Halle (kobinet) "Fernsehen und Nichtsehen widersprechen sich nicht!" Davon ist Jennifer Sonntag aus Halle überzeugt. Die blinde Journalistin hat vor kurzem nach 14jähriger Tätigkeit beim mdr-Fernsehmagazin "Selbstbestimmt" in einem vierminütigen Fernsehbeitrag Bilanz über ihr bisheriges 14jähriges Wirken beim mdr gezogen und einen Ausblick gewagt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte folgendes Interview mit Jennifer Sonntag über ihre Erfahrungen beim mdr und vor allem als blinde Frau im Fernsehen. Es geht aber auch darum, was sich Jennifer Sonntag nun vorgenommen hat.
kobinet-nachrichten: 2008 haben Sie beim mdr-Fernsehmagazin Selbstbestimmt mit Ihren Interviews und Beiträgen vor der Kamera begonnen. Was haben Sie dort die letzten 14 Jahre lang genau gemacht?
Jennifer Sonntag: Mein erstes eigenes Format bei „Selbstbestimmt!“ waren die „SonntagsFragen“. So nannten wir die Marke, weil der Titel meinem Nachnamen entsprach. Von 2008-2018 durfte ich Über 90 prominenten Gästen in diesem Interview-Fenster meine „SonntagsFragen“ stellen. Mein Promi-Talk lief als Kurzfassung innerhalb unseres regulären Fernsehmagazins und später auch als halbstündige Langfassung. Für uns war das damals einzigartig, weil es die Langfassung zunächst nur im Internet gab und sie dann im TV sogar einen eigenen Sendeplatz bekam.
Das alles war mit einer blinden Moderatorin eigentlich noch undenkbar. Aber es ging eben gerade darum, ableistische Seh- und Denkgewohnheiten zu durchbrechen. Damals hantierten wir noch nicht mit dem Wort Ableismus, aber das war genau das aufzulösende Phänomen, um das es für mich ging. Ab 2019 blickte ich dann in unserer Magazinsendung in meiner Kolumne „Mit anderen Augen“ auf aktuelle Themen rund um Inklusion und Teilhabe. In den letzten beiden Jahren teilte ich mir einen Kolumnenplatz mit dem Aktivist Raul Krauthausen.
kobinet-nachrichten: Als Sie 2008 mit dieser Tätigkeit begonnen haben, war das wahrscheinlich völliges Neuland für Sie. Hatten Sie Vorbilder und hätten Sie damals gedacht, dass Sie das 14 Jahre lang machen würden?
Jennifer Sonntag: Was ich mir in all den Jahren wünschte, war eine blinde Kollegin im deutschen Fernsehen, die auch eigene Formate umsetzte. Ich sehnte mich nach Austausch, denn ich musste für mich als blinde Frau in einem visuellen Medium alles neu erfinden. Ich hätte gern von Frau zu Frau gefragt: „Wie machst du das vollblind mit deiner Garderobe, deinen Maskenbildnerinnen, deinen Kamera-Teams, deinen Moderationskarten, mit Mimik und Gestik und mit der Recherche optischer Inhalte? Auch fehlten mir, als wir anfingen, weibliche Rollenmodelle, die ebenfalls gerade ihr Sehvermögen verloren hatten. Einerseits kam ich aus der sichtbaren Welt und verstand deren Gesetze, andererseits musste ich mich in meine blinde Identität erst einfühlen.
Fernsehen Konfrontiert ja gnadenlos mit Bildern und alle um mich herum agierten sehend. Barrierefreiheit gab es damals noch wenig in diesem Bereich. Visuelle Medien faszinierten und schmerzten mich zugleich. Ich entwickelte für mich Tricks und Kniffe, um mich darin zu orientieren und um damit arbeiten zu können. Für blinde Fernsehjournalistinnen gab es kein Studienmaterial, weil man natürlich davon ausging, dass Fernsehen nur Sehende machen. Aber mein Credo war stets: Fernsehen und Nichtsehen widersprechen sich nicht! Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie lange ich das mache, nur dass ich es mache, bevor wir blinden Menschen medial wieder in der Unsichtbarkeit verschwinden.
kobinet-nachrichten: Was waren Ihre Highlights beim mdr-Magazin Selbstbestimmt?
Jennifer Sonntag: Am aufregendsten war sicher die Zeit mit meinen prominenten Gästen, die wir teilweise an ihren Wirkungsstätten besucht haben. Später drehten wir dann direkt in Leipzig im MDR-Hochhaus. Ich durfte so viele interessante Menschen aus Film und Fernsehen, Sport und Politik oder der Musikbranche treffen und mit ihnen gemeinsam unkonventionelle Denkräume betreten. Jeder Gast war für mich auf seine Weise ein Highlight. Einige sind inzwischen verstorben. Ich denke oft an unsere Begegnungen und würdige besonders das Wirken und die Werke von Menschen, die auch aktivistisch tätig waren und sich zum Beispiel für Menschenrechte engagierten.
kobinet-nachrichten: Gab es auch mal so einen richtigen Klopper bzw. richtige Herausforderungen für Sie?
Jennifer Sonntag: Es gab einen so richtig klischee-mäßigen Fehlgriff, der nur einer blinden Moderatorin passieren kann. Für meine Outfits war ich ja selbst verantwortlich. Es gehörte zum Konzept der Sendung, dass ich meine Looks selbstbestimmt zusammenstellte, was ohne Augenkontrolle manchmal auch eine echte Herausforderung war. Aber die nahm ich gerne an, da ich gleichzeitig zeigen wollte, dass auch eine vollblinde Frau ihren eigenen Stil kreieren kann. Und so brachte ich auch immer ein schickes Paar Schuhe mit zum Drehort. Einmal kreuzte ich jedoch mit zwei verschiedenfarbigen High Heels auf, einem roten und einem schwarzen. Sie hatten sich in der Eile sehr ähnlich angefühlt.
