibt, allerdings sehe ich hier auch großen Reformbedarf, was hoffentlich in der nächsten Legislatur im sächsischen Landtag thematisiert werden kann.
Ein weiteres, was seitdem dazu gekommen ist, ist das Zentrum für selbstbestimmt Leben (ZsL) Sachsen in Gründung – und damit ein weiteres Vorstandsamt. Wir sind da ein engagierter Vorstand und haben auch schon einige Sachen angepackt, sind präsent auf Veranstaltungen, wie etwa der Protestkundgebung gegen den geplanten Abriß der Busgarage der NS-„Euthanasie“ Gedenkstätte Pirna Sonnenstein, worüber ja auch die kobinet-nachrichten in den letzten Tagen mehrfach berichtet haben. Oder bei der Veranstaltung der sächsischen Linksfraktion zum Thema „Inklusion jetzt“ im Sächsischen Landtag. Derzeit bereiten wir mögliche Aktivitäten rund um den Protesttag am 5. Mai vor. Leider werden wir momentan noch etwas durch die hm … Bürokratie ausgebremst (unter anderem sind wir noch nicht als Verein anerkannt, haben daraus resultierend auch noch kein Konto) … aber an allem wird aktiv gearbeitet.
Und zu guter letzt ist aus den Erfahrungen aus dem letzten Jahr die Idee entstanden, mich in diesem Jahr fürs Mentoring beim „Empowerment zur Selbstvertretung“ zur Verfügung zu stellen. Darauf freue ich mich auch besonders, auf diese dann für mich neue Rolle.
kobinet-nachrichten: Wer sich in den sozialen Medien umschaut, der stößt immer wieder auf Ihren Namen und Berichte über Ihre Aktivitäten. Was macht eigentlich Birger Höhn derzeit, also in welchen Kernbereichen engagieren Sie sich zur Zeit noch?
Birger Höhn: Momentan und sicher auf unabsehbare Zeit ist das ganz sicher die Auseinandersetzung mit der inklusiven Gedenk- und Erinnerungskultur. Ich habe, seitdem ich in der Gedenkstätte Pirna Sonnenstein aktiv bin, nochmal viel, viel mehr über den Nationalsozialismus und darüber gelernt, wie durchaus ähnlich die Systeme auf der Verwaltungsebene sind, gelernt, als zum Beispiel in der Schulzeit. In der Schulzeit war das nur a la „dass Hitler halt ein böser Mensch war, den 2. Weltkrieg angezettelt hat etc…“. Im übrigen sehe ich das auch als bildungspolitisches Problem.
Zu diesem Themenbereich gehören auch mittlerweile breite quasi Netzwerkaktivitäten, die sich gerade anbahnen. So zum Beispiel mit der letztes Jahr neu eröffneten Gedenkstätte Großschweidnitz, die weitgehend barrierefrei sein soll, und darüber hinaus auf dem Gelände auch eine Dauerausstellung hat, die unter Einbeziehung von behinderten Menschen entstanden ist, und die den Bogen schlägt von den Verhältnissen vor über 80 Jahren bis hin zu heute und zum Thema pränatale Diagnostik. Und außerdem hat diese Gedenkstätte eine Kartenaktion, auf der ableistische Begriffe stehen, mit denen wir behinderte Menschen mehrfach konfrontriert werden – zum Aufrubbeln. Wenn man den Begriff aufrubbelt, erscheint dahinter woher der Begriff eigentlich kommt, und was er bedeutet.
