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Auf ein Wort: Gedanken zur heutigen Bundestagsdebatte zur Triage

Margit Glasow
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Foto: privat

Rostock (kobinet) In einem Beitrag unter dem Motto "Auf ein Wort" hat sich die Journalistin Margit Glasow vor der heutigen Debatte zu gesetzlichen Regelungen im Falle einer Triage Gedanken über dieses Thema gemacht. Sie fragt: "Ist jedes Leben gleich viel wert?"



Ist jedes Leben gleich viel wert?

Kommentar von Margit Glasow

Am heutigen Donnerstag wird im Bundestag über den Entwurf eines Gesetzes beraten, um die Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerG) vom 16. Dezember 2021 umzusetzen. Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie hatte der Erste Senat den Gesetzgeber dazu verpflichtet, unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage-Situation zu treffen.

Anne Gersdorff ist eine von neun Menschen mit zum Teil schweren Behinderungen, die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hatten. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie befürchteten sie, bei Entscheidungen über die Zuteilung möglicherweise nicht ausreichender intensivmedizinischer Ressourcen aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden. Gersdorff, Referentin von JOBinklusive, einem Projekt, das sich dafür engagiert, mehr Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen, war immer stolz darauf, ein aktives und weitgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können. Doch angesichts der Debatte um die Triage fragt sich die Rollstuhlfahrerin, die rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen ist, ob ihr Leben weniger wert sein soll als das von Menschen ohne Behinderungen. „Wie wären denn meine Überlebenschancen nach den Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften?“ Dort wird vorgeschlagen, in einer solchen Situation nach der Überlebenswahrscheinlichkeit zu entscheiden. „Aufgrund meiner schweren Behinderung würden viele denken, ich hätte eh keine Chance.“

Das Urteil des BVerG vom 16. Dezember 2021 war deshalb nach Meinung von Gersdorff ein großer Erfolg. Darin wird klargestellt, dass sich aus Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz für den Staat eine Schutzpflicht ergibt, Menschen wirksam vor Benachteiligung wegen ihrer Behinderung zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe, und verwies dabei auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Ärzte und Ärztinnen bräuchten rechtlich verbindliche Grundlagen für Entscheidungen, wen sie angesichts pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Ressourcen retten sollen und wen nicht.

Vertreten wurden die Beschwerdeführer:innen von Rechtsanwalt Prof. Dr. Oliver Tolmein von „Menschen und Rechte – Assoziation freier Rechtsanwält*innen“. Er zieht zur Beantwortung der Frage einen Vergleich zum historisch geprägten Ehrenkodex der Marine: „Frauen und Kinder zuerst. Der Kapitän verlässt als Letzter das Schiff.“ Übertragen auf die aktuelle Situation sichere diese ethische Grundregel zwar nicht, so Tolmein, dass die meisten Menschen in einer Gefahrensituation gerettet würden, aber sie sei Ausdruck einer Haltung, die sich angesichts der Katastrophe nicht in erster Linie an Effizienz, sondern an Solidarität und Sorge um die am meisten Gefährdeten ausrichte.

Anne Gersdorff erhofft sich für die heutige Debatte im Bundestag ein klares Statement, dass Menschen mit Behinderungen bei der Umsetzung des Beschlusses des BVerG nicht diskriminiert werden. Denn auch sie habe das gleiche Recht auf eine gegebenenfalls nötige überlebenswichtige, intensivmedizinische Versorgung. Doch viele Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen bezweifeln angesichts von bestehendem Personalmangel und fehlenden medizinisch-technischen Ressourcen, ob sie sich im Notfall tatsächlich darauf verlassen können, dass bei der Behandlung in den Krankenhäusern keine Selektion vorgenommen wird. Dass ausgeschlossen werden kann, dass eine Behinderung pauschal mit schlechteren Genesungsaussichten und Überlebenschancen verbunden wird. Sie kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass man sie bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs nur unzureichend beteiligt habe und ihre Expertise hinsichtlich Behinderung, Diskriminierung und Gesundheitsversorgung nicht ausreichend berücksichtigt worden wäre.

Viele plädieren deshalb angesichts des gesellschaftlich rauen Klimas und der prekären Situation im Gesundheitssystem für die so genannte Randomisierung. Das Zufallsprinzip soll entscheiden, wer als Erster die nötige intensivmedizinische Behandlung bekommen soll. „Die Randomisierung erscheint mir angesichts einer medizinischen Katastrophe als die am wenigsten diskriminierende Methode, die niemanden in ein vorgegebenes Werteschema presst, niemandem aufzwingt, Prognose- und Selektionsentscheidungen zu treffen und die dennoch die Ressourcen an die verteilt, die Anspruch darauf haben, weil bei ihnen eine Indikation für die Behandlung vorliegt, weil die Behandlung Erfolg haben kann – unabhängig von Behinderung und Vorerkrankungen“, so Prof. Dr. Oliver Tolmein.

Dennoch bleibt die menschenrechtlich-ethische Frage, wie human wir als Gesellschaft mit denjenigen umgehen wollen, die unseren besonderen Schutz brauchen. Wollen wir diejenigen zuerst behandeln, die ohnehin die größten Überlebenschancen haben? Oder diejenigen, die es am nötigsten brauchen? Ja, die Randomisierung, also das Zufallsprinzip, ist angesichts der bestehenden Verhältnisse wohl die diskriminierungsärmste Methode der gerechten Verteilung von intensivmedizinischen Ressourcen. Aber wäre es nicht die verdammte Pflicht des Staates, das Gesundheitssystem im Sinne der Daseinsvorsorge so auszugestalten, dass wir gar nicht erst in eine Triage-Situation kommen? Es wird sich zeigen, ob die Politik versucht, sich weiter aus ihrer Verantwortung zu schleichen, oder ob sie bereit ist, einem weiteren gesellschaftlichen Scheitern etwas entgegenzusetzen.

An allem ist zu zweifeln. Bleiben wir kritisch!

Mit herzlichen, solidarischen Grüßen
Eure Margit Glasow

Link zum Bericht im Neuen Deutschland