Staufen (kobinet) Einer der ältesten, menschheitsgeschichtlich frühesten Aktivisten, Menschenfreund und Friedensaktivist, hielt einst auf einem Berg eine Rede, in der er sagte: Wird dir ein Schlag auf die Backe versetzt, so halte dem Schläger auch die andere hin. Zuvor hatte er in seiner Predigt die Sanftmütigen und die Friedfertigen selig gepriesen. – Warum gerade mich, einen Behinderten, die Empfehlung des Bergpredigers und Aktivisten beschäftigt, notiere ich in dieser Juli-Kolumne. Solange es nicht zu heiß ist und ich vorerst keine körperlichen Schläge zu fürchten habe.
Was muss geschehen, damit der Krieg nicht zu uns kommt?
Dieser Krieg mitten in Europa, der zur Zeit in der Ukraine tobt. Damit dieser schreckliche Krieg dort bleibt und auch dort zu einem Ende gebracht wird. – Dazu müssen die Angegriffenen vor Ort den Angreifer zurückschlagen und den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen. Und dieser Sieg wird dadurch ermöglicht, dass wir in genügender Stückzahl die dafür erforderlichen Waffensysteme liefern. Wenn das nicht geschieht, so die Russland-Kennerin und Journalistin beim Deutschlandfunk Sabine Adler wörtlich, „dann kommt der Krieg auch zu uns“.
Klare Botschaft. Wie es uns Behinderten ergehen würde, wenn das geschähe, also der Krieg auch hier zu uns käme, solches mochte ich mir nach der Wenn-Dann-Vorhersage der Expertin gar nicht mehr vorstellen. Erst recht, nachdem ich, ebenfalls auf Deutschlandfunk, den Bericht über die Flucht eines alten Ehepaars aus Mariupol gehört hatte. Die beiden Alten waren, es kam einem Wunder gleich, schließlich in Stuttgart angekommen, wo sie der Autorin des Rundfunk-Features ihre Geschichte erzählten. Wie es ihnen gelungen sei, aus dem zerstörten Theater in Mariupol nach draußen zu gelangen, wie dort zufällig ein Rollstuhl stand, in den der Mann seine beinverletzte Frau setzt, die er dann stadtauswärts durch die von Granattrichtern übersäten Straßen schiebt. Sie sei vor Schmerzen ohnmächtig geworden und er immer wieder vor Erschöpfung gestürzt. Granaten flogen über ihre Köpfe hinweg oder detonierten in der Nähe. Soll uns doch eines der Geschosse treffen, sagten sie sich in ihrer Verzweiflung, sollen sie uns doch töten, dann ist es endlich vorbei.
Ich weiß nicht, wieso mir gerade dieses Bild oder Vorstellungsbild von den beiden Alten auf ihrer einsamen Flucht aus Mariupol derart nahe geht. Vielleicht aus Angst vor einer Vorstellung, die sich in meinem Kopf einnisten könnte. Die Vorstellung, wie ich mit meinem Blindenstock und von Silvia am Arm geführt, also diesmal wir beide unter Artilleriebeschuss allein und verlassen durch die Staufener Altstadt irren. Nachdem der Krieg auch hier zu uns gekommen wäre, wie es die Strategin Sabine Adler für den Fall vorhergesagt hat, dass wir zu wenige oder nicht die richtigen Waffen liefern und die Ukraine diesen Krieg, solange der noch ausschließlich dort wütet, nicht gewinnt, sondern verliert. – Wir beide, der blinde 72-Jährige und meine um wenige Jahre jüngere Begleiterin, im Bombenhagel oder Granatfeuer auf der Flucht. Das mag ich mir nicht vorstellen, es widerstrebt mir. Theatralisch käme ich mir vor, wie ich da in häuslicher Sicherheit und fernab vom realen Kriegsgeschehen in meiner Vorstellung Kriegstheater spiele und die entsetzliche Wirklichkeit um das kriegszerstörte Theater in Mariupol nur Anlass für mein Kopfkino wäre. Irgendwie falsch. Und wie zur Bestätigung lese ich wenig später bei Marlene Streeruwitz gleich zu Anfang ihres „Handbuchs gegen den Krieg“ die Worte „Krieg und alles ist falsch“.
