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Berlin (kobinet) "Am 1. Januar 2023 tritt das reformierte Betreuungsrecht in Kraft. Im Fokus der Reform stehen Wunsch und Wille der Klientinnen und Klienten – das neue Betreuungsrecht ist am Selbstbestimmungsgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ausgerichtet. Damit bekommt die Unterstützung der Klient*innen absoluten Vorrang vor der Stellvertretung. Betreuung wird endlich auch im Gesetz als Prozess definiert, der Menschen befähigt, autonom und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen“, erläutert der Vorstand der Landesgruppe Rheinland-Pfalz im Bundesverband der Berufsbetreuer/innen (BdB e.V.), vertreten durch den Sprecher Joachim Sieger, die anstehenden Veränderungen.
Die rechtliche Betreuung habe sich ab dem 1. Januar 2023 nicht mehr nach dem Dreiklang „Wohl, Wünsche und Wille“ der betreuten Person zu richten. Nunmehr zähle allein der Wunsch und der Wille der betreuten Person, wie die betreuende Unterstützungsarbeit durchgeführt werden soll. Das werde voraussichtlich viel Konfliktpotential bieten – unter anderem mit Angehörigen, die oft ein anderes Verständnis von „wohlwollender Betreuungsarbeit“ hätten. Aufklärungsarbeit im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention werde notwendig sein. Es müsse ein Verständnis geschaffen werden, dass behinderte Menschen uneingeschränkt das Recht haben, nach ihren Wünschen und Willen leben zu dürfen, heißt es vonseiten des BdB.
Im Sinne einer Vermeidung von gerichtlich bestellten rechtlichen Betreuer*innen, wird voraussichtlich eine Unterstützung und erweiterte Unterstützung von Menschen mit Betreuungsbedarf unter Federführung der Betreuungsbehörden eingeführt werden (§ 8 BtOG). Nach Angaben des Ministeriums für Justiz in Rheinland-Pfalz arbeiteten im Jahr 2021 in Rheinland-Pfalz 109 zugelassene Betreuungsvereine. Zusammen mit selbständigen rechtlichen Berufsbetreuer*innen und ehrenamtlichen rechtlichen Betreuern wurden im gleichen Jahr 53.343 Personen mit rechtlicher Betreuung unterstützt. 53,5 Prozent der betreuten Personen steht hierbei ein Betreuungsverein oder ein selbständiger beruflicher Betreuer zur Seite.
Zulassung
Ein bundesweit einheitliches Zulassungsverfahren ist künftig Voraussetzung, um Berufsbetreuer*in zu werden. Eine Verordnung regelt, unter welchen fachlichen und persönlichen Voraussetzungen Berufsbetreuerinnen und -betreuer sich registrieren lassen können. „Ein Fortschritt“, sagt BdB-Landessprecher Sieger: „Mit dem Zulassungs- und Registrierungsverfahren wird nach 30 Jahren unser Beruf erstmals anerkannt. Bisher waren wir lediglich ‚beruflich tätige Betreuer‘.“
Der BdB hat jedoch Kritikpunkte an der Verordnung. Die Bundesländer haben Änderungen durchgesetzt, die den Qualitätsansprüchen an die Fachlichkeit künftiger Betreuer*innen zuwiderlaufen. Aus Sicht des BdB wird der Kerngedanke der Reform „verwässert“, die Qualität der rechtlichen Betreuung zu stärken. Besonders kritisch sieht man im Verband die sogenannte Generalöffnungsklausel, die in der Verordnung verankert wurde. Danach können Betreuungsbehörden Kandidat*innen registrieren, die sie für geeignet halten. Es müssen zwar Teilbereiche der Sachkenntnisse nachgewiesen werden und es muss eine mehrjährige, für die Führung der Betreuung nutzbare Berufserfahrung oder eine mehrjährige Erfahrung als ehrenamtliche/r Betreuer*in vorhanden sein. Aus Sicht des BdB kann die Klausel jedoch dazu führen, dass einzelne Behörden großzügig von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Abhilfe kann eine vom BdB seit Jahren geforderte öffentlich-rechtliche Kammer für den Betreuungsberuf bieten. Zulassungsvoraussetzungen und die Qualität der Betreuungsarbeit können somit ohne Kosten für die öffentliche Verwaltung zum Schutz der betreuten Personen sichergestellt werden.
