Berlin (kobinet) Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat nun den erwarteten Referentenentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes in Sachen Triage an über einhundert Verbände versandt. Es handelt sich dabei um die Einfügung eines Artikels 5c unter der Überschrift "Verfahren im Falle pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger, intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten“. Die Frist für die Einreichung einer Stellungnahme wurde auf den 22. Juli 2022 festgelegt. Damit wird das parlamentarische Verfahren erst ab September diesen Jahres beginnen können, da der Bundestag ab dem 8. Juli in die Sommerpause geht, wie H.-Günter Heiden vom NETZWERK ARTIKEL 3 mitteilt.
Vorbehaltlich einer detaillierten Einschätzung sieht das NETZWERK ARTKEL 3 wesentliche Fragen im Referentenentwurf unbeantwortet. So wird als Entscheidungskriterium immer noch die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ benannt, ohne dass diese genau im Gesetz definiert ist. Die Anwendung eines solchen Kriteriums bedeutet in der Konsequenz die Abwägung von Lebenschancen und dies verstößt gegen den Grundsatz, dass kein Leben gegen ein anderes abgewogen werden darf, man spricht hierbei von der sogenannten „Lebenswertindifferenz“.
Das denkbare alternative Entscheidungskriterium einer „Randomisierung“ ist nach Informationen des NETZWERK ARTIKEL 3 im Entwurf nicht vorgesehen. Ferner dürfen „Komorbiditäten“ nur berücksichtigt werden, „soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern“. Aber auch hier werde nicht definiert, was unter „Komorbiditäten“ zu verstehen ist und inwiefern dies von „Behinderung“ abgegrenzt wird.
Die Entscheidung soll dann von „zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden“ Fachärzt*innen getroffen werden. Bei Menschen mit Behinderungen soll zwar eine weitere Person mit „Fachexpertise“ hinzugezogen werden, dies wird aber sofort wieder im nächsten Satz relativiert wenn eine „Dringlichkeit“ entgegensteht. Gibt es eigentlich Triage Situationen, die nicht dringlich sind, fragt H.-Günter Heiden vom NETZWERK ARTIKEL 3.
Entscheidungen im Triage-Fall sollen zwar dokumentiert werden, aber es fehle eine richterliche Genehmigungspflicht, wie sie etwa bei der Verhängung von Zwangsmaßnahmen vorgeschrieben ist. Ferner fehlen strafrechtliche Konsequenzen, wenn gegen das vorgeschriebene Diskriminierungsverbot verstoßen wird. Vorgaben für „Aus-, Fort- und Weiterbildungen“ in der Intensivmedizin, wie sie auch das Bundesverfassungsgericht angesprochen hat, um Stereotypisierungen und unbewussten Vorurteilen vorzubeugen, fehlen nach Informationen des NETZWERK ARTIKEL 3 ebenso im Referentenentwurf. So erscheine es zweifelhaft, inwiefern der vorliegende Text den Vorgaben des höchsten Gerichtes gerecht wird. „Erlaubt ist ja auch die Frage, warum dies im Infektionsschutzgesetz geregelt werden soll (und hinter den Ausführungen zur Maskenpflicht!) und nicht etwa im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)?“ betont H.-Günter Heiden. So blieben viele Punkte offen oder schwammig, auch wenn die Ex-Post-Triage nun definitiv ausgeschlossen wird. Ein Grund zum Jubeln sei dies jedoch nicht.
Der Referentenentwurf, der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes und weitere wichtige Texte sind auf der Webseite www.runder-tisch-triage.de unter „Basis-Dokumente“ zu finden. Um sie zu lesen, ist keine Registrierung erforderlich. Der Verlauf der Diskussion seit März 2020 ist unter der Rubrik „Aktuelles und weiterführende Links“ einzusehen.