Außerdem bleibt bei der Expertin vom Deutschlandfunk etwas gänzlich unbeantwortet, das uns doch zutiefst beunruhigen müsste: Wenn der Krieg auch zu uns käme, weil die Ukraine trotz unserer Waffen nicht siegreich sein sollte, was das dann für eine Art von Krieg wäre, der hier bei uns stattfände. Ob sie da überhaupt weiterdenkt? Ich selber kann nicht anders als weiterdenken an dieser Stelle, strategischer Laie hin oder her, verdrängen geht nicht. Wenngleich ich mir das Kriegsszenario in diesem Fall gleich gar nicht vorstellen oder ausmalen mag.
Wenn ihr verzweifelter Hass Menschen kollektiv in eine „Michael-Kohlhaas-Psychose“ treibt
Ungefähr zur selben Zeit in diesem zweiten Kriegsjahr, April oder Anfang Mai, hörte ich auf SWR2 ein Gespräch des Journalisten Martin Durm in Kiew mit dem Leiter der dortigen Holocaust-Gedenkstätte, Anatoli Podolski. Auch seine jüdische Herkunftsfamilie wurde von den Nazis ausgelöscht und nun muss er um sein eigenes Leben fürchten. Daher will er, dass in diesem Krieg sein Land den Sieg um jeden Preis erringt. Auf die Frage, ob man nicht fürchten müsse, vor einer Niederlage werde Russland Atomwaffen einsetzen, antwortet er, davor habe er keine Angst, er spüre in sich nur ein einziges Gefühl, Hass. – Eine Reaktion, auf die man anscheinend bei nicht wenigen Menschen in oder aus der Ukraine stößt. So etwa bei der in Deutschland lebenden und auf deutsch schreibenden Autorin Katja Petrowskaja, die Putins Drohung mit Atomwaffen für eine reine Drohung hält, mit der er den Westen davon abhalten wolle, die Ukraine weiter mit Waffen zu beliefern. Sollte sich jedoch herausstellen, es ist keine Drohung gewesen, so schrecke sie auch dies nicht, dann sei es eben so.
Nochmals, mir vorstellen, wie das dann wäre, dieser Einsatz von Atomwaffen in Europa, ob nur in der Ukraine oder auch hier bei uns, mir dies vorstellen, das will ich nicht. Was ich allerdings von mir verlange, ist diejenigen zu verstehen, denen eine solcher Kriegsverlauf „egal“ ist, gleichviel, ob aus Verzweiflung oder aus Hass. Von Empathie reden ist das eine und hierzulande wird mehr über Empathie geredet als letztendlich an Einfühlung an den Tag gelegt wird. Empathie mit Stimmen wie den soeben gehörten, die einen Nuklearkrieg in Kauf zu nehmen bereit sind, fällt mir schwer. Aber ich versuche es, auch mit ihnen „mitzufühlen“.
Zu verstehen, was in ihnen vorgeht, ausgelöst von seelischem Schmerz und einem Tsunami negativer Gefühle – dies zu verstehen bedeutet nicht, es gutheißen. Aber vielleicht ist es die Voraussetzung dafür, mit den Betreffenden darüber zu sprechen, statt sie mit ihrem inneren Tumult alleine zu lassen oder dessen zugleich autodestruktiven wie möglicherweise welt- und menschenvernichtenden Konsequenzen zu überlassen. Der Gedanke und der ihn befeuernde Affekt ist so alt wie die menschliche Gewaltgeschichte: Es möge Gerechtigkeit geschehen, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht (Fiat iustitia et pereat mundus). Sozusagen gemeinsam ein schier unerträgliches Gefühl und seine zerstörerischen Impulse aushalten, verstehend und mitfühlend gemeinsam an dieser Last tragen – vielleicht dass dann ein wenig Hoffnung bestünde, einer fatalen Logik zu entgehen und sich von ihr nicht kollektiv in eine „Michael-Kohlhaas-Psychose“ mit vermutlich tödlichem Ausgang für alle treiben zu lassen.