Mit meinen Gästen selbst ist mir zum Glück nie ein Fauxpas passiert. Einige Promis suchten anfangs irritiert den Blickkontakt zu meinem Kamera-Team, statt mich anzuschauen, weil sie meine Blindheit verunsicherte. Aber das legte sich während des Gesprächs schnell und die meisten Gäste konnten sich ausgesprochen gut in den Talk fallen lassen.
Wirklich heftig fand ich kürzlich das Ansinnen einer Zuschauerin bezüglich meiner Augen. Sie meldete sich beim Publikumsservice und wollte einen Rückruf von mir. Sie ließ mich wissen, dass ich furchtbare Glubschaugen hätte und riet zu Übungen, die ich gleich mal mitschreiben solle. Ob mir denn keiner gesagt habe, dass meine Augen furchtbar aus dem Kopf ragen würden, das eine schlimmer als das andere. Mangels optischer Kontrolle war ich wirklich geschockt und tief verunsichert. Meine Vertrauenspersonen beruhigten mich, meine Augen seien wie immer. Was wäre aber, wenn ich wirklich eine solche Augenerkrankung hätte? Dann wäre diese Rückmeldung umso grenzüberschreitender.
kobinet-nachrichten: Nun haben Sie in der Dezembersendung in einem vierminütigen Beitrag Bilanz über Ihre Arbeit während der letzten 14 Jahre gezogen und einen Ausblick gewagt. Wie geht es für Sie nun weiter?
Jennifer Sonntag: TV-Moderatorin gewesen zu sein war ein wichtiges, aber nicht das einzige Kapitel in meinem Berufsleben. Ich komme ursprünglich aus der Sozialpädagogik und war viele Jahre hauptberuflich als Sozialpädagogin tätig. An meinem damaligen Arbeitsplatz lernte ich dann auch meine erste Produktionsfirma kennen, da in unserer Einrichtung Probeaufnahmen für eine Doku geplant waren. Das Leben wollte es so, dass ich dann zunehmend in den Journalismus überglitt.
Ich sehe mich eher als Fachjournalistin, da mein früherer Beruf auch heute noch eine große Tragkraft für mich und meine Themen hat. Gleichzeitig habe ich Bücher geschrieben und Kunst- und Literaturprojekte umgesetzt. Als Autorin und Journalistin werde ich im Bereich Print und online weiter tätig sein. Auch Audioformate interessieren mich perspektivisch sehr, da ich absoluter Ohrenmensch bin und sich das nach den vielen Jahren der visuellen Medienarbeit stimmig anfühlen würde. Meine Inhalte werden weiterhin Inklusion und Teilhabe bleiben, aber nicht nur, denn in meinen Projekten spielen auch Szene und Subkultur eine große Rolle.
kobinet-nachrichten: Was würden Sie sich wünschen, um mehr behinderten Menschen die Präsenz und Mitarbeit in den Medien zu ermöglichen bzw. zu erleichtern?
Jennifer Sonntag: Man sieht uns Menschen mit Behinderung oft eher als Protagonist*innen, nicht als Journalist*innen. Viele von uns sind aber selbst Medienschaffende und wollen auch in Redaktionen stattfinden. Ich wünsche mir, dass man uns in der Medienlandschaft im wahrsten Wortsinn deutlich auf dem Schirm hat. Ich sehe zu wenige Menschen mit Behinderung an den relevanten Plätzen, weder zu unseren Themen, noch zu anderen gesellschaftspolitischen Inhalten, zu denen wir uns natürlich auch einbringen können und wollen.
Ich erlebte selbst, dass journalistische Aus- und Weiterbildungsmaterialien nicht barrierefrei mitgedacht wurden. Teilweise enthielten sie sogar ableistische Formulierungen, die so an junge Journalist*innen weitergegeben werden. Oft betrieb ich einen unverhältnismäßig großen Aufwand damit, mir optische Informationen blindengerecht aufzubereiten. Ich freue mich immer, wenn Studierende mit Behinderung sich an mich wenden und wir uns darüber austauschen können, was seit meinen Anfängen inklusiver geworden ist und welche Hürden es leider noch immer gibt. Ich finde es wichtig, dass wir uns hier gegenseitig an die Hand nehmen, Blockierern die Augen öffnen und ihnen gegebenenfalls auch auf die Füße treten. Gleichzeitig danke ich allen Verbündeten ohne Behinderung, die uns ganz selbstverständlich einbinden und manch verschlossene Tür mit uns gemeinsam aufstoßen.
Ich möchte anderen Menschen mit Behinderung gern Mut machen und zum Schluss eine kleine Story erzählen, die ich kürzlich auch mit meiner Community auf Facebook geteilt habe: Als kleines Mädchen stellte ich mir manchmal vor wie es wäre, eine Fernsehansagerin zu sein. So nannte man das zu DDR-Zeiten. Ich bestaunte die Frauen auf dem Bildschirm, die so versiert auf ihr Blatt und mir dann wieder direkt ins Gesicht blickten. Ich war schon stark sehbehindert und meine Mutter sagte, dass man für diesen Beruf gesunde Augen brauche. Die hatte ich nun wirklich nicht und vergaß diesen Kindheitswunsch, als die Milchzähne ausgefallen waren, über eine sehr lange Zeit. Ich sah mich nicht im Fernsehen und fokussierte mich später, mit einsetzendem Erblindungsprozess, darauf Sozialpädagogik zu studieren. Heute bereitet es mir großes Vergnügen, dem kleinen Mädchen von damals „High Five“ zu geben.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.