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Großartige Stimmung!

Stephan Laux sitzt auf einem Steinhaufen vor einem Tunnel in kurzem Hemd und Hosen
Stephan Laux
Foto: Stephan Laux

Villmar-Weyer (kobinet) Stephan Laux ist ein erfahrener Heilerziehungspfleger. Wir veröffentlichen seinen Beitrag zu Special Olympics World Games 2023 in Berlin und seinen Überlegungen dazu.



Vom 17.-25.06.2023 fanden die Special Olympics World Games in Berlin statt.
Darüber fand ich eine Dokumentation in der ARD Mediathek. Ein wirklich gut gemachter Vorbericht, hauptsächlich aus Sicht deutscher Athlet*innen mit geistiger und mehrfacher Behinderung.

Um eines vorweg zu nehmen: Ich gönne allen Teilnehmer*innen und freiwilligen Helfern die Freude, die Erfolgserlebnisse und die positiven Erfahrungen aus dieser Veranstaltung von Herzen!

In Vorbereitung auf das Event, so dokumentierte es der Bericht, durften sich die deutschen Athlet*innen wie Stars fühlen. Sie wurden u.a. komplett eingekleidet und durften an einem professionellen Fotoshooting teilnehmen. Ob sie in der breiten Öffentlichkeit nachhaltig als Stars wahrgenommen wurden, wage ich zu bezweifeln. Denn ich fand im öffentlich – rechtlichen Fernsehen keine einzige Liveberichterstattung. Dabei formulierten eine Leichtathletin und ihre Trainerin, die schon des Öfteren, erfolgreich bei den Paralympics teilgenommen hat, im Beitrag Ihre Wünsche, in Bezug auf das Thema Inklusion im Sport recht eindeutig und ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK ) und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Sie wünschten sich eine sportliche Veranstaltung zusammen mit allen Stars im Sport.

In der VDK Zeitung, dem Organ des größten Sozialverbandes Deutschlands, der sich sonst leider nur am Rande mit dem Personenkreis Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen befasst, schafften es die Special Olympics World Games sogar mit einem Foto und der Schlagzeile „Großartige Stimmung“, auf die Titelseite. Im dazugehörigen Bericht wurde u.a. über das sicher lobenswerte Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer und deren durchweg positiven Erfahrungen bei ihrer freiwilligen Hilfe eingegangen. Die Bundesvorsitzende des VDK, Frau Verena Bentele, die ich sehr schätze, wurde sinngemäß mit den Worten zitiert, es bräuchte mehr solcher Veranstaltungen, um die Inklusion in Deutschland voranzutreiben. Da bin ich ausnahmsweise mal nicht Ihrer Meinung.

Meiner Meinung nach liegt die Halbwertszeit der öffentlichen Wahrnehmung solcher Veranstaltungen in Deutschland im Bereich weniger Wochen. Spätestens wenn alle Schirmherren und Sponsoren der Veranstaltung sich gegenseitig genug auf die Schultern geklopft haben, die Tour der France, Wimbledon, die Frauen Fußball Weltmeisterschaft und die Para Leichtathletik Weltmeisterschaften vorbei sind und endlich die Herren Fußball Bundesliga wieder anfängt, kehrt die Behindertenhilfe wieder zu ihrem Alltagsgeschäft zurück, das mindestens so weit vom Inklusionsgedanken der UN-BRK entfernt ist, wie der DFB. Solche Veranstaltungen beruhigen kurzzeitig das soziale Gewissen von einigen politisch und fachlich Verantwortlichen und Leuten, die glauben, Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen wären doch letztendlich am besten in Sondereinrichtungen und -welten aufgehoben.

Die Stimmung in einigen Sondereinrichtungen ist momentan weniger großartig als bei den Special Olympics World Games. Während dieser Spiele erreichte mich der Bericht eines Ereignisses aus einer Einrichtung, das stellvertretend für die Realität in vielen deutschen, stationären Einrichtungen für Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen stehen könnte.

Ein junger Mann, dessen sehr engagierten Eltern einen der begehrten, ortsnahen Heimplätze ergattert hatten, wurde in dieser Zeit von der Polizei aus seinem Wohnheim abgeholt und in die Forensik verbracht. Was war geschehen? Während eines Ausfluges im Rahmen der Tagesbetreuung, war es im Kleinbus zu einem Übergriff gekommen. Urplötzlich griff der junge Mann eine schwer „verhaltensauffällige“ Mitklientin an und verletzte sie lebensgefährlich u.a. an ihren Augen. Der begleitende Erzieher konnte nicht schnell genug eingreifen. Wie auch? Er steuerte den Bus und musste darauf achten, diesen sicher zum Stehen zu bringen.

Mittlerweile sind die Begleitenden in der Behindertenhilfe dazu angehalten, bei körperlichen Übergriffen neben einem Notarzt auch die Polizei zu verständigen. Das perfide bei dieser Anweisung besteht auch darin, dass sie im weitesten Sinne mit dem Inklusionsgedanken begründet wird. Denn in der sogenannten „normalen“ Welt würde in solchen Fällen ja auch die Exekutive eingeschaltet. So traf der Erzieher, der eigentlich nichts anderes im Sinn hatte, als den beiden Klienten einen angenehmen und längst fälligen Nachmittag an einem See zu ermöglichen, als er den Landeplatz für den Notarzt-Hubschrauber ansteuerte, auch auf ein Sonderkommando der Polizei, welches zeitgleich mit der notärztlichen Versorgung und dem Transport des Opfers, erste Ermittlungen aufnahm und u.a. DNA-Proben des vermeintlichen Täters nahm.

