
Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Die Frage drängt sich auf. Einmal mehr wegen der Nonchalance, mit der die Meinungseliten das Thema für sich abgehakt haben. Schwamm drüber, keine Fragen mehr. So auch die prominente Psychologin Stefanie Stahl unlängst bei Raul Krauthausen in seinem Podcast „Im Aufzug“. Die Frage, wie das mit den psychischen Folgen von Corona und den Pandemiemaßnahmen für Kinder rückblickend zu beurteilen sei, erledigt Deutschlands berühmteste Psychologin mit zwei beschwichtigenden Sätzen und mit den Worten, sie habe das Thema Corona für sich abgeschlossen. Die das Pech haben, sich mit dem Thema immer noch herumplagen zu müssen, können ihr den Buckel runterrutschen, will sie damit sagen. Und kommt am Ende des Podcast auch explizit auf den Hund, gefragt, was sie nach dem Fahrstuhlgespräch gleich machen werde: Mit dem Hund spazieren gehen.
Was uns Behinderte von Promis und ihren Hunden unterscheidet: Wir haben mit dem Nachteilsausgleich unserer Behinderung genug zu tun und müssen uns nicht zusätzlich als Verdrängungskünstler beweisen. Also komme ich im Folgenden statt auf den Hund doch noch einmal auf Corona zu sprechen. Wie es mir ergangen ist mit all dem Verstörenden in diesem Zusammenhang. Daher soll mein bislang unveröffentlichter Text (geschrieben Anfang Februar 2022) nun exklusiv im Inklusionsmedium kobinet-nachrichten.org erscheinen – frei nach dem auch mit Blick auf Corona gültigen und in diesem Fall besonders stacheligen Igel-Motto, „Inklusion ganz einfach leben“. Und das mitten im Sommerloch.
Wie Corona einem Altachtundsechziger noch einmal eine schmerzhafte Scheidung der Geister abverlangt oder: Über „Solidarität“ in Zeiten der Pandemie
Auszugehen ist bei uns allen von einem Zusammenhang zwischen lebensweltlicher Erfahrung und politischem Urteil. Für die Achtundsechziger hieß das unter bewusster Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen lebensweltlichen Kernbereich: Das Private ist politisch. Weil für sie das Private – Ehe und Familie in der Hauptsache – ein Ort war, an dem, den Augen der Öffentlichkeit entzogen, die Kontinuitätssicherung und die Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen geschah. – Heute ist für mich aus einem anderen Grund das Persönliche politisch: Die individuelle oder persönliche Erfahrung in lebensweltlichen Nischen, an deren Örtlichkeit und Geschehen die mediale Beobachtung kein Interesse zeigt, kann ausschlaggebend dafür sein, dass jemand zu einem vom massenmedial erzeugten Meinungsbild abweichenden politischen Urteil gelangt.
Was die sog. Leitmedien der Gesellschaft als repräsentatives Meinungsspektrum spiegeln, sind vom sozialen oder lebensweltlichen Entstehungs- und Erfahrungszusammenhang abgeschnittene politische Meinungen und Urteile. Mithin Abstraktionen, die dann von den politisch interessierten und informierten Bürgern im Kopf gespeichert und jederzeit als vermeintlich eigene Meinung abrufbar sind.
In Wahrheit repräsentiert das von den Mainstream-Medien Abgebildete thematisch und nach dem Erfahrungskontext seiner medialen Macher eine beinah ausschließliche Mittelschichtperspektive, so lapidar der Soziologe Stefan Lessenich. Eine soziale Tatsache, die innerhalb dieses medial exklusiven Clubs für selbstverständlich genommen wird. Auch wird kein Wort darüber verloren, dass sich das mit der Gesellschaft im ganzen identifizierende „Wir“, das die Medien ständig im Munde führen, sogar innerhalb des Mittelschichtspektrums immer mehr einengt auf die tonangebende neue akademische Wissenselite.
Zu welcher der Autor dieser Zeilen, altersbedingt und den Lebensverhältnissen nach, sich nicht rechnen darf. Und er zählt auch nicht zu jenen heute Arrivierten und Etablierten seiner ehemals 68-er Genossen, die in einem gesellschaftlichen und intellektuellen Bündnis mit den Jüngeren mittlerweile eine Art linksliberale Meinungsführerschaft übernommen haben. Infolge dessen lässt sich für mich erst im Rückbezug auf den eigenen lebensweltlichen Horizont deutlich machen, warum ausgerechnet ich, gleichfalls Altachtundsechziger und keineswegs ein den Idealen der Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit Abtrünniger, in mancherlei Hinsicht und zuletzt anlässlich Corona und der die Pandemiebekämpfung flankierenden Solidaritätserzählung zu einer abweichenden politischen Einschätzung gelange.