Aber wer weiß, setze ich mich mit diesem Selbstanspruch – mitfühlen mit der tatsächlichen oder auch bloß gefühlt anderen Seite, deren Motiven und seelischen Abgründen – nicht zwischen alle Stühle? Jetzt, da die meisten, die das Privileg genießen, sich an medial maßgeblicher Stelle äußern zu können, psychologisch dem Gesetz des geringsten Energieaufwands folgen und der nun einmal in Gang gekommen kriegspsychotischen Irrsinnslogik von Schlag und Gegenschlag weiterhin propagandistisch das Wort reden. Und dies auch ohne die innere Not unmittelbar persönlichen Involviertseins in das Leid geschichtlicher Gewalterfahrung.
Staatspolitische Tugenden der Stunde: Schärfe, Wehrhaftigkeit und Kriegsbereitschaft
Was ich mit Schärfe meine, Schärfe im Ton zunächst: „Diese russische Führung führt einen Krieg gegen alles und jeden, Hauptsache töten und zerstören. Deshalb hat die Ukraine nur diesen einen Weg, ihre Gebiete zu befreien, auch wenn es noch so riskant ist. Und genau deshalb haben die demokratischen Staaten keine andere Wahl als die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen. Das massenhafte wahllose Töten muss gestoppt werden. Handeln die westlichen Staaten nicht endlich konsequent und hart, wird der Preis höher sein als ein paar Panzer. Es wird die Freiheit, die Demokratie und den Wohlstand kosten.“ – So die Scharfmacherin Gesine Dornblüht im Deutschlandfunk-Kommentar (vom 10.06.2023), Kollegin von Frau Adler und wie sie Russland- und Osteuropaexpertin beim Sender.
Schärfe, Wehrhaftigkeit und Kriegsbereitschaft. In Einstellung und Verhalten markieren sie den Gegenpol zu Sanftmut und Friedfertigkeit. Mehr noch, diese letzteren, Sanftmut und Friedfertigkeit, werden durch die aktuelle Konjunktur jener tendenziell abgewertet und diskreditiert, drohen selbst in sozialen Zusammenhängen aus unserem Verhaltensrepertoire verdrängt zu werden, wo sie nützlich und notwendig sind, für ein humanes Miteinander unentbehrlich. Solches fürchte ich als jemand, der wegen seiner Behinderung im besonderen Maße auf Behutsamkeit, Rücksichtnahme und Freundlichkeit im zwischenmenschlichen Umgang angewiesen ist und dem darum die Zunahme scharfer Töne in der Öffentlichkeit Sorge bereitet, jene Stimmen, die sich dem Tenor nach sämtlich anhören wie der Ruf, „zu den Waffen, Brüder und Schwestern!“
Prüfen selbstverständlich muss ich diese Stimmen, die nach Rüstung und Aufrüstung, Waffenlieferungen und entschlossener Feindabwehr rufen. Behaupten sie doch, ihre Politik sei auch in meinem Interesse. Die Vulnerablen in unserer Gesellschaft, Behinderte, Kranke und Alte, seien mehr als andere auf diesen Schutz angewiesen. Hätten wir unter einem Angriffskrieg und unter feindlicher Besatzung nicht als erste und am stärksten zu leiden? Einem Krieg hier bei uns wären wir Behinderte doch am hilflosesten ausgeliefert, ungeschützt ginge es uns, flapsig gesagt, zuerst an den Kragen. – Widerlegen kann ich diese Argumentation für bewaffnete Wehrhaftigkeit und Kriegsbereitschaft auch um meiner Sicherheit willen leider nicht.