Bei der kriminalistischen und juristischen Aufarbeitung dieses natürlich vor allem für das Opfer dramatischen Falles, wird wohl noch einiges auf die betreffende Einrichtung und alle Beteiligten zukommen.

Bei der pädagogischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen Fällen, die leider immer mehr zunehmen, vermute ich aus meiner beruflichen Erfahrung ein Muster.

Das Opfer lebte in einer Sondereinrichtung. Ihre sogenannten Verhaltensauffälligkeiten waren in den letzten Monaten zu einer Krise eskaliert. In ihrem Wohn- und Tagesbetreuungsumfeld fiel es Ihren Mitklient*innen zunehmend schwerer, dieses Verhalten zu tolerieren (denn es war nicht der einzige Umstand, den sie seit langer Zeit zu tolerieren hatten).

Der vermeintliche Täter lebte ebenfalls in einem Wohnheim. Zusammen mit weiteren Klient*innen, die er sich nicht ausgesucht hatte und deren Verhalten er seinerseits sowohl in seinem neuen Zuhause, als auch während der Tagesbetreuung (also 24 Stunden am Tag) zu tolerieren angehalten wurde.

Bewohner*innen und Beschäftigte der Wohnheime und der Tagesbetreuung leiden seit Jahren unter einem chronischen Personalengpass und bekommen noch immer die enormen Auswirkungen und Rückschritte der Corona-Pandemie zu spüren. Dennoch versuchen die Mitarbeiter*innen, den Betreuten, wann immer es möglich scheint, wenigstens ein Minimum an Teilhabe oder auch nur an Lebensqualität zukommen zu lassen.

Wer oder was ist also verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich dafür, dass solche Situationen im Kontext von Sondereinrichtungen immer öfter eskalieren? Aus sonderpädagogischer und auch bei normaler Betrachtung der Umstände sind solche Eskalationen eine Frage der Zeit.

Ich weiß nicht, ob es vergleichbare Situationen während der Special Olympics World Games gab. Ich vermute kaum. Denn die Berichterstattung sprach vom Einsatz hunderter Volunteers und hauptamtlicher Mitarbeiter*innen. Und eben einer „großartigen Stimmung“.

Hätte der Täter des oben beschriebenen, tragischen Ereignisses eine besondere, sportliche Begabung aufweisen können, dann wäre er vielleicht in den Genuss gekommen, zum Tatzeitpunkt in Berlin um Medaillen zu kämpfen.

Wie würden sich solche eskalierenden und für alle Beteiligten dramatischen Situationen verhindern oder zumindest verringern lassen? Sondereinrichtungen abschaffen?….
Genau! Denn eben genau das wäre eine Folge der Umsetzung der UN BRK! Ein erster Schritt wäre der Ausbau der Wohnform „Betreutes Wohnen“ für Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen. Und zwar nicht nur für die, die sich dafür qualifiziert ((sprich: für die, die sich in Sondereinrichtungen bewährt (benommen)) haben. Weil die freie Wahl des Wohnortes nicht erst seit der UN BRK ein Grundrecht ist (Artikel 11 Grundgesetz). Und weil man sich in einer solchen Wohnform leichter aus dem Weg gehen kann. Freilich müsste man u.a. damit leben, dass in einer solchen Wohnform vielleicht nicht alle Hygienestandards einer Behörde wie der Heim- und Pflegeaufsicht, bis ins Detail eingehalten würden. Ob diese Begleitungs- und Wohnform personalintensiver wäre, bleibt abzuwarten.

Und wenn doch, wäre wenigstens die Stimmung besser!

Stephan Laux, Juli 2023

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Marion
13.10.2023 13:43

Sehr vermischter Beitrag …

Zitat: „Ob sie in der breiten Öffentlichkeit nachhaltig als Stars wahrgenommen wurden, wage ich zu bezweifeln. Denn ich fand im öffentlich – rechtlichen Fernsehen keine einzige Liveberichterstattung“ – Sie werden nachhaltig wahrgenommen, denn die SOWG wirken bis heute nach. Etwas unverschämt finde ich die Forderung nach einer Liveübertragung, denn sie SOWG fan an vielen Orten gleichzeitig statt, auch Orte wo eine Liveübertragung räumlich nicht möglich war. Liveübertragungen kosten viel Geld, da sind wir schnell in Millionenhöhe und diese müssen refinanziert werden. Trotzdem: Es gab durchaus auch Liveübertragungen und Livestreams.

Zum zweiten Fall: „Betreutes Wohnen“ für Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen, gibt es bereits und wird von vielen Einrichtungen bereits seit langem angeboten. Betreutes Wohnen“ für Menschen mit geistigen- und Mehrfachbeeinträchtigungen, gab es sogar schon in den 80er Jahren. Das es da eventuell regionale Lücken geben kann, ist eine andere Sache, aber das muss auf Kommunalebene gelöst werden.