Eine Gewittermail an ziemlich „älteste Bekannte“
Zur lebensweltlichen Erfahrung also. In ihr spielt ausgebliebene Solidarität eine wesentliche Rolle. Seit der existenzvernichtenden Verwandlung meines bzw. unseres Alltags in einen permanenten Ausnahmezustand, ist mir und meiner Alltagsbegleiterin und Blindenassistenz nur mit knapper Not gelungen, psychisch und sozial zu überleben. Nicht Corona und die Pandemiebekämpfung sind die Ursache, die Freiheitsberaubung und eine permanente Entwürdigung begannen bei uns vor nunmehr sieben Jahren. Doch das zeitlich Nahe zuerst.
Corona und die Scheidung der Geister. Corona scheidet die Geister bzw. an Corona scheiden sich die Geister, in der Öffentlichkeit und nicht minder im Privaten. Was mitunter noch einmal ganz besonders weh tut. Etwa wenn der Corona-Spaltpilz das eine Mal bislang beste Freunde befällt und in gegnerische Lager spaltet und das andere Mal „ziemlich älteste Bekannte“, wie in meinem Fall, Geburtsjahrgang 1951.
Eine Mail zur Illustration. Adressiert an eben jene „ältesten Bekannten“ aus Studienzeiten. Örtlich leben wir ohnehin seit über 30 Jahren getrennt, ich zuletzt in meinem nicht coronabedingten Lockdown im südbadischen Staufen, Hanne und Reinhard wohnen bereits jahrzehntelang in Berlin. Nun also, wenigstens dem Anlass nach coronabedingt, schicke ich den beiden die folgende Gewittermail in ihre Schöneberger Altbauwohnung.
Liebe Hanne, lieber Reinhard.
Sonntagmorgen am Radio, als ich beim Deutschlandfunk die Auszüge aus den Kommentarspalten der Tageszeitungen hörte, habe ich mich gefragt, ob nun auch ich für Euch zu denen gehöre, die sich mit jener „pöbelnden Minderheit“ gemein machen, von der in der Berliner Morgenpost die Rede war. Wobei die „pöbelnde Minderheit“ noch nicht einmal die pöbelhafteste Infamie gewesen ist, mit der dieser Kommentar das Gift seines gesunden bürgerlichen Mehrheitsempfindens versprüht. Und via Deutschlandfunk bundesweit die zwischenmenschliche Atmosphäre vergiftet. Ich habe mich auch gefragt, ob Ihr euch, falls euch ein derartiger Kommentar ebenfalls unerträglich vorkommen sollte, dazu aufraffen würdet, einen Leserbrief an diese ungenießbare Morgenpost zu schreiben. Wohl kaum.
Woran mir einmal mehr deutlich wird, wie sehr wir uns über die Jahrzehnte der Lebensmitte, in denen wir nur sporadischen Kontakt und Austausch hatten, in unserer äußeren Existenzweise wie auch in den Lebensauffassungen und geistigen Interessen auseinandergelebt und einander entfremdet haben. Was bei mir beispielsweise zu der folgenden Wahrnehmung geführt hat, wie ich sie neulich in meiner Mail an Heinrich zu seinem Siebzigsten ausgedrückt habe. „ … die wenigen alten Bekannten verhalten sich mittlerweile ebenso sozial und politisch angepasst, denkfaul und leisetreterisch, wie wir es damals gemeinsam bei denen aus unserer Elterngeneration beklagt haben.“ Mit wachsenden Befremden stelle ich nicht erst in den letzten Jahren fest, dass nicht wenige unserer GenerationsgenossInnen von einst sich als Teil der „großen radikalen Mehrheit“, wie man sie inzwischen ja bezeichnen muss, so gut aufgehoben finden, wie wir uns damals gemeinsam in jener „kleinen radikalen Minderheit“ richtig positioniert und pudelwohl gefühlt haben.