Darüber hinaus bin ich mit dem Verein Treibhaus Döbeln e. V. aktiv. Das ist ein soziokulturelles Zentrum in der sächsischen Kleinstadt Döbeln, dort habe ich mit der AG Geschichte zu tun, die schon seit einigen Jahren zur Geschichte des Nationalsozialismus in Döbeln forscht. Oft sind es sehr kleinteilige, aber natürlich ebenso wichtige, Recherchen. Dann kam eine Person zu denen, die die Anregung gab, zur Geschichte der Fachklinik Bethanien – damals Hochweitzschen – zu forschen. Hochweitzschen war eine der Heil- und Pflegeanstalten damals, von denen es Transporte auch nach Pirna Sonnenstein gab. Aus diesem Projekt ist eine Forschungsarbeit, in Zusammenarbeit mit der Klinik geworden, die drei Jahre dauerte, und aus der jetzt ein empfehlenswerter geführter Rundgang der AG Geschichte vom Treibhaus Döbeln der (in meinem Beisein) ganz bewußt Premiere am 3. Dezember, dem Welttag der Menschen mit Behinderungen, hatte. Sehr bewegt hat mich dabei, dass ich da zum einen an der Stelle stand, von der die Transporte abgingen, als auch dass im Anschluß gefragt wurde, wie ich die Führung unter inklusiven Aspekten fand und welche kleinteiligen Verbesserungsvorschläge ich hätte.
Und dann bin ja auch seit Beginn des Jahres Mitglied im Farbwerk e. V. geworden. Das ist ein wunderbarer und mega inklusiver Kunst- und Kulturverein für Menschen mit und ohne Behinderungen, der schon unglaublich viele und tolle Projekte im Kulturbereich sprichwörtlich auf die Bühne bzw. aufs Parkett gebracht hat. Seit 2 Jahren bin ich dort bereits als Teilnehmer dabei und mache bei der inklusiven Rockband mit, mit der ich gerade einen Song – natürlich zur inklusiven Erinnerungskultur – mache. Geplant war das als reiner Gedenk- und Erinnerungssong. Geworden ist daraus nun viel, viel mehr: Nämlich ein inklusiver Erinnerungs- und Empowermentsong, der wahrscheinlich bei unseren Auftritten im Mai Premiere haben wird.
Überhaupt wird für mich – nicht nur in diesem super spannenden Wahljahr, sondern darüber hinaus – das Thema Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Vereinen und Initiativen eine zentrolle Rolle spielen.
kobinet-nachrichten: Sie haben ja die Werkstatt für behinderte Menschen verlassen und sind nun in der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) tätig. Warum ist diese Beratung für Sie und andere Menschen mit Behinderungen so wichtig?
Birger Höhn: Ich sehe die EUTB als einen wichtigen Teil, einen Baustein, zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention. Mindestens mal, dass wir als ergänzender Bestandteil behinderten Menschen zu einem selbstbestimmteren Leben verhelfen können, indem wir sie auch über die ihnen jetzt zustehenden Rechte informieren. Informationen, die sie auf herkömmlichem Weg leider oft nicht bzw. zu wenig bekommen. Ein wichtiger Bestandteil ist aber zum Beispiel auch die Vorbereitung, wenn Gutachter-Termine in verschiedenen Bereichen anstehen. so zum Beispiel wenn Pflegegrad beantragt wurde.
Ich hatte vor wenigen Wochen das Glück, vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) Berlin Brandenburg zu deren pflegepolitischen Fachtag eingeladen worden zu sein und ein Impulsreferat als Betroffener zum Thema Autismus und Pflegegradbegutachtung beisteuern zu können. Das war für mich selbst sehr bereichernd, weil dort zum einen deutlich wurde, wie weit der Begriff Pflege eigentlich international definiert wird und was davon in Deutschland wie umgesetzt wird. Da besteht schon eine Diskrepanz. Dort waren auch viele Gutachter*innen, und ich habe gespürt, dass diese Unsicherheit im Vorfeld nicht nur bei uns Betroffenen da ist, sondern auch zumindest bei den anwesenden Gutachter*innen – gerade bei der Vielfalt an Behinderungen bzw. alleine, wenn man das Autismus Spektrum anschaut. Das hat mir noch nochmal den Blickwinkel geweitet.
kobinet-nachrichten: Birger Höhn ohne politisches Engagement, das kann ich mir als jemand, der Sie schon länger kennt, nicht vorstellen. Wo mischen Sie derzeit in der Politik mit?
