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Ob Mütter, Babys, Rentner und Behinderte verschont werden? Unwahrscheinlich: Krieg ist Zivilisationsbruch!

sitzt auf einer Bank am Wald
Hans-Willi Weis
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) Advent, kein Lichtlein brennt. Alles ziemlich düster, was gerade ankommt. Politisch und gesellschaftlich auf uns zu kommt. Oder ist das Schwarzmalerei, weil die Kriegstüchtigkeits-rhetorik uns Behinderte, ähnlich wie Schwangere und Rentner, doch gar nicht betrifft? Weil man uns Behinderte natürlich verschont, den Adventskranz in Ruhe anzünden lässt und am Weihnachtsabend die Geschenke auspacken. Ist es nicht so?



Stimmt es, dass es uns nicht betrifft, das Gerede von der Kriegstüchtigkeit?

Kriegstüchtig werden, das müssten wir jetzt, heißt es. Aber wer ist denn wir? Sicher nicht wir Behinderte, so wenig wie Schwangere und Rentner am Rollator. Also mit „wir“ sind gar nicht alle gemeint, nicht wir alle. Mit dem Wir, das wieder kriegstüchtig werden muss, ist lediglich unser bewaffneter Arm gemeint. Dieses Wir identifiziert uns, die staatliche Gesamtmenge, kurzerhand mit der Teilmenge unserer Bundeswehr. Die, nachdem man sie angeblich kaputt gespart hat, wieder kriegstüchtig werden soll, für keinen Angriffskrieg, sondern den Verteidigungsfall, für den sie schließlich da ist.

Wen diese Lesart beruhigt, wer sich den allgemeinen Aufruf zur Kriegstüchtigkeit so zurecht legt, man wolle lediglich eine begrenzte Zahl von Menschen zu dem ertüchtigen, wofür sie gebraucht werden, den klärt unser Verteidigungsminister mit dem Hinweis auf, „der Krieg ist zurück in Europa und dies ist ein Wendepunkt für die gesamte Gesellschaft“. Und der Militär- und Sicherheitsexperte Christian Mölling springt ihm aus einem der zahllosen regierungsunabhängigen Thinktanks mit der Feststellung bei, „dass nicht nur die Bundeswehr verteidigungsfähig sein muss, sondern alle darin irgendwie eine Rolle spielen“. – Der Durchblicker Mölling ist es auch, der gleich noch anregt, wir könnten uns alle schon einmal fragen, „welche unserer Straßen derzeit überhaupt in einem Zustand sind, dass Panzer auf ihnen fahren können“. Was mich doch glatt wieder ein Stück klüger macht. Dachte ich Ahnungsloser doch, unserem Leopard II sei die Unterlage egal, mache er ohnehin alles platt, was sich ihm in den Weg stellt. Sei es der kaputte Rollstuhl eines Querschnittsgelähmten, dem es noch gelungen ist, in den Straßengraben zu kriechen; sei es der Buggy mit gebrochener Achse oder einem abgefallenen Rad, aus dem die junge Mutter ihre Zwillinge noch rasch hat bergen können; sei es der weiterhin funktionstüchtige Rollator, den der Rentner nur deshalb im Humpelschritt zurückgelassen hat, weil er den Leopard hat kommen sehen und sich daran erinnert, dass bereits der Urmensch vor dem Säbelzahntiger aus gutem Grund Reißaus genommen hat.

Krieg ist Zivilisationsbruch

Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober rangiert auf der Entsetzlichkeitsskala der Zivilisationsbrüche unter den besonders bestialischen. Kein Mensch mit Verstand und Empathie wird auch nur einen Augenblick zögern, sich diesem Urteil anzuschließen. Dagegen dauert es dieser Tage eine Weile, bis mal eine Stimme Klartext redet im medialen Kriegsdiskurs. Die des Philosophen Michael Andrick beispielsweise: „Was ist denn Krieg? Krieg ist die offizielle Suspendierung der Zivilisation und der Mitmenschlichkeit. Im Krieg stehen sich bewaffnete Menschen gegenüber, die, hochtechnisiert mittlerweile, einander nach dem Leben trachten. Die Gebäude zerstören, Infrastruktur vernichten, menschliche Leiber schlimm zurichten“ (so im Deutschlandfunk am 12.11.2023). – Jedweder Krieg ist real existierende Barbarei. Ein Zivilisierungsversuch der Kriegsführung, wie ihn die Genfer Konvention vornimmt (Kriegsgefangene nicht zu töten, zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden und letztere zu schonen), beschränkt sich faktisch darauf, die ärgsten Exzesse zu unterbinden, wie sie mit dem Zivilisationsbruch Krieg jedesmal drohen. Die Unterscheidung zwischen Verteidigunggskrieg und Angriffskrieg macht hinsichtlich der Grundtatsache Zivilisationsbruch keinen Unterschied, ob Angreifer oder Verteidiger, Krieg ist Krieg. Und das selbstberuhigende Verschonungsnarrativ letztlich eine Illusion.