Wie wirtschaftlicher und sozialer Status die Geister prägt und ihren Blick auf die Welt relativiert
Ich formuliere eine weitere Mail an die Berliner, die ich aber nicht abschicke. Mir geht es mehr darum, die vom Zahn der Zeit und zuletzt von Corona bewirkte Scheidung der Geister nun auch meinerseits bewusst zu vollziehen. Hanne und Reinhard sind übrigens geimpft und geboostert, sie wolle schließlich nicht an Corona sterben, hat sie mir am Telefon gesagt.
Liebe Hanne und Reinhard, spreche ich auf mein analoges Diktiergerät, mir geht im Anschluss an meine vorige Mail noch weiteres durch den Kopf, worüber ich mir in einem inneren Gesprächsmonolog mit euch, nachdem eine realer Dialog tatsächlichen miteinander Sprechens die Jahre über nicht stattgefunden hat, endlich Klarheit verschaffen möchte. Und mir scheint, ich bin mit meinem Klärungsbedarf eher im Hintertreffen. Denn nachdem, was Du Hanne einmal am Telefon gesagt hast, steht für Dich längst außer Frage, dass wir uns im Laufe der Jahre entfremdet haben. Und zwar menschlich und gesellschaftlich einander entfremdet haben, etwas formelhaft gesprochen. Die Entfremdung in der politischen Wahrnehmung und Einstellung, wie sie aktuell durch Corona zutage tritt, wäre sozusagen lediglich ein Nebenprodukt tiefer liegender Verwerfungen. Über die uns, so hätten wir das früher genannt, eine „Klassenanalyse“ Aufschluss geben kann. Einen Fingerzeig in diese Richtung, was bei Euch die „Klassenlage“ täglich mit Eurem Geist macht, hast Du Hanne, mir ebenfalls einmal am Telefon gegeben.
Jahrzehntelang jeden morgen ins „Geschäft“ und abends „erledigt“ nachhause – du die Sozialpädagogin bei der AWO, Reinhard der Jurist im Innenministerium –, was am Abend gerade noch geht, ist Fernsehen, sagst du, dann ins Bett. Was sich im ersten Moment nach „zur Lage der arbeitenden Klasse in Berlin-Schöneberg“ anhört, ist es natürlich nicht. Ihr besitzt eine Eigentumswohnung und bezieht eine euren Mittelschicht-Lebensstandard sichernde Rente bzw. eine Beamtenpension. Ihr könnt reisen und wenn ihr zuhause seid, schaut ihr nicht bloß fern, sagst du, sondern lest „immerhin“ auch die Süddeutsche.
Wäre dies nicht der Zipfel, überlege ich einen Augenblick, um doch noch mit euch in ein inhaltliches Gespräch zu kommen? Die Wissenschaftsjournalistin der SZ Christina Berndt, so ließe sich anknüpfen, habe ich dieser Tage mehrmals in Corona-Gesprächsrunden im Radio gehört, ich muss schon sagen, eine besonders eifrige Nachbeterin der Verlautbarungen aus dem medizinisch-pharmaindustriellen Komplex, jedenfalls das Gegenteil von investigativem Journalismus. Um so interessanter für mich, dass der Jurist Heribert Prantl, den Reinhard so sehr schätzt, unverblümt von „Drangsalierung der Ungeimpften“ spricht und sich fassungslos zeigt über den Maßnahmen-Blankoscheck, den das Bundesverfassungsgericht im Urteil zur Bundesnotbremse der regierungsamtlichen Coronapolitik ausgestellt hat. – Auch wenn ich nicht weiß, was ihr mir antworten würdet, ich fürchte, mit meinem Dialogversuch auf dem Holzweg zu sein. Bin ich doch schon wieder dabei, außer Acht zu lassen, eure und meine Perspektive auf die Verhältnisse sind verschieden, so wie unser gesellschaftlicher Erfahrungshintergrund ein unterschiedlicher ist. In gewisser Weise trifft beides zu: Wir erleben jeweils anders und wir erleben etwas anderes. Was ich mir beispielsweise vergegenwärtigen kann, höre ich von eurer Besorgnis über die Verrohung und den Hass am rechten Rand und in den sozialen Medien und spüre im selben Moment, dies ist zugleich eure Alibirede, mit der ihr euch über den mehrheitsgesellschaftlichen Verhaltensanteil an einer weit über jenen Rand hinausreichenden gesellschaftlichen Verrohung und politisch-institutionellen Verwahrlosung gewissermaßen hinweglügt.
