
Foto: SZ - Screenshot Christian Mürner
Hamburg (kobinet) "Der Lech sitzt im Rollstuhl“ Unter diesem Titel erschien am 9. Oktober 2022 in der Süddeutschen Zeitung (online Ausgabe) ein Bericht in der Rubrik "Naturschutz in Bayern“. Im Vorspann hieß es, dass der Fluss der "am dichtesten verbaute Strom“ sei und als "Ruine“ gelte. Dieser Bericht - und vor allem auch der Titel - hat den Journalisten Christian Mürner zu einem Kommentar veranlasst, den er den kobinet-nachrichten zur Verfügung stellt.
Kommentar von Christian Mürner
„Der Lech sitzt im Rollstuhl“
Unter diesem Titel erschien am 9. Oktober 2022 in der Süddeutschen Zeitung (online Ausgabe) ein Bericht in der Rubrik „Naturschutz in Bayern“. Im Vorspann hieß es, dass der Fluss der „am dichtesten verbaute Strom“ sei und als „Ruine“ gelte. Damit war klar, wie der veranschaulichenden Verbindung eines Flusslaufs mit einem Rollstuhl gemeint war: er kann nicht mehr normal und natürlich fließen aufgrund zahlreicher Staustufen. Wer noch eine Ahnung hatte von der Behindertenfeindlichkeit, verstand, der Rollstuhl war als eine negative, schlechtmachende Symbolisierung gedacht. Es wird nun in einer neuen fragwürdigen Dimension ein von behinderten Menschen benutztes Hilfsmittel in den Vordergrund gerückt, während in den Anfängen der Ökologiebewegung Ende der 1980er die Behinderungen unverblümt genannt wurden. (siehe „Der Gesundheits-Fetisch“ von Franz Christoph/Christian Mürner, Heidelberg 1990)
Der Satz „Der Lech sitzt im Rollstuhl, wie viele andere Flüsse auch“ stammt von Silke Wieprecht, Professorin und Leiterin des Lehrstuhls für Wasserbau und Wassermengenwirtschaft der Universität Stuttgart. Der Text von Florian Fuchs in der Süddeutschen Zeitung fügte hinzu: „Der Fluss hat seine ursprüngliche Dynamik verloren, das sogenannte Geschiebe funktioniert nicht mehr: Das Geröll, das das Wasser eigentlich aus den Alpen den Fluss hinabtransportiert, kann die Staustufen nicht passieren. Das Flussbett wird dadurch instabil, Tiere und Pflanzen verlieren ihren Lebensraum.“ Die gute Absicht ist deutlich erkennbar: Der Lech soll „ökologisch nachhaltiger aufgestellt werden“. Das ist nachvollziehbar, rechtfertigt aber nicht zur Veranschaulichung der problematischen Situation den Rollstuhl als anerkanntes Hilfsmittel, welches u.a. öffentliche Teilhabe ermöglicht, in ein schlechtes Licht zu stellen. Der symbolisierende Vergleich verfehlt eine sachlich angemessene Darstellung.
Link zum Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 9. Oktober 2022