Frankreichs Präsident Macron äußerte mit Blick auf den Nahost-Krieg, es gebe „gar keinen Grund, Babys, Frauen und alte Menschen zu bombardieren“. Man tut dem Verständnis dieses Satzes keine Gewalt an, wenn man seine Aussage allgemeiner dahingehend versteht, dass es trotz aller „Grundlosigkeit“ zum Krieg gehört, dass in ihm auch „Babys, Frauen und alte Menschen“ bombardiert werden. Umso mehr in sogenannten asymmetrischen Kriegen, wo die militärtechnisch hoffnungslos unterlegene Seite Terror, Sabotage, Geiselnahme, Vergewaltigung, Zivilisten als lebende Schutzschilde u.a.m. systematisch als Kriegswaffe einsetzt. Und damit ihren Gegner in die Zwangslage bringt, seinerseits die Standards „zivilisierter Kriegsführung“ zu verlassen.

Überhaupt unterscheiden sich die Krieger, gleichviel auf welcher Seite, nicht in der Ausübung ihres Handwerks, des Tötens nämlich, eines möglichst effektiven und darum in der Regel auch eines möglichst massenhaften. Sicher gibt es verschiedene Motive zum Kämpfen, moralisch edlere Rechtfertigungsgründe wie auch böse und verwerfliche Absichten. Mir scheinen sie sekundär gegenüber dem Grundtatbestand der Selbstbarbarisierung, die Differenz einer noch so guten Absicht verblasst angesichts der unausweichlichen Brutalisierung und Traumatisierung aller Kriegsteilnehmenden. Dies gilt selbst bei einer Kriegsteilnahme oder einem Kriegseintritt, die man aus politischen und moralischen Gründen für geboten oder notwendig erachten mag. Es waren die für die Ideale der Freiheit und Humanität stehenden Alliierten, deren Bombenkrieg gegen deutsche Städte das massenmörderische und menschenverachtende Nazi-Regime 1945 maßgeblich zur Kapitulation zwang. Und es war die Führungsmacht dieser „Achse des Guten“, die zum endgültigen Sieg über den Faschismus über Hiroshima und Nagasaki die ersten Atombomben zündete.

Mir fallen die Worte des Rekruten auf dem Kiewer Bahnhof ein. Neben ihm die Freundin in Tränen, er rauchend und den leeren Blick in die Ferne gerichtet. Er habe sich nicht freikaufen können, wie die Söhne derer, die im Parlament sitzen und solche wie ihn an die Front schicken, sagt er der Radioreporterin ins Mikrofon. – Die Frage, ob einer im wehrfähigen Alter vom Dienst in der Tötungsmaschine verschont wird oder ob diejenigen an den Schalthebeln der Macht oder in den militärischen Kommandozentralen ihn an diese Maschine verfüttern, ist bis auf den heutigen Tag immer auch eine Klassenfrage. Ob unter Selenskyj oder in Putins Russland, es sind die Einflusslosen und die Mittellosen, die zuerst als Kanonenfutter dienen müssen und an allen Bahnsteigen der Welt auf die Züge zur Front warten.