Wohingegen wir am hiesigen Ort, im Staufener Kleinstadtiyll, „hautnah“ und nicht erst in jüngster Zeit jene beklagenswerte Realität erleben. Die vom Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer treffend so bezeichnete „rohe Bürgerlichkeit“ erlebe ich in der zivilgesellschaftlichen Gleichgültigkeit uns gegenüber und die politische oder institutionelle Verwahrlosung, die ich meine, in der behördlichen Untätigkeit (ob städtisches Ordnungsamt, Polizei oder Staatsanwaltschaft).
Soweit mein nicht abgeschickter Mailentwurf an die Berliner. Die sich ganz offensichtlich schwer damit tun, sich kognitiv und affektiv, also gedanklich wie erlebnismäßig, in uns und unsere Lage zu versetzen. Einmal die Perspektive des oder der anderen einzunehmen. Ergo, die des erblindeten Kulturwissenschaftlers und Autors, der seit Jahren „grundgesichert“ von einem bescheidenen Transfereinkommen lebt und die seiner Alltagsbegleiterin, die ihre berufliche Tätigkeit infolge des inzwischen siebenjährigen Ausnahmezustands am Staufener Wohnort hat aufgeben müssen. Und die in einer Mietwohnung leben, die über die Hälfte ihres gemeinsamen monatlichen Budgets verschlingt (räumlich nicht beengender und Sicherheit gewährender Wohnraum ist für einen Blinden elementar).
Soziale Existenzvernichtung am helllichten Tag: Solidarität? Fehlanzeige!
Wie bereits gesagt, nicht Corona ist die Ursache. Wenn es der Virus nicht gewesen ist, was dann? Hier in wenigen Sätzen, was uns zugestoßen ist. Viele nicht glauben wollen und am Ort des Geschehens verschwiegen wird. Es handelt sich nicht um ein einmaliges „Vorkommnis“, das kein Mensch beobachtet hat, der oder die bezeugen könnte, dies ist tatsächlich geschehen. Im Gegenteil, es geschieht am helllichten Tag, wieder und wieder. Und Menschen – Anwohner, Nachbarn haben es mitbekommen, wiederholt beobachtet, wissen also davon und könnten das Geschehene bezeugen.
Was seit Jahren geschieht: Ein dem Drogen- und Kleinkriminellenmileu entstammender Täter mit brauner Gesinnung, der sich die Opfer seiner Nachstellung und Aggression unter Schwachen und Wehrlosen sucht und es mithin auch auf mich, den Erblindeten, wie nicht minder auf meine Begleiterin abgesehen hat. Zu den verbalen Übergriffen und sogar tätlichen Angriffen auf uns fühlt er sich einmal mehr ermuntert, weil ihm eine langjährige Erfahrung zeigt, dass er nichts zu fürchten hat. Weder seitens der Anwohnerschaft, die ihre Ruhe haben will. Der Behinderte und seine Begleiterin sind zudem Zugezogene, die im Zweifelsfall als Störenfriede gelten. Noch muss der Täter fürchten, von Seiten der städtischen Ordnungsbehörden „sanktioniert“ oder auch nur ernsthaft ermahnt zu werden. Anzeigen bei Polizei und Staatsanwaltschaft sind im Sande verlaufen (von weiblichen Stalking-Opfern wird in der Regel Gleiches berichtet). Die Weigerung der Lokalpresse über das Geschehen zu berichten, da Mobbing mittlerweile zum Alltag gehöre, wäre ein Kapitel für sich.
Die vorläufig letzte Etappe unserer bitteren Enttäuschungserfahrung bezüglich „Beistand und Solidarität“ mit Vulnerablen: von Freunden und Bekannten, die nicht vor Ort zuhause sind, sondern anderswo in der seit Corona regierungsamtlich und parteiübergreifend ausgerufenen Republik der Solidarischen, wird uns telefonisch auf kürzestem Weg beschieden, „Augen zu und durch“.
Ein Corona-Anschlag und die angeblich solidarisch zusammenstehende Gesellschaft kümmert es nicht
Was für ein Corona-Anschlag? Nicht der, von dem die Abendnachrichten während des ersten Lockdown über eine Anti-Corona-Demo berichten, jugendliche Randalierer, die keine Maske tragen, einer von ihnen nähert sich einem Polizisten und hustet ihm ins Gesicht. Die Verkörperung des staatlichen Gewaltmonopols reagiert auf der Stelle, Null-Toleranz, der Corona-Attentäter wird festgenommen, Gerichtsverhandlung und Urteil werden folgen.
