
Foto: Andreas Vega
München (kobinet) Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet für Menschen mit Behinderung selbst zu entscheiden, seinen Alltag und seine Routinen, also seine ganzen alltäglichen Dinge, selbst zu bestimmen und zu organisieren. Wer dafür Hilfe und Unterstützung benötigt, um seine behinderungsbedingten Einschränkungen auszugleichen, der ist notwendigerweise auf andere Personen angewiesen. Viele Menschen mit Behinderung organisieren ihre Hilfen in ihrem Privathaushalt selbst im sogenannten „Arbeitgebermodell“, und entscheiden, wer, wie, wann und wo Unterstützung leistet. Mittlerweile ist das Arbeiten in der „Persönlichen Assistenz“ nichts Ungewöhnliches mehr. Allerdings bahnt sich für „behinderte Arbeitgeberer*innen“ und andere assistenzabhängigen Menschen bundesweit ein großes Dilemma an. Es gibt einen absoluten Mangel an Interessenten für diesen verantwortungsvollen Beruf!
Ende der siebziger Jahre entstanden Modelle, in denen Menschen mit Behinderung, die nicht mehr in Heimen der klassischen Behindertenhilfe kaserniert werden wollten, mit Assistenz in ihrer eigenen Wohnung leben konnten. Um Kosten zu sparen, wurden sogenannte „freie Helfer“ aus den Kreisen von Zivildienstleistenden eingesetzt. Diese konnten kostengünstig auch „Rund um die Uhr Hilfen“ abdecken. Da später der Zivildienst ein Auslaufmodell war und sich ein erheblicher Mangel an diesen Kräften abzeichnete, wurde zwangsläufig ein Billiglohnsektor in diesem Bereich installiert. Möglicherweise stieß Bundespräsident Walter Steinmeier aus dieser Tradition eine Diskussion um die Einführung eines Pflichtjahres an, was sehr kontrovers und zum Teil heftig in den sozialen Medien diskutiert wird.
Assistenz für 5 DM die Stunde, und das „Schwarz“, also ohne jegliche soziale Absicherungen wie Krankenversicherung etc., setzte sich Anfang der achtziger Jahre in der ambulanten Hilfe durch. Dieser „freie Helfer Job“ war für Student*innen und Schulabgänger*innen jener Jahre ideal, es fielen keine bürokratischen Umstände und auch keine Sozialabgaben und Steuerlast an. Für viele war es schlicht und einfach bequem – für die hilfeabhängigen Menschen mit Behinderung und die damals sogenannten „freiwilligen Helfer*innen“. Und aus dem Pool ehemaliger Zivildienstleistender gab es gute Rekrutierungsmöglichkeiten für die folgenden Monate und im Idealfall auch Jahre. Es gibt sie, die in dieser Arbeit nach dem Zivildienst hängen geblieben sind.
Mitte der achtziger Jahre kämpften viele behinderte Aktivist*innen für die Anerkennung ihrer Selbstorganisation der eigenen Hilfen – im sogenannten „Arbeitgebermodell“. Die Sozialbehörden gerieten damals in den Verdacht Schwarzarbeit zu fördern und mussten auf öffentlichen Druck hin die zusätzlichen Kosten für die Nebenabgaben, wie Krankenkassen und Finanzamt (Arbeitgeber*innenkosten) schließlich übernehmen. Von da an wandelten sich die Strukturen in der persönlichen Assistenz gravierend. Mitarbeiter*innen formulierten den berechtigten Anspruch, aus den Einnahmen ihrer Arbeit leben zu können. In den Ballungsgebieten war und ist das nach wie vor mit den aktuellen Stundenlöhnen unmöglich. Eine Familie zu ernähren oder gar Wohneigentum zu schaffen ist mit der jetzigen Entlohnungsstruktur nicht realisierbar. Auch Mieten in den großen Ballungsräumen zu finanzieren, ist so gut wie unmöglich. Obwohl seit einigen Jahren Erhöhungen der Stundenlöhne im Centbereich von den Sozialbehörden genehmigt werden, reichen diese bei weitem nicht aus, die große Verantwortung in diesem Arbeitsbereich widerzuspiegeln. Zudem gibt es riesige Unterschiede bei den Stundensätzen in den verschiedenen Regionen innerhalb der Republik. Sie reichen von Stundenlöhnen in der Höhe des Mindestlohns bis etwas höheren Sätzen, die trotzdem nicht attraktiv genug sind.