Katerina Gordeeva, eine Russin aus Lettland hat ein erschütterndes Buch über die Opfer des russischen Angriffskriegs und des ukrainischen Verteidigungskriegs geschrieben, „Nimm meinen Schmerz, Geschichten aus dem Krieg“. Der Rezensent des Deutschlandfunk urteilt, die Autorin halte sich mit Einschätzungen zurück und verzichte auf eine Einordnung dessen, was sie hört. Sie konzentriere sich ganz auf die Menschen, die sie trifft und darauf, was sie erfahren und erlitten haben. Ob es russische oder ukrainische Soldaten waren, die in Mariupol in eine Menge geschossen haben, es bleibt offen – die Frage sei für Gordeeva nicht unerheblich, aber zweitrangig. Die Autorin im Originalton: „Ich habe Menschen getroffen, die in Mariupol in derselben Straße waren. Sie haben mir ganz unterschiedliche Geschichten erzählt über diese schrecklichen Tage. Die einzige Wahrheit ist die, es waren schreckliche Tage, die mit Abstand furchtbarsten Tage in ihrem Leben. Niemand kann einem die Wahrheit sagen, die Wahrheit ist, dass es eine Tragödie ist. Dieser Krieg hat keinen einzigen Menschen glücklicher gemacht …“ Und, so wäre zu ergänzen, niemandes Leben freier und würdevoller, in Anbetracht der entsetzlichen Zahl an Opfern auf beiden Seiten.

Kriegsdiskurse dienen der Verleugnung

Früher dienten sie auch unverblümt der Anstachelung zum Krieg. Diese Zeiten liegen hinter uns. Unseren heutigen Kriegstüchtigkeitsrhetorikern Kriegstreiberei vorhalten, wäre so ziemlich der dümmste und plumpste Vorwurf, den man ihnen machen kann. Nein, mit ihren taffen Sprüchen belügen sie sich stets auch selber über die ungeschminkte Wahrheit des Krieges. Ein klares Bewusstsein von Krieg als Zivilisationsbruch verträgt sich in ein und demselben Kopf schwerlich mit Selbst- und Fremdüberredung zur Kriegsvorbereitung. Und handle es sich – gemäß der Devise, „wer Frieden will, bereitet den Krieg vor“ – um den lupenreinen Verteidigungskrieg, für den man sich bloß deshalb rüste, damit er erst gar nicht stattfinde. Nur mit einem gehörigen Aufwand an Verleugnung lässt sich ein solches Vorhaben durchziehen und durchhalten. – Beispiel gefällig? Carlos Masala von der Bundeswehrhochschule in München übt sich geradezu vorbildlich in dieser Verleugnungskunst mit seinem Werbeslogan, „die Bundeswehr der Zukunft“ sei „divers und woke und bis an die Zähne bewaffnet“.

Gespräche und Debatten über Verteidigungspolitik, Aufgabenstellung und Ausrüstung der Bundeswehr, Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit von Waffensystemen strotzen seit eh und je vor rhetorischer Schönfärberei, mit der sich Redner wie Publikum über die grauenhaften Folgen eines Einsatzes der zur Verfügung gestellten strategischen und waffentechnischen Zerstörungskapazitäten hinweglügen. Der vom Verteidigungsminister forsch forcierte Mentalitätswechsel mittels sprachlicher Umstellung von Wehrhaftigkeit auf Kriegstüchtigkeit legt da lediglich noch eine Schippe zu. Die der tonangebenden Politik notwendig erscheint, weil mit der Ankunft des Krieges mitten in Europa die ungeschönte Kriegsrealität uns drastischer denn je medial vor Augen tritt. Und was läge in Anbetracht unerträglicher Bilder (zuletzt denen aus Gaza) vom Standpunkt der politischen und militärischen Entscheidungsträger näher, als verbale Vorwärtsverteidigung: Ja klar, „Kriegstüchtigkeit“ sei „ein hässliches Wort für eine hässliche Sache“ und „Krieg eine Katastrophe“, tönt Pistorius und eben darum verlange es eine doppelte Anstrengung, ihn vorzubereiten bzw. den Verteidigungsfall, wem das Wort lieber ist. Ein Kommentator beim Deutschlandfunk sekundiert: Des Verteidigungsministers drastische Wortwahl „katapultiert die Deutschen aus der Komfortzone der vergangenen friedlichen Jahre“. Damit habe der Minister „zur Unzeit genau das richtige gesagt“.

