
Foto: Hans-Willi Weis
Merzhausen (kobinet) Mich hat die Meldung von dieser Platzierung überrascht. Nicht, weil ich den Zweitplatzierten das nicht zugetraut hätte, denn hier handelt es sich nicht um sportliche Leistungen. Erstaunt hat es mich, weil man von diesem Zweitplatzierten sonst in den Leitmedien beinahe nichts hört. Was beim Erstplatzierten sich ganz anders verhält, dessen Protagonisten machen permanent von sich reden, stehen immer wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit.
Wovon ich spreche: Laut Antidiskriminierungsbericht der Bundesregierung folgt nach rassistischer Diskriminierung bereits an zweiter Stelle die Diskriminierung im Fall von Behinderung oder chronischer Erkrankung. Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und bei sonstigen gesellschaftlichen Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten. Zum Beispiel den Publikationschancen eines freiberuflich tätigen erblindeten Autors. Insbesondere, sobald dieser Autor die sozialen und existenziellen Erfahrungen mit seiner Behinderung zum Gegenstand seines Schreibens macht.
Nach nun mehr drei Jahren vergeblicher Versuche, meine Texte zum Thema Behinderung in der Gesellschaft und insbesondere Behinderung und Gewalterfahrung bei einem Verlag oder in einer Zeitschrift zu veröffentlichen, werde ich das Gefühl nicht los, Behinderung als Stigma und als Ursache reflexhafter Abwehr könnte der ausschlaggebende Faktor für die bisherige Vergeblichkeit meiner Bemühungen um Veröffentlichung sein. Bei rassistischen, antisemitischen oder sexistischen Angriffen und Anfeindungen von vergleichbarer Heftigkeit und Folgenschwere für die Betroffenen, wie ich sie in meinen Texten schildere, wäre es gar nicht vorstellbar, dass es nicht zu einem Aufschrei der Entrüstung und einer Welle der Solidarisierung mit den Opfern käme. Anders offenbar im Fall von Behinderten und ihren Angehörigen. Und nachdem das Geschehen seinen Lauf genommen hat und die für das Leben der Betroffenen zerstörerischen Konsequenzen nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind, wird ihnen noch die symbolische Wiedergutmachung verweigert, die hinter dem Wunsch steht, ihre Geschichte veröffentlicht zu sehen.
Den Schulterschluss üben, sich unterhaken, youll never walk alone – schön wärs, gälte dies auch für Behinderte. Doch „you will almost always walk alone“ lautet unausgesprochen das über das Gros der Behinderten verhängte Urteil der Gesellschaft. Die das nicht wahrhaben wollen oder sogar bestreiten, zu denen gehören auch viele Betroffene, sie möchten die bittere Wahrheit nicht hören, es nicht wahrhaben, was bis zu einem gewissen Grad auch verständlich ist, sind der Schmerz und die Scham darüber doch schwer auszuhalten.
Zum Beispiel die Wahrheit Ableismus tötet. Das ebenso traurige wie erschreckende Ergebnis, zu dem das Recherchenetzwerk Ability Watch bei seiner systematischen Untersuchung von Gewalt und Misshandlungsfällen an behinderten Menschen in Heimen kommt. Ableismus – der wissenschaftliche Fachterminus, unter dem man inzwischen sämtliche Diskriminierungsformen und Vorurteile gegen Behinderte zusammenfasst – tötet nicht nur körperlich, also im wörtlichen Sinne. Auch seelisch oder psychisch trifft „Ableismus tötet“ zu – Betroffene fühlen sich „lebendig begraben“ – und auch sozial treffen die Worte zu, wenn Behinderte nicht nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, sondern ihr gesellschaftlicher Ausschluss auf das hinausläuft, was von Soziologie und Sozialpsychologie „sozialer Tod“ genannt wird.
Zunächst meint und bezeichnet der Alarm- und Weckruf Ableismus tötet sicher Einzelfälle und individuelle Schicksale. In gewisser Weise trifft er aber auch auf das Kollektiv der Behinderten zu. Und zwar insofern, als die soziale Gruppe insgesamt – von einzelnen privilegierten Lebenslagen abgesehen – Benachteiligung, Diskriminierung und manifeste Formen von Gewalt erleidet und bezüglich ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes durchaus von kollektiver Exklusion und der Gefahr eines kollektiven sozialen Todes gesprochen werden kann.
Wenn diese ungeschminkte Situationsbeschreibung im Großen und Ganzen zutreffen sollte, stellt sich die Frage, wie Behinderte, individuell und kollektiv, damit umgehen sollten. Zu einer Zeit, die gesellschaftlich und politisch wenig Gutes verheißt. Wie soll der oder die einzelne Behinderte sich verhalten, wie sollten sie kollektiv, als gesellschaftliche Gruppe, reagieren, sich bemerkbar machen, politisch in Erscheinung treten (was genau das richtige Wort ist, in Erscheinung treten, zählen die Behinderten doch zu den gesellschaftlich und politisch weitestgehend Unsichtbaren im Lande)?
Was das politische Auftreten betrifft, meine ich, grundsätzlich: Nicht brav und bittstellerisch, vielmehr forciert und fordernd. Und sich nicht alles gefallen lassen. Auch nicht mit politischer Rhetorik sich für dumm verkaufen lassen. – Also von wegen „unterhaken“ und „never walk alone“, wo bereits Kommentatoren in den Leitmedien sich über so viel politrhetorische Verlogenheit aufregen. So der Journalist Reinhold Mohr in der NZZ, der es „eine unverschämte Lüge, eine dreiste Leugnung der Wirklichkeit“ nennt, was jene „peinliche Anbiederung an die Fußball- und Jugendkultur“ denen verspricht, die als gesellschaftliche Randgruppen allen Grund haben, dies zu fürchten, nämlich allein- und zurückgelassen zu werden.
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt, hieß es früher einmal, um die gesellschaftlich Benachteiligten zu „empowern“ (das Wort gab es damals noch nicht). Dies ist auch heute leichter gesagt als getan und eine Verzweiflungstat hilft schließlich auch nicht weiter. – Dieser Tage habe ich, der Erblindete, mir vorgestellt, ich fahre nach Paris und gehe in den Louvre. Dort hängt eines der Rembrandt Gemälde, auf denen das biblische Motiv des blinden Tobias zu sehen ist. Ich müsste mich ja nicht an der Leinwand oder dem Rahmen festkleben. Es genügte vollkommen, wenn ich mir die Augen und den Mund mit Kreppband zuklebe und den Rest der Kleberolle um Oberkörper und Beine wickle. Die Symbolik wäre klar und unmissverständlich.
Zugegeben, zu dieser Aktion fehlt mir die Kraft, der behinderungsunfreundliche Alltag hat mich verschlissen und allein, ohne fremde Hilfe, ginge es gleich gar nicht. Da müsste jetzt der Habeck sagen, hei Alter, hak` dich bei mir unter, wir fahren gemeinsam nach Paris und sieh mal, da kommt auch der Olaf, der wird sich auf der andern Seite bei dir unterhaken, du kennst seinen Wahlspruch, you never walk usw. – Erst wenn das Wunder geschieht, dass wir zu dritt untergehakt ins Museum stürmen, werde ich denen glauben, wir Behinderte könnten uns auf sie verlassen.