Nichts von alledem in unserem Fall. Dem ersten Corona-Attentat – es ist nicht das letzte – auf meine Mitbewohnerin, die Alltagsbegleiterin des vom gleichen Täter drangsalierten Behinderten in einer Staufener Altstadtgasse. – Bepackt mit unserem Lebensmitteleinkauf betritt sie die Gasse, es ist das Frühjahr 2020, es gelten strenge Corona-Vorschriften. Als sie sich der Haustür nähert, wird sie auf Höhe des Nachbarfensters im ersten Stock, gleichsam aus dem Hinterhalt, mit den Worten in Empfang genommen, „da hast du dein Corona“ und aus einem leergelöffelten Joghurtbecher mit einer schlierigen Flüssigkeit übergossen.
In einem bis dato nicht publizierten Manuskript mit dem Titel Ewiger Faschismus in der Provinz habe ich festgehalten, was sich unmittelbar darauf zugetragen hat und wie es uns in den darauffolgenden Tagen ergangen ist, alleingelassen mit dem psychischen Trauma des tätlichen Angriffs. – Nicht genug damit, dass wir, die Opfer, keinen zivilgesellschaftlichen und behördlichen Beistand erfahren, dem Täter wird überdies Täterschutz gewährt. Während im Falle des Stuttgarter Corona-Anschlags der jugendliche Täter die volle Härte des Gesetztes, sprich der polizeilichen und gerichtlichen Sanktionsgewalt zu spüren bekommt, bleibt der Staufener Corona-Attentäter unsanktioniert, kommt in den Genuss staatsanwaltschaftlicher Milde.
Aus dem Schreiben des Staatsanwalts, mit dem er unsere Strafanzeige gegen den Täter niederschlägt. Corona spielt darin gleich gar keine Rolle mehr: „ … wird sich nicht nachweisen lassen, dass die Geschädigte von der Flüssigkeit oder dem Becher durch den Beschuldigten tatsächlich getroffen wurde. Jedenfalls ist ein Verletzungsvorsatz des Beschuldigten nicht nachweisbar, da nicht hinreichend sicher feststellbar, dass er vorsah und zumindest billigend in Kauf nahm, dass die Geschädigte die von ihr geschilderten psychischen Reaktionen erleidet … Angesichts des vom Beschuldigten nicht widerlegbaren Anlasses des Ausschüttens von Wasser, wird sich auch nicht nachweisen lassen, dass der Beschuldigte die Geschädigte durch das Ausschütten von Wasser in ihrer Ehre verletzten wollte, vielmehr kommt ebenso in Betracht, dass er diese hierdurch einfach ärgern wollte, so dass auch der Tatnachweis bezüglich einer Beleidigung nicht geführt werden kann.“
Was ist das Gegenteil einer „Sternstunde der Demokratie“?
Gelegenheit für ein vorläufiges Fazit: Mobbing und Stalking am Wohnort, verbale und tätliche Angriffe, soziale Existenzvernichtung, ein Corona-Anschlag, der nicht geahndet wird, statt behördlicher Intervention und zivilgesellschaftlicher Solidarisierung mit den Opfern, Täterschutz – das ungeschmälerte, real existierende Kontrastprogramm zum coronaideologischen Solidaritätsgerede. Mit dem, was ich vorangehend geschildert habe und anhand dessen ich meine „klassenanalytische“ Scheidung der Geister nun generell auf die „intellektuellen Peers“ bezogen abschließe, dürfte beim Stichwort Solidarität deutlich geworden sein: Die beträchtliche Fallhöhe nämlich eines ideologisch verquer gedachten und zu Manipulationszwecken missbrauchten Begriffs von Solidarität zu dessen ursprünglichen Bedeutung und Substanz. Und man muss diese Sinnverkehrung, die der Begriff der Solidarität gegenwärtig erfährt, nur einen Moment lang verfolgen, um gleich auf die nächste Sinnverdrehung zu stoßen, die im Verständnis von Demokratie. Beide Weisen, den genuinen Sinn eines politischen Begriffs regelrecht auf den Kopf zu stellen, gehen augenblicklich Hand in Hand.