Der Kommentator denkt dabei an „zwei Dinge“, die der Minister „unabhängig vom Ergebnis bewirkt“ habe, nämlich „die sicherheitspolitische Neuorientierung Deutschlands und eine bessere Bundeswehr“. So dass „uns das nicht passiert“, was denen in Israel, Gaza oder der Ukraine zur Zeit passiert, diese „hässliche Sache“, um das treffende Wort des Ministers nochmals zu bemühen. – Doch wie, wenn es sich mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit genau umgekehrt verhielte, sich der Minister und alle ihm Beifall Spendenden mit ihrer verbalen Aufrüstung – von der materiellen mit den Milliarden an Rüstungsausgaben ganz zu schweigen – ungewollt zu Komplizen jener „hässlichen Sache“ machen? Die Frage scheint unerhört, doch man darf sie nicht nur, man muss sie stellen, ob die derzeitige Kriegstüchtigkeitspropaganda mit ihrer Art der Kriegsprävention dem zu Verhindernden nicht vielmehr Vorschub leistet. Zugespitzt gefragt: Betreiben sie nicht eine de facto Proliferation von Katastrophe, Beihilfe zum Zivilisationsbruch?

Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen

Kein schöner Advent in dieser Zeit. Was in diesen Dezembertagen ankommt, mehr oder weniger überall auf Erden, ist alles andere als eine frohe Weihnachtsbotschaft. Kein „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“. Statt dessen: Kriegstüchtig aller Orten und ein wehrhafter Friede (hierzulande), bei dem alle selber sehen sollen, ob und wie sie mit ihm fertig werden. – Meine Art zu reagieren ist es, den Advocatus Diaboli zu spielen. Was mir desto nötiger scheint, als sich der Teufel anscheinend unbemerkt bei denen breit macht, deren Argumentation ich hier einmal mehr hinterfrage. Und natürlich müsste der nächste Gedankenschritt von meiner Wahrnehmungswarte aus darin bestehen, all das neu zu denken und als praktische Alternative in Erwägung zu ziehen, was, unsere unfrohen Botschafter schon seit geraumer Zeit mit Verve in die Tonne treten: Pazifismus, Formen eines gewaltfreien Widerstehens (selbst noch gegen bewaffnete Aggressoren), Verhandlungen, Waffenstillstand u.s.w.

Dazu freilich bietet diese Kolumne jetzt nicht den Ort. Sie erlaubt mir – ganz im Einklang mit der subjektiven Äußerungsform einer Kolumne nur noch zu sagen, wie ich mich fühle. Nämlich allein. Bis jetzt habe ich aus der Behinderten-Community weder Zuspruch (von Ausnahmen abgesehen), noch Widerspruch erhalten zu meinen kolumnistischen Ausführungen in Sachen „Bedrohungsszenarien“ auf die „Deutschland sich einzustellen hat“ (um ein letztes Mal Mister Pistorius zu zitieren). Woran dieses Schweigen von Seiten der Peers liegt, darüber kann ich nur mutmaßen. Zum Beispiel, dass wir Behinderte gesellschaftlich und politisch zweifellos zu den Schwächsten in diesem Land zählen und man sich daher nicht gerne exponiert und sich auf „behindertenpolitische Themen“ beschränkt. Ich würde es mir anders wünschen, versichere aber den aus diesen Gründen mutmaßlich Schweigenden, dass ich mich, so gut es geht, in Nachsicht übe.

P.S. Im Aufzugs-Podcast von Raul Krauthausen führt der Chefmoderator der ZDF-Kultursendung „Aspekte“ und bekennende Optimist Jo Schück gegen den aktuell grassierenden Pessimismus und eine alles verdüsternde Zukunftsangst den auf Zuversichtlichkeit zielenden Hinweis ins Treffen: Eine Gesellschaft ohne Menschlichkeit könne und werde es nie geben, nicht einmal im Krieg, selbst dann treffe man noch auf Menschlichkeit. – Mein Einwand gegen diesen gutgemeinten Trost (in Analogie zum Galgenhumor müsste man ihn Galgentrost nennen): Wenn man an den aktuellen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft nur mehr durch den ultimativen Hinweis nicht verzweifelt, dass selbst im Fall eines Kriegszustands aus ihr die Menschlichkeit nicht ganz verschwunden sein wird, so besagt dies in Wahrheit nichts anderes, als dass sie bereits aus ihr verschwunden ist, dass sie im Grunde längst schon eine Gesellschaft ohne Menschlichkeit ist.

Zwei Lesetipps

Katerina Gordeeva, Nimm meinen Schmerz: Geschichten aus dem Krieg, München 2023

Olaf Müller, Pazifismus. Eine Verteidigung, Stuttgart 2023