
Foto: Hans-Willi Weis
Merzhausen (kobinet) Die Erinnerung holt mich ein, eine bestimmte Erinnerung. Vor einem Jahr, in der Vorweihnachtszeit war das, mein Gott, wie die Zeit vergeht und je älter man wird, umso mehr beschleunigt sie sich. Die Adventszeit letztes Jahr hatte, ähnlich wie dieses Jahr, wenig Adventliches, nichts hoffnungsfroh ankommendes. Im Gegenteil, der Gesundheitsminister hatte den Bürgern gerade prophezeit, wir alle würden im kommenden Jahr, also nach dem bevorstehenden Jahreswechsel, entweder geimpft, nach einer Ansteckung genesen oder an der Pandemie gestorben sein.
Noch im alten Jahr starb dann unser Nachbar von schräg gegenüber. Gestorben ist er jedoch nicht an Corona und weil er sich nicht hat impfen lassen. Peter war unser stiller Verbündeter in der Gasse, das ist Psychoterror, Nötigung, versicherte er Silvia am Telefon, wenn wir erneut attackiert wurden und uns beiden die Worte fehlten und wir um Fassung gerungen haben. Telefonisch leistete er uns diesen moralischen Beistand, weil es für uns gefährlich gewesen wäre, spontan auf die Gasse zu treten und zu ihm hinüberzugehen und ihm war es recht, weil er sich mit seiner Parteinahme nicht exponieren, keine öffentliche Angriffsfläche bieten wollte.
Die geschützte Position des stillen Verbündeten war ihm lieber, weil er, was ihn selber anlangte, noch nicht alle Hoffnung hatte fahren lassen. Noch immer hoffte er, der ehemalige DDR-Flüchtling, dessen bundesdeutsche Karriere in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts sich durchaus vielversprechend angelassen hatte, bis ein von ihm nicht verschuldeter Verkehrsunfall ihm beinahe buchstäblich das Genick brach und ihn zum Invaliden machte –, noch immer hoffte er, diesem Schicksalsschlag zum Trotz in unserer Wettbewerbsgesellschaft zu reüssieren. Als Webdesigner, Programmersteller, der tage- und nächtelang vor dem PC sitzt, von Aufputschmitteln wachgehalten und durch die permanente Einnahme starker Schmerzmittel die von der lädierten Wirbelsäule in den Körper ausstrahlenden Schmerzen in Schach gehalten. Versprochen hat er sich von dieser Selbstkasteiung, der Ex-DDRler oder Ossi, beruflich doch noch hier anzukommen, am Ende zugehörig zu sein, von den autochthonen Wessis im Ländle als einer der ihren anerkannt.
Die Realität sah anders aus und Peter rettete sich mit seinem Humor so gut es ging über sie hinweg. Stets war er zu Späßen aufgelegt und nannte sich auch schon mal einen „Edelclochard“. Den es aus seinem Apotheker-Elternhaus in Gotha, einem für DDR Verhältnisse in der Rückschau wohlanständigen, bürgerlich angesehenen Milieu, in den ebenso digital avancierten, wie mustergültig biederen deutschen Südwesten verschlagen hatte. Zu dessen schmuckem juste Milieu er so gerne gehört hätte und in welches aufzusteigen, sich durch unermüdlichen Fleiß hochzuarbeiten, er selbst nach Jahren und als ein chronisch Kranker die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgeben mochte. Ein Edelclochard, der fürchten musste, man sieht ihm am ergrauten Vollbart und dem ewig gleichen Habit den Abstieg ins einfache Clochariat von Jahr zu Jahr mehr an.
Die Erfolgs- und Aufstiegshoffnung verließ ihn auch nicht, als ihm zu Beginn des vergangenen Jahres – vielleicht war es auch schon im vorvergangenen Jahr – die Wohnung gekündigt wurde. Das Eckhaus schräg gegenüber, in dessen verwinkelter Erdgeschosswohnung Peter seit über einem Jahrzehnt auf etwas mehr als 60 Quadratmetern ausharrte, zur Hälfte Stauraum für Gegenstände aus besseren Tagen wie etwa eine komplette Taucherausrüstung, dieses Altbaudomizil hatte seinen Besitzer gewechselt. Der neue Eigentümer plante eine Grundsanierung mit entsprechender Wertsteigerung, damit sich die Immobilie rentiert und ihm möglichst bald eine angemessene Rendite abwirft. Letztes Hindernis auf diesem Weg einer ganz normalen kapitalistischen Gangart auf dem freien Immobilienmarkt war der im Erdgeschoss festsitzende Invalide. Eine widerspenstige menschliche Immobilie sozusagen aus rein geschäftlicher Perspektive betrachtet. – Auf Silvias Frage, wie es bei ihm mit der Wohnungssuche vorangehe, antwortete Peter wiederholt, möglicherweise habe er da jetzt etwas in Aussicht, warte aber noch auf den endgültigen Bescheid und wolle sich im Übrigen durch die nervige Sache nicht die Laune verderben lassen.