Die Akquirierung von geeignetem Personal wird immer schwieriger. Vereine und Organisationen stellen seit vielen Jahren Vermittlungsstellen für persönliche Assistent*innen zur Verfügung und vermitteln durch Schulungen und Seminare das Know-how für Arbeitgeberkompetenzen. Leute für sein Team zu suchen, anzuleiten und ein zufriedenes Arbeitsklima zu schaffen, muss gelernt sein. Professionelle Pflegedienste stehen ja auch noch in direkter Konkurrenz zu den Privathaushalten der behinderten Arbeitgeber*innen. Es werden zwar die gleichen Aufgaben und Arbeiten erledigt, allerdings sind in der Regel die Stundenlöhne gravierend höher und es gibt deutlich mehr an sozialen Leistungen für deren Mitarbeiter*innen. Es ist attraktiver bei einem Pflegedienst angestellt zu sein, als direkt in das Team einer behinderten Arbeitgeber*in einzutreten. Die Selbstbestimmung behinderter Menschen bleibt in dieser Konstellation leider auf der Strecke.
Eine weitere Gruppe spürt diesen Fachkräftemangel extrem. Viele Menschen mit großen Einschränkungen haben zusätzlich eine Atembehinderung. Sie werden aufgrund der Diagnosen mittlerweile von den Krankenkassen in die Pflege von Intensivpflegediensten gezwungen. Auch dort ist die Personalsituation mittlerweile schwierig. Es häufen sich die Fälle, wo „Patient*innen“ in Wohngruppen zwangsverlegt werden, weil zu wenig Personal verfügbar ist. Das von der UN Behindertenrechtskonvention garantierte Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf bedarfsdeckende persönliche Assistenz wird nicht beachtet!
So geschehen ganz aktuell in München. Eine behinderte Arbeitgeberin erlitt im Jahr 2013 eine Infektion und musste intubiert werden. Die Folge war ein bleibender Luftröhrenschnitt mit Dauerbeatmung. Die Krankenkasse trat auf den Plan und erzwang eine Versorgung durch einen Intensivpflegedienst. Ihr Arbeitgebermodell musste sie aufgeben, konnte aber zunächst ihr eigenes Personal in den Intensivpflegedienst „mitnehmen“. Die Zusage des Pflegedienstes, dass alle mitgebrachten Personen ausschließlich bei ihr eingesetzt würden, wurde nicht eingehalten. Auf einmal standen wildfremde Pflegekräfte in der Wohnung und bemängelten den Lebensstil der behinderten Mutter und ihrer Familie. Die Krönung der Entrechtung fand im März 2022 statt. Aufgrund von Personalschwierigkeiten konnte der Pflegedienst die Versorgung nicht mehr sicherstellen und verlegte die Frau zwangsweise in eine Wohngruppe des Dienstes. Seit diesem Zeitpunkt kämpft sie um ihre Selbstbestimmung und die Rückkehr in ihre eigene Wohnung.
Auch aus Mainz ist ein solcher Fall den kobinet Nachrichten bekannt. Am 4.12.2017 berichteten wir über Manfred K. aus Mainz, der durch eine Verschlimmerung seiner Behinderung eine rund um die Uhr Beatmung benötigte. Das Krankenhaus und die Krankenkasse bestanden auf eine „Betreuung“ durch einen medizinischen Intensivpflegedienst. In der anschließenden Rehabilitation wurde nach vielen Komplikationen ein solcher gefunden. Zunächst wollte ihn der Pflegedienst zwingen seine Lebensumstände (Zusammenleben mit seinem Ehepartner, Katzenhaltung, etc.) zu verändern. Dabei kam es sogar zu einem Polizeieinsatz. Kobinet berichtete darüber und wurde von einem Anwalt dieses Pflegedienstes unter der Androhung einer Unterlassung gezwungen den Bericht zu schwärzen. Ebenso musste Manfred K. zu einem späteren Zeitpunkt wegen Personalmangel eine Zwangsunterbringung in einer Wohngruppe erdulden. Diese war zum Glück nur vorübergehend.