Birger Höhn: Achstimmt ja, das gibts ja auch noch (smiley). Ich bin nach wie vor Inklusionsbeauftragter der sächsischen Linken und werde mich auch dafür wieder bewerben in diesem Jahr. Dieses Wahljahr ist ja gerade für meine Partei, DIE LINKE, ein sehr herausforderndes Jahr. Wir befinden uns weiterhin im ständigen Dialog sowohl bislang mit der inklusionspolitischen Sprecherin der Landtagsfraktion, unserer Landesgeschäftsstelle und zu den Gremien der Partei, wie zum Beispiel Landesvorstand, Landesrat, Stadt – und Kreisgeschäftsstellen. Vielfach aber bislang leider nur, wenn der Landesinklusionsbeauftragte bzw. das Inklusionsteam dazu Initiativen ergreift. Umgekehrt ist da noch Entwicklungspotential nach oben. Vor kurzem hatten wir eine entsprechende Anfrage aus der Berliner Landesgeschäftsstelle, die ebenfalls die Stelle eines ehrenamtlichen Landesinklusionsteams einrichten wollen. Das hat mich sehr gefreut, denn es gibt beileibe noch nicht in allen Landesverbänden der Linken Landesinklusionsbeauftragte.
Vertretungsweise sitze ich auch für meine Stadträtin im Dresdner Behindertenbeirat, wenn sie verhindert ist.
kobinet-nachrichten: Sie hatten schon von Ihrem Wirken in der Gedenk-Arbeit gesprochen. Welche Erfahrungen machen Sie mit Ihrem Engagement bei der Beteiligung behinderter Menschen am Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus?
Birger Höhn: Von den Schulklassen und Gruppen, die wir in Pirna Sonnenstein führen, bekommen wir sehr wertschätzende und wohlmeinende Rückmeldungen. Das was unseren Anteil dabei glaube ich als Ergänzung zu dem bereits bestehenden Führungsangebot der Gedenkstätte Pirna Sonnenstein auszeichnet, ist das Thema Authentisch-Sein, möglichst ohne dabei die Frage zu berühren „was wäre, wenn wir vor über 80 Jahren gelebt hätten“, sondern im zentralen Fokus unserer Motivation steht dabei das Gedenken und Erinnern an die Opfer und das „Nie wieder!“
kobinet-nachrichten: Ich habe bestimmt etwas vergessen, was ist Ihnen derzeit besonders wichtig?
Birger Höhn: Na zum einen natürlich schon meine Arbeit als EUTB Teilhabeberater, speziell als autistischer Peer Teilhabeberater. Das war seit meinem Beginn in der EUTB der Stadt AG Dresden schon etwas besonderes, was es so in der Form gerade in Dresden und Umgebung noch nicht gab. Da gibt und gab es auch ein bisschen Reserviertheit, will ich es auch mal nennen. Die Erkenntnis, dass wir ein „ergänzendes“ Angebot sind, wächst erst langsam. Inzwischen hab ich mir Stammkunden an Ratsuchenden aufgebaut, die auch immer mal wieder kommen. Oder manchmal auch neue Ratsuchende, übrigens auch mit Migrationshintergrund. Erst vor kurzem haben wir Ratsuchende aus Peru beraten (schon innerhalb eines Jahres das zweite Mal, dass wir Ratsuchende eines autistischen Kindes, die aus Südamerika kamen, beraten haben).
Besonders wichtig wäre mir noch, dass endlich mehr Psychiater sich die Diagnoseerstellung Autismus zutrauen würden, und nicht Ratsuchende immer nur zu den Autismusambulanzen schicken würden, die dann völlig überlaufen und Wartezeiten von zum Teil über einem Jahr haben.
Mir ist natürlich auch als Vorstandsmitglied des ZsL Sachsen sehr wichtig, dass wir endlich bald als Verein anerkennt werden und damit unsere Arbeit noch auf eine bessere Grundlage gestellt wird. Wir sind alle im Vorstand sehr motiviert, da was richtig gutes für Sachsen hinzubekommen, werden aber, wie es scheint, durch bürokratische Sachen ausgebremst.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!
Birger Höhn: Ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Interview.