Mehraufwände
In der Praxis kommen mit der Reform erhebliche Mehraufwände auf Berufsbetreuer*innen zu, die das Gesetz ignoriert. Eine zusätzliche Vergütung ist nicht vorgesehen. Joachim Sieger: „Mehrarbeit wird unter anderem durch Kennenlern-Gespräche vor Beginn einer Betreuung entstehen, durch den Prozess der ‚Unterstützten Entscheidungsfindung‘ und viele zusätzliche Berichtspflichten, die den Klient*innen dienen und die wir ausdrücklich befürworten. Doch muss Mehrarbeit bezahlt werden. Mehr Selbstbestimmung und die Partizipation von Klientinnen und Klienten – beides ist absolut gewollt – dürfen nicht zulasten der Berufsbetreuerinnen und -betreuer gehen.“ Die Mehraufwände sollen ab Inkrafttreten des Gesetzes in die Evaluierung der Betreuervergütung einfließen, die bis Ende 2024 geplant ist.
Kostenexplosion
Die Betreuungslandschaft als Ganzes ist in Not geraten. Infolge der Preisexplosion bei Energie, Mobilität, Sach- und Mietkosten sowie der Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro sind Betreuungsvereine und selbstständige Berufsbetreuer*innen existenziell bedroht. Der BdB hat den Gesetzgeber in einer Resolution Mitte November 2022 aufgefordert, durch einen vorgezogenen Inflationsausgleich das wirtschaftliche Überleben der Betreuungsvereine und der selbständigen rechtlichen Betreuer*innen zu sichern und unverzüglich das Gesetzgebungsverfahren auf den Weg zu bringen, das dafür nötig ist.
Studie zur Betreuervergütung
Die Betreuervergütung wurde im Jahr 2019 erhöht. Nach mehr als 14 Jahren ohne Anpassung. Der angekündigte Wert von 17 Prozent ist jedoch nicht erreicht worden, wie eine aktuelle Studie des BdB belegt. Für die Studie wurden die zwei meistgenutzten Arbeitsprogramme der Berufsinhaber*innen ausgewertet. So wurde die zeitliche Entwicklung der Betreuungsvergütung 2019 nicht berücksichtigt. Joachim Sieger erläutert: „Zu Beginn einer Betreuung ist die Vergütung etwas höher, da auch die Aufwände höher sind; sie reduziert sich allerdings mit der Dauer einer Betreuung.“ Von den geplanten 17 Prozent sind im Mittel nur 12,3 Prozent tatsächlich angekommen.
Der Gesetzgeber hatte bei der Kalkulation der Betreuungspauschalen vorausschauend eine erwartete Tarifsteigerung von zwei Prozent eingerechnet. Die Inflationsentwicklung seit 2019 sowie die aktuellen Kostenexplosionen haben zu Kostensteigerungen im zweistelligen Prozentbereich geführt. „Industrie und Gewerbe können die Kostenentwicklungen zumindest teilweise auffangen oder weitergeben. Dies ist Betreuungsvereinen und Berufsbetreuer*innen nicht möglich, da die Vergütung staatlich vorgegeben ist“, sagt Joachim Sieger.
Hintergrund zum Betreuungsrecht
Vor 30 Jahren wurde das alte Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht von 1896 abgeschafft. An seine Stelle trat das „Gesetz zur Reform des Rechtes der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige“. Mit dem neuen Betreuungsrecht wurde die Entmündigung abgeschafft und das Wohl der betreuten Menschen in den Vordergrund gerückt.
Rund 1,3 Millionen Menschen in Deutschland nehmen derzeit eine Betreuung in Anspruch – an ihrer Seite stehen rund 16.000 Berufsbetreuer*innen, etwa 800 Betreuungsvereine sowie eine Vielzahl ehrenamtlicher Betreuer*innen.
Rechtliche Betreuerinnen und Betreuer beraten, unterstützen und vertreten Menschen, die geistig oder körperlich behindert sind oder unter psychischen Störungen leiden und ihr Leben nicht selbst managen können: „Jeder Mensch kann jederzeit in eine Situation kommen, in der er oder sie Unterstützung benötigt – zum Beispiel durch einen Unfall oder durch eine Krankheit“, so BdB-Landessprecher Sieger. Betroffene finden sich in ihrem Leben nicht mehr zurecht: Sie vereinsamen, bezahlen ihre Rechnungen nicht, verschulden sich oder versäumen Arzt- und Behördentermine. Eine Betreuung wird für einen bestimmten Zeitraum sowie für bestimmte Aufgabenkreise eingerichtet und durch Gerichte kontrolliert.