Und selbst da, als er längst eine Räumungsklage am Hals hatte, gab er nicht alle Hoffnung auf. Nun müsse ihm eben das Sozialamt …, denn auf die Straße setzen könnte sie ihn schließlich nicht und auch weiterhin werde ihn das alles nicht verdrießen, er habe besseres zu tun, sein Projekt am PC stehe vor dem Abschluss.
Sogar nachdem gegen Ende des Sommers dem Eigentümer der Geduldsfaden gerissen war und im Herbst die Bauarbeiten begonnen hatten, ihm förmlich die Bude über dem Kopf demoliert und abgebrochen wurde, hoffte Peter anscheinend unbeirrt. Auf unsere Frage, wie er den ständigen Baulärm über sich ertrage, sagte er, der mache ihm eigentlich wenig aus, da gebe es Schlimmeres.–, was wiederum wir uns eigentlich schlecht vorstellen konnten, so wie das Haus inzwischen ausschaute. Vom Obergeschoss standen nur mehr die Außenwände, das Gebälk des Dachstuhls, darüber ein Gerippe, so hat es Silvia mir, dem Blinden, beschrieben, vor meinem inneren Auge visualisiere ich eine Fachwerkruine, in deren Kellergewölbe sich Peter verkrochen hatte.
Und dass er, gleich einem Verlies, kaum noch verlassen hat, mit Beginn der Adventszeit. Dieser sprichwörtlich besinnlichen Zeit, „still erleuchtet jedes Haus, alles sieht so festlich aus“. Nicht so bei Peter, tagelang kein Licht zu sehen hinter den Scheiben. Nach dem dritten Tag ohne Licht rief Silvia bei ihm an, er nahm nicht ab, was nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte, üblicherweise rief er erst später oder anderntags zurück, wenn er unsere Nummer auf dem Display entdeckte. – Diesmal kam auch anderntags kein Anruf von ihm. Am frühen Nachmittag beobachtete Silvia zwei Männer in weißer Schutzkleidung, die sich Zutritt zu der Erdgeschosswohnung von gegenüber verschaffen. Ich weiß noch wie sie sagte, die Plastikanzüge sind mittlerweile Standard, allein wegen Corona. Und das Erste, was ich sagte, war, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hat. Kurz darauf erfahren wir, die Frau, die einmal die Woche vorbeikam und jedes Mal den zotteligen Flokati auf der Gasse durch die Luft wirbelte, hatte Peter gefunden, kurz davor, um die Mittagszeit.
Dann kam Heiligabend. Von unserem Fenster aus – sie schaute an diesen Tagen noch öfter als sonst nach drüben zu der Türschwelle, wo sie in der Nische die Trauerkarte mit den beiden Lichtern platziert hatte, ob die noch da waren – sah Silvia, es war später Vormittag, einen Paketausträger unten in der Gasse, der einen Moment bei der Haustür zögerte, dann aber weiterging, also nichts für uns. Sie hatte sich schon wieder ihrer Lektüre zugewandt, als draußen ein Fluchen zu hören war, ein lautes „geht ́s noch“, sie sah, wie der Auslieferer, ein Kleiner mit Kapuze, nach einem Sprung zur Seite, sich kurz noch einmal umdrehte, um sich dann im Laufschritt aus der Gasse hinaus in Sicherheit zu bringen. Sein „geht ́s noch“ hatte dem Nachbarn direkt gegenüber von uns gegolten, dessen Konterfei im selben Augenblick aus der Fensteröffnung verschwand. Auf dem Sims wie stets die überquellenden Aschenbecher und daneben die ausgelöffelten Joghurtbecher mit seinem Rotz und dem rußigen Regenwasser. Auf dem Pflaster unterhalb des Fensters die Nässespuren der Flüssigkeitsattacke. – Wir haben uns sogleich gefragt, ob der Paketzusteller nicht Opfer einer Verwechslung geworden war. Von hinten könnte der Kapuzenmann dem Flüssigkeitsattentäter oben am Fenster wie Silvia mit Kapuze und Regenjacke erschienen sein.
Am ersten Weihnachtstag, auch daran erinnere ich mich, war mildes Wetter, zehn Grad plus oder so. Das Nachbarfenster mit den Wurfgeschossen auf dem Sims stand sperrangelweit offen. Doch, nach dem Geschehnis am Vortag, das von Neuem unsere nur allzu begründete Angst einmal mehr getriggert hatte, wagten wir es nicht, den Fuß vor die Tür zu setzen. Wir zogen es der Sicherheit halber vor, drinnenzubleiben und Bachs Weihnachtsoratorium zu lauschen, das eben im Radio lief. Jauchzet und frohlocket, euch ist ein Heiland geboren.