Was ist das Gegenteil einer „Sternstunde der Demokratie“? Zum Beispiel die Aufforderung des Bundespräsidenten, die übergroße Mehrheit der in der Pandemiebekämpfung Solidarischen weil Geimpften möge endlich aufstehen gegen die kleine Minderheit der Unsolidarischen weil Ungeimpften. Ist dieser Demonstrationsaufruf, der eine an der Wahrnehmung ihres politischen Mehrheitswillens überhaupt nicht gehinderte Majorität gegen eine Minderheit mobilisieren möchte, die nur durch lautstarken Protest auf sich und ihr Anliegen aufmerksam zu machen vermag – ist diese präsidiale Anstiftung zum symbolischem Selbstschutz der Mehrheit vor der Minderheit nicht eine höchst bedenkliche Verkehrung des urdemokratischen Prinzips Minderheitenschutz gegen eine übergriffige Mehrheit? Ein Ansinnen, das mithin das Gegenteil einer „Sternstunde der Demokratie“ ist.
Für mich, den Altachtundsechziger, war es ein Deja-vu, Steinmeier so in der Rolle des obersten politischen Repräsentanten agieren zu sehen. Ich musste daran denken, wie anno 1967/68 Berlins Oberbürgermeister Klaus Schütz – Nachfolger des nach den studentischen Anti-Schah-Protesten von diesem Amt zurückgetretenen Heinrich Albertz – die „schweigende Mehrheit“ der Westberliner Bürger zur Massendemonstration gegen die „kleine radikale Minderheit“ der Protestierer aufrief. Einhunderttausend Westberliner versammelten sich daraufhin zu einer Kundgebung auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Während der Rede des Bürgermeisters, in der er gegen den damals mehrheitsgesellschaftlich und massenmedial so bezeichneten „politischen Mob“ bez. das „langhaarige Pack“ gehörig vom Leder zog, kam es am Rande der Versammlung in Momenten einer aufflackernden Progromstimmung zu Handgreiflichkeiten gegen die so Stigmatisierten. – Alle drei Politiker übrigens – Albertz, Schütz und Steinmeier – haben Karriere in einer Partei gemacht, deren Entstehung wesentlich vom Gedanken der Solidarität inspiriert wurde. Worunter man damals noch nicht vollkommen sinnentstellt x-beliebige Weisen von Kooperationsbereitschaft verstanden hat, einschließlich der durch moralische Erpressung erzwungenen. Vielmehr die aus kollektiv erfahrener sozialer Not entstandene gegenseitige Unterstützung und Hilfsbereitschaft unter „Mühseligen und Beladenen, Erniedrigten und Beleidigten“ mit Ernst Bloch zu sprechen. Solidarität nicht als Lückenbüßer für eine von den Regierenden und den herrschenden Eliten zu verantwortende soziale und politische Misswirtschaft.
Steinmeier hat unlängst noch einmal nachgelegt. Indem er die sich solidarisch verhaltende Mehrheit auffordert, es nicht länger schweigend hinzunehmen, wie eine die Solidarität verweigernde Minderheit durch ihr rücksichtsloses Auftreten „die Axt an die Wurzel unseres demokratischen Urvertrauens legt“. Bei dieser ans Demagogische grenzenden Äußerung bleiben Psychologie und Logik auf der Strecke. Das Vertrauen in die Demokratie gefährdet nicht eine sich zur Wehr setzende Minderheit, die nur ihre demokratischen Rechte wahrnimmt. Zerstört wird Vertrauen in demokratische Abläufe durch eine rabiate Mehrheit, die sich blindlings über Minderheitsschutz und -rechte hinwegsetzt. Wenn darüber hinaus die Vierte Gewalt im Staat, Presse und Medien, quasi mehrheitsgesellschaftlich gleichgeschaltet, Meinungen und Anliegen jener Minderheit gar nicht mehr abbildet oder sie lediglich grell verzerrt darstellt und damit diffamiert, dann wird hier tatsächlich die Axt nicht nur an die Wurzeln demokratischer Vertrauenswürdigkeit gelegt, sondern gleich die reguläre Funktion des demokratisch verfassten institutionellen Systems ausgehebelt.
Und überhaupt, was hat die Steigerung „Urvertrauen“ überhaupt in der Politik zu suchen, wo prinzipiell Wachsamkeit und kritische Prüfung gefragt sind. Ich vermute, intellektuelle Fehlleistungen wie Steinmeiers „demokratisches Urvertrauen“ sind einer wachsenden Nervosität der Regierenden geschuldet angesichts schwindender Massenloyalität, selbst in der Mehrheitsgesellschaft bröckelt mittlerweile das blinde Vertrauen in ein rational nicht länger zu rechtfertigendes Pandemieregime.