
Foto: Kopie: H. Smikac
BERLIN (kobinet) Besonders an Jahrestagen wie dem "Tag der Deutschen Einheit" wird immer wieder einmal darüber nachgedacht, wie sich in den vergangenen Jahren alles so entwickelt hat. Wenn es dabei um die Geschichte der Selbsthilfe-Verbände geht, dann ist das nicht ganz einfach. Zwar verfügen mehrere Verbände über eigene Aufzeichnungen ihrer Geschichte, es gibt jedoch kaum Unterlagen, die ein Gesamtbild der Entwicklung der Selbsthilfearbeit nachzeichnen. Das gilt insbesondere für ein früheres Leben als Schwerbehinderter in der DDR.
Ein Schlüssel für das Füllen dieser Wissenslücke ist das Buch „Inklusion statt ‚Sorgenkind‘ – Schwerbehinderte in der DDR, mit Vergleichen zur BRD“. Aus meiner Sicht bildet die Einschätzung des Autors dieses Buches, dass es in der DDR trotz totalitärer Zumutungen und der Erosion der Grundlagen dieses untergegangenen Landes in wichtigen Lebensbereichen daneben Stärken gab, welche auch international keinen Vergleich zu scheuen brauchten, den wichtigsten Ausgangspunkt für die Betrachtung des Lebens von Schwerbehinderten in der früheren DDR.
So war die Erwerbsarbeit verfassungsrechtlich garantiert und eine Teilhabe an der Vielfalt der Kulturarbeit wurde trotz finanzieller Grenzen möglich. In seinem Buch stellt der Autor dar, welche Bildungschancen Schwerbehinderte in der DDR hatten und wie sie Erfüllung im Erwerbsleben finden konnten. Im Ergebnis dessen konnten Schwerbehinderte in der DDR auch Bibliothekare, Lehrer, Ingenieure, Justiziare oder Direktoren werden. Man begegnete ihnen ebenso in Theatern, Kinos, Ausstellungen, Turnhallen oder an Badestränden. Dafür waren sie nicht auf Spenden-Animations-Veranstaltungen angewiesen oder wurden medial nicht als ‚Sorgenkind‘ stigmatisiert. Die Arbeitswelt in der DDR blieb letztlich nur wenigen Schwerstbeschädigten verschlossen, die insgesamt gepflegt werden mussten.
Das vorliegende Buch gibt nach meinem Verständnis einen guten Überblick über die Entwicklungsetappen des deutschen Schwerbehindertenrechts. Dabei werden viele Bezügen zu den Rechtsvorschriften hergestellt sowie alles mit entsprechenden Statistiken unterlegt – und dies anhand vieler Vergleiche zwischen der DDR und der früheren Bundesrepublik.
Mit Interesse habe ich auch die Kapitel zur Vertretung der Interessen von Schwerbehinderten in der DDR im Blindenverband, dem Gehörlosenverband, dem Verband für Versehrtensport und durch die Gewerkschaften gelesen. Diese Verbände boten durchaus Spielräume für das Engagement von Menschen mit Behinderungen. Sehr zu Recht weißt der Autor in seinem Buch aber darauf hin, dass entgegen verfassungsrechtlicher Bestimmungen die Gründung von Vereinigungen und Verbänden in der DDR staatlicher Zustimmung bedurfte. Mit der Gründung des Allgemeinen Behindertenverband der DDR im April 1990, also noch in der Zeit der DDR, wurde dieses Demokratie-Manko unter Leitung solcher Persönlichkeiten wie Detlef Eckert und Ilja Seifert korrigiert.,
Ebenso waren die Angaben zu den Wohnverhältnissen für Schwerbehinderte in der DDR und zu den damaligen Nachteilsausgleichen für mich sehr aufschlussreich. Die Darstellung des Bildungssystems für Schwerbehinderte in der DDR, von der Vorschulförderung bis hin zu den Sonderschulen in klinischen Einrichtungen, die berufliche Ausbildung sowie die Arbeit an geschützten Plätzen bis hin zu Sport und Freizeit von Schwerbehinderten in der DDR hat für mich das Leben von Schwerbehinderten anschaulich gemacht.
Mit dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hat es für Schwerbehinderte, die bis dahin in der DDR lebten, so schätzt der Buchautor ein, Gewinne und Verluste gegeben. In diesem Zusammenhang verweist er auf den Wandel der sozialen Lage und Veränderungen in der gesellschaftlichen Integration, bis hin zur nun weitgehenden Ausgrenzung aus der Arbeitswelt.
Der Autor des Buches „Inklusion statt ‚Sorgenkind'“ klammert in seiner Schrift auch die juristische Aufarbeitung der Euthanasie-Verbrechen sowie Gedanken zu Schwerbehinderung, Glaube und Kirche nicht aus und zeichnet finanzielle Leistungen an die Kirchen nach.
Letztlich nimmt er auch zu Formen der Behindertenfeindlichkeit in der Pharmazie sowie bei der Darstellung von Behinderungen in den Medien Stellung.
Bei meinem Fazit zu dem Buch von Dr. Werner Wolff berücksichtige ich, dass vor 30 Jahren mein Bein amputiert wurde. Dem schloss sich dann auch bei mir ein wachsendes Interesse an der Selbsthilfe und dem Thema „Schwerbehinderung“ an. Eigentlich war ich in der DDR aufgewachsen, hatte damals jedoch nichts mit Schwerbehinderungen zu tun. Gerade wegen meiner geringen persönlichen Erfahrungen mit Schwerbehinderungen in der DDR ist Werner Wolffs Buch für mich besonders interessant und aufschlussreich. Ich fand darin gute Informationen und selbst Antworten auf Fragen, die ich mir bis dahin noch gar nicht selbst gestellt hatte. Dabei war es für mich nicht ganz einfach, dieses Buch zu lesen – ein derart auf 180 Seiten und mit einer umfangreichen Quellenliste konzentriertes Geschichtswissen muss eben auch konzentriert gelesen werden. Zugleich machen mehr als 40 Abbildungen das Gelesene anschaulich.
Das Fachbuch „Inklusion statt ‚Sorgenkind‘ – Schwerbehinderte in der DDR, mit Vergleichen zur BRD“ ist beim Nora Verlag / BEBUG erschienen und zum Preis von 18,00 Euro im Buchhandel unter der ISBN 987-3-86557-499-2 zu erhalten.