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Staufen (kobinet) Unmarkierte Behinderte verzerren den Wettbewerb. Das darf nicht sein, sie müssen sich kennzeichnen. Beziehungsweise gekennzeichnet werden, abgestempelt, offen gesagt. Das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht, fordert sie, die Kennzeichnung Behinderter in ihren Abschlusszeugnissen.
Markierung geht vor Antidiskriminierung
Unter Hinweis auf den Grundsatz der Gleichbehandlung mal schnell das Gebot der Antidiskriminierung Schachmatt setzen, dies bringt nur ein höchstrichterliches Hirn mit juristischer Spitzfindigkeit und verfassungsrechtlicher Kompetenz zuwege. Und das geht per Urteil so: Prüfungserleichterungen zum Ausgleich behinderungsbedingter Benachteiligung (z.B. sog. Notenschutz) schön und gut, aber bitte mit deutlichem Vermerk im Abschlusszeugnis (Abiturzeugnis) des oder der Behinderten. Von nun an nicht nur im Fall von Legasthenie, sondern aller Arten von Behinderung, Hörschädigung, Sehbeeinträchtigung, Autismus u.s.w.
„Das Interesse an Transparenz bei Prüfungen“ erzwingt laut Verfassungsgerichtsurteil eine allgemeine Offenlegung, den selbstentblößenden Vermerk „behindert“ im Zeugnis. Eine Transparenz, an der spätere Arbeitgeber und Ausbildungsstellen Interesse hätten. Kurz, eine Kennzeichnungspflicht Behinderter in Abschlusszeugnissen, die es Ausbildungsstätten, Unternehmen und Firmen einmal mehr ermöglicht, unter Bewerbern und Bewerberinnen entsprechend auszusortieren.
„Klare Kante gegen Antidiskriminierung bei Behinderung und gesundheitlicher Beeinträchtigung“, so die Kommentatorin von SWR2 und Deutschlandfunk Anja Braun. „Furchtbar“ sei das für die Betroffenen in der Behindertencommunity. Die verfassungsrichterliche Zurückweisung der Klage, dass der Zeugnisvermerk zur Benachteiligung bei Bewerbungen führe. Können wir Behinderten doch jetzt selber zusehen, wie wir mit den Folgen dieser Kennzeichnungspflicht – abgestempelt, entspricht nicht der Norm! – klar kommen. Während sich unsere wackeren Aktivsten und Aktivistinnen in diversen Beratungsgremien zur Verbesserung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) weiterhin munter abstrampeln dürfen, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil schon einmal die Grenzen der Gleichbehandlung und Gleichstellung aufgezeigt.
Die geistig moralische Wende des Neoliberalismus ist eine abschüssige Bahn
Dass uns die Karlsruher Robenträger zeigen, wo der Hammer hängt, wäre dabei gar nicht nötig gewesen. Ob behindert oder nicht behindert, alle Menschen, die nicht wie eine Schlaftablette durch die Gegend laufen, haben längst erkannt: Alle sind gefangen in einer tendenziell grenzenlosen Wettbewerbsgesellschaft. Alle konkurrieren aller Orten mit allen. Kaum etwas ist fester verankert in unseren Köpfen als dieses neoliberale Realitätsprinzip. Ihm – der „neoliberalen Kacke“, wie sich Stephan Laux in seiner Kobinet-Kolumne mit nur allzu verständlicher Drastik ausdrückt – ist alles andere nach- und untergeordnet. Gegen Wettbewerbsverzerrungen sein ist wichtiger als gegen Antidiskriminierung sein. Unmarkierte Behinderte verzerren den Wettbewerb auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, daher müssen sie sich kennzeichnen. Individueller gesundheitlicher Datenschutz hat hier hinter Wettbewerbstransparenz zurückzutreten. Das Gefühl, dadurch stigmatisiert und diskriminiert zu werden, ist uns Behinderten an dieser Stelle zuzumuten. Verzerrungen des Wettbewerbs kann unser Wirtschaftssystem auf Dauer nicht verkraften, seelische Zerrungen bei einigen Behinderten allerdings schon.