NATO-General a.D. Domröse erklärt mir schon morgens im Radio: „Jeder möchte doch in Sicherheit leben. Das ist doch wie zuhause mit dem Dorfpolizisten, der einem über die Straße hilft und den Ganoven fängt, der das Fahrrad geklaut hat und den Einbruch verhindert. So ist es doch auch wichtig zu sagen, in unser Land bricht kein Fremder ein. Ich glaube, das versteht die Bevölkerung“. – Eine perfide Überredungsstrategie. Am harmlosen Beispiel unwiderlegbarer Alltagsplausibilität möchte der General a.D. anlässlich des NATO-Manövers „Air-Defender“ uns nötigen, vertrauensselig einem gigantischen Kriegsspiel unseren Segen zu erteilen (Deutschlandfunk 13.06.2023). Wie der ins Schwarze treffende Kommentar hierzu liest sich, was Marlene Streeruwitz in ihrem Handbuch gegen den Krieg lapidar mit den Worten festhält: „Krieg ist Erpressung. Es ist Erpressung über den Wunsch, am Leben bleiben zu wollen. Leben zu können.“
Selbstportrait eines Kriegshandwerkers: Vertrauenerweckend und beruhigend?
Anhaltend unbehaglich fühle ich mich, wenn ich mich gesellschaftlich umblicke oder umhöre und dabei feststelle: Von nun an und wer weiß für wie lange sind nicht Sanftmütige, sondern Scharfmacher und Scharfmacherinnen, keine Friedfertigen, sondern Wehrtüchtige und Kriegsbereite gefragt und gesucht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich daraufhin testen möchte, ob mein Unbehagen vielleicht abnimmt, wenn ich mir so einen energisch und robust und zugleich beherzt zupackenden Kriegshandwerker, dessen Schutzbefohlener ich gewissermaßen wäre, einmal aus der Nähe ansehe.
Was einer gelernt hat, das möchte er auch anwenden und einmal mehr, wenn es einem guten Zweck dient. So steht der kriegshandwerklich perfekt ausgebildete und dank Afghanistan praxiserprobte Bundeswehrsoldat Jonas Kratzenberg an einem Sonntagmorgen mit gepackten Koffern im Schlafzimmer seiner nichtsahnenden Eltern, um ihnen seine sofortige Abreise in die Ukraine mitzuteilen. Er wolle kämpfen, er müsse kämpfen, wozu sonst seine Ausbildung bei der Bundeswehr, all das Wissen und die exzellenten Fähigkeiten, die er sich in der direkten Feindberührung beim Afghanistaneinsatz erworben habe. – Wieder zurück aus der Ukraine nach einer schweren Verwundung hat er im Buch Schützenhilfe seine dortige Kriegserfahrung aufgeschrieben. Im ZDF-Talk bei Markus Lanz bekennt er, „immer vom Militär fasziniert gewesen“ und daher auch zur Bundeswehr gegangen zu sein.
In die Ukraine zu gehen, um zu kämpfen, habe für ihn „zwei Hauptkomponenten“ gehabt. „Die persönliche Komponente, dass ich als Soldat das Gelernte auch irgendwo anwenden will und das als Soldat selbst im Gefecht abbilden möchte.“ Zweite Hauptkomponente, weil ihn „das Leid der Ukrainer irgendwie getroffen“ habe, „diese Unrechtmäßigkeit des Angriffskrieges“, aber auch „die mangelnde Unterstützung des Westens und vor allem von Deutschland“.
Ein nicht unsympathischer junger Mann mit edler Gesinnung, der aus ethischer Motivation handelt. Empörung über Ungerechtigkeit und dass er einfach etwas dagegen tun müsse, Gefühle und Empfindungen, die mir alles andere als fremd sind. Was mich hingegen befremdet und mir alles andere als geheuer ist: Wie dieser Mensch es fertig bringt, psychisch vor allen Dingen, sich in der Gefechtszone gleichsam auf Knopfdruck in eine Kampfmaschine zu verwandeln, in einen gut geölten Tötungsautomaten. Unmittelbar vor dem Kampfeinsatz denke man „an die glorreichen Dinge, die tollen Dinge, die man da erleben kann“. Nicht, so sagt er, „dass dabei jeder Soldat Bock auf Töten hat, aber es ist eine Notwendigkeit“.
