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Bewusstsein, dass schulische Inklusion Verpflichtung ist, fehlt

Martin Ladstätter bei der Pressekonferenz
Martin Ladstätter bei der Pressekonferenz
Foto: Österreichischer Behindertenrat

Wien (kobinet) Am 22. und 23. August wurde Österreich vor dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen in Sachen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geprüft. Martin Ladstätter vom österreichischen Online-Nachrichtendienst BIZEPS aus Wien, der in einem LIVE-Blog über die Staatenprüfung berichtet hat, ist es wichtig, die Staatenprüfung als langfristiges Projekt zu betrachten. "Die aktuelle IST-Situation muss gut aufgearbeitet und alle Stakeholder auf nationaler Ebene koordiniert werden, um gemeinsam die größten Herausforderungen zu benennen", betonte er in einem Interview mit kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul und seinem Resümee zur Staatenprüfung. Seiner Wahrnehmung nach gibt es noch kein allgemeines Bewusstsein dafür, dass Inklusion im Bildungsbereich keine Option, sondern eine Verpflichtung ist. Die Aussonderung von Schülern mit Behinderungen in Sonder- oder Förderschulen widerspricht den Menschenrechten.



kobinet-nachrichten: Die österreichische Behindertenbewegung hat viel Zeit und Energie in die Staatenprüfung Österreichs zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention investiert. Nun, nach dem konstruktiven Dialog am 22. und 23. August: Hat sich der Aufwand gelohnt?

Martin Ladstätter: Absolut, der Aufwand war es wert. Es ist wichtig, die Staatenprüfung als langfristiges Projekt zu betrachten. Die aktuelle IST-Situation muss gut aufgearbeitet und alle Stakeholder auf nationaler Ebene koordiniert werden, um gemeinsam die größten Herausforderungen zu benennen. Dadurch kann der UN-Fachausschuss gezielter darauf eingehen.

Die Vorbesprechungen mit den Mitgliedern des UN-Fachausschusses sind essentiell, um eventuelle Unklarheiten aus den eingereichten Unterlagen zu klären und aktuelle Entwicklungen bei Bedarf darzustellen. Hierbei sollten die Themen so dargestellt werden, dass sie für die Ausschussmitglieder verständlich sind und diese gezielte Fragen stellen können.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die mediale Berichterstattung. Bereits Wochen vor der Staatenprüfung sollten Journalist:innen über den Ablauf aufgeklärt werden und das technische Prozedere in eine allgemein verständlichere Form gebracht werden. Unser Ziel war es, die Staatenprüfung in den Fokus der Innenpolitik zu rücken, und das ist uns gelungen.

kobinet-nachrichten: Sie haben in einem Live-Blog detailliert über die Staatenprüfung berichtet. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Martin Ladstätter: Der LIVE-Blog von BIZEPS hatte das Ziel, die Staatenprüfung für unsere Community greifbarer zu machen. Nicht jeder kann oder möchte sich das mehrstündige Event im Video ansehen. Der Blog dient zur Einordnung und Archivierung der Ereignisse. Schon 2013 hat dieses Format gut funktioniert, und auch dieses Jahr hatten wir auf allen Plattformen – von unserer Homepage über Twitter bis hin zu Instagram – zahlreiche Aufrufe.

Es ist auch wichtig zu betonen, dass Personen, die wenig Zeit haben, sich jedoch mit dem Thema befassen müssen – wie Verwaltungsangestellte, Politiker oder Journalisten – diese kompakte Informationsform schätzen.

kobinet-nachrichten: Welche Eindrücke von der Staatenprüfung sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?

Martin Ladstätter: Die österreichische Delegation des Staates hat sich mit Energie dem Prozedere gestellt. Mit 24 Personen haben sie versucht, konkrete Antworten zu geben. Allerdings haben meiner Meinung nach das Bildungsministerium und die Bundesländer nicht zufriedenstellend geantwortet.

Thematisch lag der Fokus der Prüfung hauptsächlich auf Bildung, Kooperation zwischen Bund und Ländern, Deinstitutionalisierung, dem unzureichenden nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK und immer wieder auch auf dem Mangel an Statistiken im Bereich Behinderung.

kobinet-nachrichten: Deinstitutionalisierung war ein häufig diskutiertes Thema. Wie sieht es in Österreich in diesem Bereich aus?

Martin Ladstätter: Es ist kein Geheimnis, dass dieses Thema immer wieder aufkommt. Österreich hat in diesem Bereich bisher leider versäumt, Fortschritte zu machen. Die fehlende Koordination zwischen Bund und Ländern ist ein großes Problem. Der Vertreter des Sozialministeriums hat jedoch anerkannt, dass dies angegangen werden muss.

Trotzdem, 15 Jahre nach der Ratifizierung noch immer keinen Plan zu haben, ist ein erhebliches Versäumnis. Ich wäre überrascht, wenn der UN-Fachausschuss dies in seinen Handlungsempfehlungen nicht deutlich ansprechen würde.

kobinet-nachrichten: Welche weiteren Themen haben Sie als besonders prägend empfunden?

Martin Ladstätter: In Österreich und meiner Wahrnehmung nach auch in Deutschland gibt es noch kein allgemeines Bewusstsein dafür, dass Inklusion im Bildungsbereich keine Option, sondern eine Verpflichtung ist. Die Aussonderung von Schülern mit Behinderungen in Sonder- oder Förderschulen widerspricht den Menschenrechten. Hier benötigen wir jedoch einen klaren Plan zur Umsetzung.

kobinet-nachrichten: Welche Erwartungen haben Sie an die Handlungsempfehlungen des Ausschusses und die Reaktionen der österreichischen Regierung?

Martin Ladstätter: Ich hoffe, dass der UN-Fachausschuss in den nächsten Wochen klare und hilfreiche Handlungsempfehlungen gibt. Diese sollten sowohl die positiven Entwicklungen hervorheben als auch klare Hinweise darauf geben, was in Österreich zur Umsetzung der UN-BRK noch fehlt. Solche Empfehlungen sollten konstruktiv sein und dem Land eine Perspektive von außen bieten.

kobinet-nachrichten: Haben Sie Tipps für die deutsche Behindertenbewegung, die bald ihre eigene Staatenprüfung vor sich hat?

Martin Ladstätter: Jedes Land hat seine eigenen Herausforderungen und daher möchte ich keine thematischen Tipps für Deutschland geben. Aber folgende Tipps für die Staatenprüfung hätte ich:

1. Viel Energie aufzuwenden, es den Mitgliedern des UN-Fachausschusses leichter zu machen, die richtigen Fragen zu stellen und die Problembereiche zu verstehen

2. Die Öffentlichkeitsarbeit zu fokussieren. In wenigen Tagen von vielen verschiedenen Organisationen die gleichen Botschaften auf allen Kanälen. Wenn möglich so erklärt, dass die Relevanz für den Alltag und die Versäumnisse des Staates bei der Umsetzung der UN-BRK möglichst allen einleuchten.

Auch wenn nicht danach gefragt wurde, hätte ich noch einen Tipp für die Zeit NACH der Staatenprüfung. Wenn Deutschland die Handlungsempfehlungen bekommt, wird es wieder an der Zivilgesellschaft liegen dies medial aufzuarbeiten. Der Staat hat in der Regel kein großes Interesse daran, seine eigenen Versäumnisse zu thematisieren.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Gespräch.

Link zum Bericht von Martin Ladstätter über die Staatenprüfung und zur Dokumentation des LIVE-Blogs