Die geistig moralische Wende des Neoliberalismus hat bereits vor Jahrzehnten begonnen. Zunächst hat sie einige erfreuliche Schritte in Richtung Behinderteninklusion nicht verhindert. Was uns Behinderte bisweilen übertrieben optimistisch gestimmt hat. UN-Behindertenrechtskonvention, deren Implementierung, die regelmäßige Staatenprüfung wie unlängst wieder, ein gelegentlicher Rüffel für säumige Regierungen und Politiker – dies alles lullt stets auch ein wenig ein. Man gibt sich der Illusion anheim, das „Lustprinzip der Inklusion“ obsiege allmählich über das Realitätsprinzip von Wirtschaft und Wettbewerb. Uns daran zu erinnern, es verhält sich leider umgekehrt, nämlich Wettbewerb schlägt Inklusion, dafür wenigstens sollte das Karlsruher Urteil gut sein. Dass es uns wieder einmal gezeigt hat, wo der Hammer hängt.
Ohne den Teufel an die Wand zu malen: Je härter die Zeiten werden, je rücksichtsloser die Kämpfe um Wettbewerbsvorteile und Besitzstandswahrung ausgetragen werden, desto akuter die Gefahr, dass wir Behinderte unter die Räder geraten. Neben anderen Kategorien von sozial Schwächeren, Benachteiligten und Diskriminierten. Die geistig moralische Unterlage der globalen Wettbewerbsgesellschaft gleicht langfristig einer schiefen Ebene, einer abschüssigen Bahn. An deren unterem Ende (wie schon einmal in der Vergangenheit) es heißen könnte, wer aus Beeinträchtigungsgründen nicht oder nicht richtig arbeiten kann, soll auch weniger verzehren; oder in der Kurzversion, „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Die nochmals verschärfte Version haben wir in der deutschen Geschichte in den Jahren zwischen 1933 und 1945 kennengelernt. Berthold Brechts Merksatz mit Blick auf jene Schreckenszeit: „Der Schoß, aus dem das kroch, ist fruchtbar noch“ – diese Mahnung sollten wir vielleicht auch hinsichtlich des Neoliberalismus und seiner für große Teile der Menschheit eher düsteren Zukunftsaussichten nicht aus dem Blick verlieren.
Mir fällt aus dem Stand nichts ein, was wir Behinderte aus unserer strategischen Defensivlage heraus gegen das weitere Abgleiten auf der schiefen neoliberalen Bahn wirksam tun könnten.
Außer einen klaren Kopf bewahren, weniger untereinander konkurrieren und statt dessen unsere bescheidenen Kräfte synergetisch bündeln und einander unterstützen.
P.S. Dem hohen Gericht unterstelle ich übrigens keine sinistre Absicht. Wie gut es die Karlsruher RichterInnen mit den Behinderten meinen und subjektiv für deren Inklusion eintreten – dies ist das Paradoxe an ihrer Vorgehensweise –,soll gerade auch daran deutlich werden, dass sie ihr in der Konsequenz Markierung, Stigmatisierung und Diskriminierung von Behinderten auf dem Ausbildungs- und Stellenmarkt riskierendes Urteil mit einer strikten Gleichbehandlungsargumentation begründen und dies zum Zweck, den Nachteilsausgleich und die Gleichstellung von Behinderten hieb- und stichfest rechtlich abzusichern. Dass sie sich zu dieser verqueren Argumentation durch die noeliberale Denke bemüßigt fühlen, dürfte ihnen nicht bewusst sein.
Die Konformität mit dem neoliberalen Trend, der Talfahrt in die gnadenlose Wettbewerbsgesellschaft geht auch in ihren Köpfen einher mit den besten Inklusionsabsichten.
Anhang: Kommentar der Journalistin Anja Braun