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Werkstätten unter Rechtfertigungsdruck: Weniger Geld bei gleicher Leistung

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Foto: NW3

Baunatal (kobinet) Jahrelang konnten die Werkstätten für behinderte Menschen sich bei schönen Sommerfesten oder bei Politiker*innen-Besuchen feiern und zur Schau stellen, was sie alles Gutes für behinderte Menschen machen. Die Kritik der Betroffenen an geringen Löhnen, fehlenden Arbeitnehmerrechten und zum Teil schlechter Behandlung von oben herunter blieb dabei weitgehend ungehört oder verhallten im System. Das hat sich in den letzten Jahren durch zunehmende kritische Berichte über die geringen Entgelte und äusserst niedrigen Vermittlungsquoten der Werkstätten geändert. Und so müssen sich zusehends auch die Werkstätten vor Ort, wie aktuell die Baunataler Werkstätten, öffentlicher Kritik stellen, zumal die Entgelte trotz gleicher Leistung zum Teil noch gesenkt wurden.

„Der 56-Jährige Ralf Gippert ist seit 2018 über die Werkstätten der Baunataler Diakonie Kassel (BDKS) bei einer Firma tätig, wo er Waren verpackt und dies auch selbstständig in ein Computersystem einspeist. Das funktioniere einwandfrei, auch die Arbeit mache ihm Spaß, sagt sein Vater Rudi, der auch der gesetzliche Betreuer seines Sohnes ist. Nun soll Ralf Gippert der Lohn für seine Tätigkeit, die 35 Stunden pro Woche umfasst, gekürzt werden – was Rudi Gippert als Frechheit empfindet, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung sagt.“ So heißt es in einem Bericht der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) vom 2. Februar 2021. Von 398,51 Euro im Jahr 2017 sei die Entlohnung auf aktuell 349,35 Euro bei gleicher Tätigkeit abgesenkt worden.

Link zum Bericht vom 2.2.2022 in der HNA

Unter der Überschrift „Beschäftigte ausgebeutet? Baunataler Werkstätten weisen Vorwurf zurück“ berichtete die HNA nun am 6. Februar erneut über die Vorwürfe, nachdem es eine Reihe von Negativ-Kommentare an die Werkstatt gegeben hatte. Auch in den sozialen Netzwerken hatte es Kritik gegeben. Das Hauptargument der Baunataler Werkstätten ist: „Die Arbeit in den Werkstätten könne mit einer Erwerbstätigkeit in Vollzeit nicht direkt verglichen werden, da sie gesetzlich dazu verpflichtet seien, weitere Leistungen wie Pflegetätigkeiten, Ergo- und Physiotherapie sowie verschiedene Freizeitangebote anzubieten“, wie es im Bericht vom 6. Februar in der HNA heißt.

Link zum HNA-Bericht vom 6. Februar 2022

Nach Ansicht des NETZWERK ARTIKEL 3 besteht nicht zuletzt aufgrund der klaren Kritik des UN-Ausschuss zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am deutschen Werkstättensystem dringender Handlungsbedarf für inklusive Arbeitsangebote für behinderte Menschen. In einem Land mit Mindestlohn, der weiter erhöht werden soll, sei es unerträglich, welches Schattensystem hier herrsche, das behinderte Menschen arm hält. Ein Anfang könne beispielsweise dort gemacht werden, wo behinderte Menschen schon auf ausgelagerten Arbeitsplätzen von Werkstätten bei regulären Arbeitgeber*innen arbeiten. Also dort, wo man sich schon kennt. Es sei nach Ansicht des NETZWERK ARTIKEL 3 völlig unverständlich, warum diese Arbeitsplätze nicht in reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Unterstützung des Budget für Arbeit umgewandelt werden.

Siehe auch:

Echte Arbeitsplätze statt billig entlohnter Leiharbeit auf ausgelagerten Arbeitsplätzen – kobinet-nachrichten vom 24.1.2022

20.000 potentielle Budgets für Arbeit – kobinet-nachrichten vom 20.1.2022