Kein Töten, auf das man unbedingt Bock hat, aber ein Töten, das notwendig ist. Meine Ratlosigkeit indessen, meine innere Not wendet sich nicht, wenn ich diesem coolen Realismus und seinem abgeklärten Sprechen zuhöre. Ich kann nicht sagen, dass es mich fröstelt, aber Vertrauen oder Zutrauen zu jemandem, als dessen Schutzbefohlener ich mich zu imaginieren versuche, will sich auf diese Weise bei mir nicht einstellen. Warum es mich nicht fröstelt, könnte daran liegen, dass der bloße Gedanke an eine menschliche Tötungsmaschine und ihr Funktionieren auf dem Schlachtfeld mich selber einen Moment lang in deren inneren Zustand versetzt, nämlich den, nichts mehr zu fühlen. – Im Handbuch gegen den Krieg lese ich: „Krieg ist gemacht. Krieg ist kein Naturereignis. Krieg ist eine sorgfältig konstruierte Maschine der Gewalt.“ Was eine Erklärung ist, aber kein Trost.
Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen?
Für die digital Aufgeschlossenen unter den Teilnehmenden am Evangelischen Kirchentag in Nürnberg wurde die beliebte KI Chat GPT um eine passende Predigt zum Kirchentagsmotto „Jetzt ist die Zeit“ gebeten. Kaum etwas passt hier doch besser dachte sich Chat GPT, als jene populäre Stelle aus dem biblischen Buch Kohelet , wo es sinnfällig heißt, „es gibt eine Zeit zum Töten und es gibt eine Zeit zum Heilen“. Und so trug es denn die intelligente Maschine auf dem Kirchentag vor. Und ließ es offen, welche der beiden Zeiten zur Zeit gerade dran ist.
Als ich das am Radio hörte, kam mir meine Jugend in Erinnerung, wie ich im Radio die Birds ihren Popsong turn turn singen höre: „There is a season for everything, turn turn, a time for love and a time for hate, a time for war and a time for peace.“ (Es gibt für alles eine Zeit, eine Wende, eine Zeit für Liebe und eine Zeit für Hass, eine Zeit für Krieg und eine Zeit für Frieden) – Keine Ahnung, wie es den Leuten auf dem Kirchentag ging. Für mich hat sich die an das schöne Lied und die gelungene Kirchentagspredigt von Chat GPT wie von selbst anschließende Frage bereits beantwortet, in welcher Zeit wir uns denn jetzt gerade befinden.
Um eine Zeit des Heilens dürfte es sich schwerlich handeln. Wo der gelernte Kriegshandwerker Kratzenberg und sein älterer Berufskollege General a.D. Domröse förmlich darauf brennen, das Gelernte, ihr Wissen und Können anzuwenden, umzusetzen, an den Mann zu bringen. Unter Beweis zu stellen, wozu sie alles fähig und im Stande sind, sei es als fleischlicher Tötungsautomat im Nahkampf oder großräumig und in der Fläche mittels unserer Waffensysteme – „der air force wie jetzt beim Manöver air defender, der landforces zum Schutz der Landbevölkerung“. Die Anglizismen sprudeln nur so heraus aus Domröse, „lessons to learn“, denn auch militärisch lernt man nie aus und der höllische Lärm, den unser Militär am Boden und in der Luft erzeugt, ihm fällt dazu „sounds of freedom“ ein, wir, die Bevölkerung verstünden das, diese ohrenbetäubende Garantiebezeugung unserer Freiheit und Sicherheit.
