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„Man muss ja nicht alles wörtlich nehmen!“

Landstraße im Herbst von der Rückseite eines Pkw, scharz weiß Fotografie
Landstraße im Herbst von der Rückseite eines Pkw, scharz weiß Fotografie
Foto: Ralph Milewski

Villmar - Weyer (kobinet) oder „Wenn Missverständnisse reden könnten“

Eine Kolumne in 2 Teilen.

Zur Bebilderung meiner Kolumnen verwende ich ab sofort auch Fotos, des von mir sehr geschätzten Künstlers und Aktivisten Ralph Milewski. www.ralphmilewski.de. Herzlichen Dank für die Erlaubnis! Copyright © 2022 Ralph Milewski • All Rights Reserved

1.Teil:

Neulich habe ich es wieder getan. Es ist mir mal wieder passiert! Wie schon des Öfteren, bei Meetings, Konferenzen oder auch privaten Treffen. Ich habe die Veranstaltung „gesprengt“! Diesmal traf es eine Familienfeier.

Das, alles andere als vegane Buffet war so gut wie geleert. Gäste und Gastgeberin allesamt, wie auch ich, jenseits der 60 und sich wohl ausnahmslos dem Bildungsbürgertum zurechnend, hatten bereits Krankheitsgeschichten ausgetauscht und waren gerade dabei sich, in kleinen Gruppen, mit verschiedenen Themenschwerpunkten, über das Versagen der „Ampelkoalition“ zu unterhalten. Da servierte, die Gastgeberin zum Nachtisch eine Runde

Schokoküsse!

In erstaunlich kurzer Zeit wurde die Kleingruppenarbeit eingestellt und die Festgesellschaft hatte ein gemeinsames Thema: „Mohrenköpfe darf man auch nicht mehr sagen!“. „Und Zigeunerschnitzel auch nicht!“ tönte es von der gegenüberliegenden Seite der Festtafel. Einige Apotheken dürften sich nicht mehr „Mohrenapotheke“ nennen. Usw., usw.

Meine Tante Gertrud (Name von vom Kolumnisten geändert), mütterlicherseits, die bereits die 80 Lebensjahre überschritten hat und sich selbst als kultur- und geschichtsbeflissen bezeichnet, erhob schließlich ihren Schokokuss und rief feierlich, die Frage aus:

„ Welches Gesetz verbietet mir ‚Mohrenkopf‘ zu sagen?“

Das war mein Moment! Bis jetzt hatte ich eher die Rolle des stillen Beobachters eingenommen. Doch nun rief ich, mehr wütend, als feierlich meine Antwort in die bis dahin recht gut gelaunte Runde:

“Artikel 1, Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!?““

Ich versuchte dann noch, die schlagartig eintretende Stille im Saal zu nutzen um meine Antwort etwas argumentativ zu untermauern: Auch mir gelänge es nicht immer Begriffe, mit denen ich Jahre lang völlig unreflektiert sozialisiert aufgewachsen bin, adäquat und grundgesetzkonform auszudrücken. Aber ich versuchte mir Mühe zu geben. Aus Angst davor Bezeichnungen, wie „Drecksjude“ oder „Spasti“ könnten irgendwann, nicht nur auf Schulhöfen, wieder gesellschaftsfähig werden. Auch könne ich nicht verstehen, warum es einer Apotheke so schwerfallen sollte sich umzubenennen. Es gäbe weit treffendere Namen für die Dealer der Pharmaindustrie. Z.B. „Hildegard von Bingen Apotheke“ oder etwas weniger sperrig: „Hoffman Apotheke“, nach dem Erfinder der Kopfschmerztablette. Das konnte die mittlerweile gekippte Stimmung jedoch auch nicht mehr retten und die Feier löste sich allmählich, aber doch etwas schneller als üblich, auf.