Organisationen und Vereine, die sich der Idee eines selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderung verschrieben haben, betreiben, wie bereits erwähnt, seit den neunziger Jahren Assistenzbörsen im Internet. Auf den Plattformen besteht die Möglichkeit anonymisierte Stellenangebote bzw. Stellengesuche zu veröffentlichen. Eine Zeit lang funktionierte diese Art der Vermittlung relativ gut. Mittlerweile sieht es aber ganz anders aus. Das lässt sich an dem Verhältnis zwischen Stellenangeboten und Stellengesuchen belegen. Bei der Plattform „Assistenzbörse.de“, die für die Vermittlung im Großraum München steht, gibt es 36 Stellenangebote und keine einzige Anzeige einer arbeitssuchenden Person. Bei der Assistenzbörse.eu, die bundesweit agiert, finden wir bei 26 Stellenangeboten nur zwei Stellengesuche. Da diese speziellen Vermittlungsplattformen für Nutzer*innen keine Erfolge mehr versprechen, werden in den sozialen Medien (zum Beispiel Facebook) immer mehr private Assistenzbörsen und Gruppen eingerichtet. Im Unterschied zu den speziell ausgerichteten Vermittlungsplattformen der non Profit Organisationen, gibt man im sozialen Netzwerk Facebook alles über die eigene Person preis. Hier wird auch ein Wettbewerb der Rahmenbedingungen ausgerufen. Wer bietet ein Assistent*innenzimmer? Wer bietet die besten Bedingungen und die meiste Pausenzeit? Mittlerweile greifen behinderte Arbeitgeber*innen auch zur Veröffentlichung ihrer Profilbilder und drehen kleine Videos. Private Daten werden im Netz gnadenlos für eine verzweifelte Personalsuche öffentlich geteilt. Die Erfolgsaussichten sind aber auch hier mehr als mäßig. Erst kürzlich beklagte sich ein behinderter Arbeitgeber aus dem Großraum Frankfurt über null Resonanz auf seine Anzeige in einer solchen Facebook Gruppe. In den Kommentaren im nachfolgenden Chat bestätigten fast alle Nutzer*innen diese Situation bei ihrer Personalsuche in ihrer jeweiligen Heimatregion. Eine sinnvolle und verantwortungsvolle Arbeit für Menschen mit Behinderung gegen Geld zu leisten scheint völlig out zu sein. Einen Krüppel den Arsch abzuwischen ist einfach keine schöne Aufgabe!
Woran liegt das? Zum einen zieren sich Kostenträger in fast allen Bundesländern einen vernünftigen und angemessenen Stundenlohn zu erstatten. Beifall klatschen in der Pflege reicht eben nicht aus. Auch die immer wieder aufploppenden Berichte über Missstände in Altenheimen und Krankenhäusern fördern das Desinteresse, in solch einem Berufsfeld arbeiten zu wollen. Während ein IT Fachmann 50 € bis 120 € Stundenlohn für die „Pflege eines Computers“ verlangen kann, ist die Pflege und Unterstützung für Menschen mit Behinderung gesellschaftlich immer noch zu niedrig angesiedelt, obwohl lange Blöcke und freie Diensteinteilung ein interessanter Vorteil sein könnte. Erschwerend wirkt, dass in den meisten Fällen keine sozialen Zusatzleistungen wie Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld oder ein 13. Monatsgehalt übernommen werden. Betriebliche Altersversorgung ist meist nicht vorhanden. Der Arbeitsmarkt ist außerdem, wie wir in den Nachrichten hören, leergefegt. Die Arbeitslosenquote ist niedrig. Und die Diskussion und Einführung der „einrichtungsbezogenen Impfpflicht“ gab den Jobs in den privaten Haushalten endgültig den Todesstoß.