Nach einer solch geballten Ladung Überredungskunst könnte kirchentäglich allenfalls noch einer querschießen. Der legendäre Querulant aus dem alten Palästina. Der frühe Friedensaktivist und Bergprediger. Ich stelle mir vor, wie er uns ins Gewissen reden würde: Leute, lasst euch von diesen schlagkräftigen Kriegshandwerkern nicht ins Bockshorn jagen und geht für diesmal auch nicht der raunenden Rede des alttestamentarischen Propheten von den verschiedenen Zeiten auf den Leim. Ihr selber seid es, die darüber entscheiden, was für eine Zeit ist oder sein soll. Glaubt bloß nicht an ein Verhängnis durch meinen Vater im Himmel. Wenn es nach ihm und mir geht, soll allzeit Liebe und Gerechtigkeit sein.
Eine Erinnerung an meine Kindheit
Nach einem Gottesdienst für Kinder und Jugendliche schenkte mir der evangelische Gemeindepfarrer eine Ausgabe des Neuen Testaments mit besonders großen Buchstaben. Auch für ein von altersbedingter Sehschwäche heimgesuchtes Leserauge, sollte die Heilige Schrift noch lesbar sein. So konnte selbst ich, dessen allmähliche Erblindung bereits vor der Pubertät einsetzte, lesen, was dort stand. Zum Beispiel gleich zu Anfang Matthäus 5, die Seligpreisungen der Bergpredigt. „Selig sind die Sanftmütigen, denn ihnen wird das Erdreich gehören“, las ich da. Und weiter unten wurde den „Friedfertigen sogar das Himmelreich“ versprochen. Damals stieß ich mich an dem Wort „Erdreich“, ich dachte unwillkürlich an das Salatbeet meiner Mutter, an Schnecken und Würmer. Darüber vergaß ich die Sanftmütigen.
Heute – vollends erblindet, aber nicht gänzlich realitätsblind, denke ich wieder an sie. Ich habe den Eindruck, die Sanftmütigen und die Friedfertigen sind gegenwärtig die Bestgehassten und Meistgeschmähten unter der Sonne. Als „Gefährder“ werden sie beschimpft, ein öffentliches Sicherheitsrisiko im Abwehrkampf gegen den Angriff auf unsere Freiheit und unsere Werteordnung.
Nimmt es da Wunder, wenn sich die Sanftmütigen am liebsten im Erdreich verkriechen und die Friedfertigen ins Himmelreich verabschieden würden? Die beiden Territorien oder Reiche, die ihnen der in der Heiligen Schrift zu Wort kommende Lehrmeister, Rabbi, jüdische Dissident, Friedens- und Liebesprediger ihnen neutestamentarisch schließlich versprochen hat. Den Herrschaften über die Zeitläufte des Tötens bzw. dessen handwerklicher und waffentechnischer Vorbereitung wiederum kann es nur recht sein, wenn der antike Palästinenser jüdischer Abstammung seinerseits einigermaßen sicher zwischen zwei Buchdeckeln ruht, so kommt er ihnen mit seinen aus der Zeit gefallenen Reden nicht als wehrkraftzersetzender Störfaktor in die Quere.
Quellenangaben
Marlene Streeruwitz, Handbuch gegen den Krieg, Wien 2022. – Es ist ein feministisches Verständnis des Lebens und der Gesellschaft, von dem her sie ihre Sätze formuliert. Krieg ist für sie eine Begleiterscheinung patriarchaler Herrschaft seit Anbeginn.
Jonas Kratzenberg (mit Fred Sellin), Schützenhilfe – Für die Ukraine im Krieg, München 2023.
Nach den Kriegsverbrechen russischer Marodeure in Butscha befragt (von Markus Lanz im ZDF), frappiert mich die Unaufgeregtheit, die moralisch emotionslose Nüchternheit seiner Feststellung auf Seiten beider Kriegsparteien müsse man mit verbrecherischen Akten rechnen. Selber habe er beobachtet, wie ein ukrainischer Kommandeur mit drei russischen Kriegsgefangenen in ein Waldstück gegangen und kurz darauf ohne sie zurückgekehrt sei. Für ihn ein Anlass mehr, sich den moralisch guten Endzweck des eigenen Kampfeinsatzes bewusst zu machen und ihm gemäß zu agieren.