2. Teil:

Der November und der Dezember sind, in meiner Familie, gespickt von Familienfeiern. Also nicht nur Gelegenheit den Cholesterinspiegel sondern auch Familienstreitigkeiten nach oben zu treiben. Allerdings bietet die beginnende Adventszeit auch Gelegenheit zur Versöhnung. Also bat mich Tante Gerdrud auf der nächsten Familienfeier um Entschuldigung. Sie habe das mit Ihrer persönlichen Redefreiheit nicht so gemeint! Selbstverständlich nahm ich die Entschuldigung an…

Mir lag allerdings die Erwiderung auf der Zunge: „Warum hast Du es dann gesagt?“ Hab ich aber nicht erwidert. Ich habe um des Familienfriedens willen diese Kolumne geschrieben. Danke für diese Ventil!

Auf meiner Jahrzehnte dauernden Suche nach einer Art Lebensmotto bin ich mal bei folgender Formulierung hängen geblieben:

„Ich möchte beim Wort nehmen und beim Wort genommen werden!“

Ich fand, das klang griffig! Habe mich aber noch nicht getraut, mir dieses Motto öffentlich auf die Fahnen zu schreiben. Bedeutet es doch in seiner Konsequenz, zu lernen, besser und aufmerksamer zuzuhören und vor allem, dass ich schrecklich aufpassen müsste, was ich so von mir gebe. Am Ende müsste ich vielleicht auch „einfach mal die Klappe halten“. Nicht gerade eine Stärke von mir!

In der Arbeit und dem Zusammenleben mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, hat mir das Motto aber schon gute Dienste geleistet. Eigentlich hat es sich hier erst entwickelt.

Auf einer sehr fröhlichen und witzigen Feier, in einem Wohnheim einer Sondereinrichtung, in der ich tätig war, entglitt mir einmal die Äußerung: “Ihr seid doch alle verrückt!“. Darauf erwiderte eine Bewohnerin: „Nun ja, Stephan. Wegen Schweißfüßen sind wir nicht hier!“

Einer anderen, jungen, von Geburt an taubstummen Bewohnerin mit schweren, kognitiven und körperlichen Einschränkungen, versuchte man in einem solchen Wohnheim eine Geste beizubringen, die „Ich möchte bitte“ bedeuten sollte. Auch mir (Jhg. 1963) hatte man in der Erziehung beigebracht diese Höflichkeitsfloskel (gefälligst) zu verwenden. Jedes Mal, in meiner Kindheit, wenn ich ein Bedürfnis mit den Worten: „Ich will…“ begann, machte man mir klar, dass ich nichts „zu wollen“, sondern (gefälligst) höflich darum zu bitten habe. Oben beschriebene Frau wollte aber nicht höflich bitten. Ihre Biografie war geprägt von Missverständnissen. Ihre Mutter musste Sie schon früh in eine Sondereinrichtung abgeben. Dort konnte sie ihre Bedürfnisse nicht verbal mitteilen. Sie wurde schon früh in Ihrer Entwicklung, immer wieder missverstanden. Im heranwachsenden Alter, zeigte sie, immer mal wieder, schwere aggressive Verhaltensweisen. Versuche Ihr eine ausdrucksstarke Gebärdensprache beizubringen, scheiterten nicht nur an Ihren kognitiven, sondern auch an den Ressourcen, die die Einrichtung, der Kostenträger und politisch Verantwortliche ihr zur Verfügung stellen wollten.

Missverständnisse sind im Zusammenleben und der Arbeit mit geistig beeinträchtigten Menschen eine bedeutsame Barriere. Sie gilt es zu vermeiden. U.a. durch sog. „Leichte Sprache“.

Auch außerhalb von Sonderwelten sind sie Ursache für Konflikte. Evtl. hat z.B. in Russland jemand das mit der „Nato Osterweiterung“ falsch verstanden.

Und wie war das noch mal mit der UN Behindertenrechtskonvention? Zwar ratifiziert, aber nicht so gemeint?

Das Bundesteilhabegesetz sollte man wahrscheinlich auch nicht wörtlich nehmen. Da haben die Betroffenen wohl etwas missverstanden. Seit 2016 schon. Wie konnten Sie annehmen, dass eine zeitgemäße Gestaltung, mit besserer Nutzerorientierung und Zugänglichkeit sowie eine höhere Effizienz der deutschen Eingliederungshilfe (Wikipedia) damit verbunden sein wird?

Nur deswegen, weil’s drin steht?

Das muss ich nochmal auf einer der nächsten Familienfeier ansprechen!

Stephan Laux November 2023