Löblich sei erwähnt, dass die Berliner rot-rot-grüne Koalition 1 Millionen € zusätzlich bereitstellen, um eine tarifliche Anpassung zu ermöglichen. Dort wird schon seit längerem eine tarifliche Regelung bei der Bezahlung praktiziert. Die letzten Verhandlungen zwischen behinderten Arbeitgeber*innen und der dort für persönliche Assistenz zuständigen Gewerkschaft Verdi, waren erfolgreich – es fehlte nur der Wille der Kostenträger, diesen Tarif zu erstatten.
Im restlichen Bundesgebiet verhandeln vereinzelt behinderte Arbeitgeber*innen mit ihren Kostenträgern für eine bessere Bezahlung ihrer Assistenz. Beim Bezirk Oberbayern, der für die Finanzierung persönlicher Assistenz im Rahmen der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe zuständig ist, hat sich eine Münchner Initiative in einem Ausschuss für eine erhebliche Erhöhung der Stundenlöhne ausgesprochen. Große Unterstützung erfährt die Initiative „BRK von unten „(BRK = Behindertenrechtskonvention) von der oberbayerischen Bezirkstagsfraktion „Die Linke“. Der Fraktionssprecher Professor Dr. Klaus Weber nervt gezielt den Bezirkstagspräsidenten Josef Mederer mit zahlreichen Anfragen zu den Rechten von Menschen mit Behinderung und deren Unterlassungen durch den Bezirk, unter anderem auch zu den viel zu niedrigen Assistenzlöhnen. Doch, wen wundert es, diese Verhandlungen sind zäh und langwierig. Bisher gibt es bundesweit nur in wenigen Fällen Erfolge zu vermelden. Das Arbeitgebermodell scheint hier tatsächlich am Ende angekommen zu sein. Was müsste sich ändern, um die persönliche Assistenz zu sichern und zu einem Erfolgsmodell auszubauen?
Als allererstes muss eben eine vernünftige Entlohnung her. Pflege wird generell viel zu schlecht bezahlt. Seit Jahrzehnten wird über Missstände und Menschenrechtsverletzungen in Heimen und Einrichtungen der klassischen Behinderten- und Seniorenhilfe berichtet. Die Pflegekräfte werden als die „Putzfrauen“ aller Arbeitskräfte wahrgenommen. Nur wenn Pflege eine bessere soziale Anerkennung in der Gesellschaft findet, wird die Personalsituation auch in der persönlichen Assistenz, zum Beispiel im „Arbeitgebermodell“, besser werden. Soziale Anerkennung funktioniert nur mit einem gerechten und angemessenen Lohn. Auch müssen die Stundenlöhne im Arbeitgebermodell vergleichbar mit den Stundensätzen ambulanter Pflegedienste sein. 25 € die Stunde ist sicher nicht zu wenig, wenn man die notwendige Zuverlässigkeit und Verantwortung einer persönlichen Assistent*in im notwendigen Maß honorieren will. Und die Vergütung der persönlichen Assistenz muss aus der Sozialhilfe herausgelöst werden. Der Geist der Subsidiarität hat bei der Bezahlung von Assistenzkräften im „Arbeitgebermodell“ überhaupt nichts verloren. Nur so kann sich gesellschaftliche Anerkennung im Bereich Pflege und Assistenz entwickeln.
Eine kurzfristige Lösung ist nicht in Sicht. Es drohen akute Versorgungsnotlagen. Bis die Politik Änderungen herbeiführen kann, ist zu befürchten, dass Menschen mit Behinderung mit Assistenzbedarf wieder in Einrichtungen zwangsverlegt werden. Es bleiben also erst mal traurige Aussichten.
Müsste es nicht heißen „25 € die Stunde ist sicher nicht zu VIEL, wenn man die notwendige Zuverlässigkeit und Verantwortung einer persönlichen Assistent*in im notwendigen Maß honorieren will.“?