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Situation behinderter und kranker jüdischer Menschen im NS-Regime

Prof. Dr. Marianne Hirschberg
Prof. Dr. Marianne Hirschberg
Foto: privat

Jerusalem, Israel (kobinet) Prof. Dr. Marianne Hirschberg von der Universität Kassel wurde vom Leiter des Instituts für zeitgenössisches Judentum, des Avraham Harman Research Institute of Contemporary Jewry, eingeladen, in Israel zur Situation behinderter und kranker jüdischer Menschen im NS-Regime zu forschen. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit der Professorin für Behinderung, Inklusion und soziale Teilhabe folgendes Interview über ihre Forschungstätigkeit und ihre Erfahrungen in Israel.

kobinet-nachrichten: Während wir derzeit im kühlen Deutschland frieren, hat es Sie in die Wärme Israels verschlagen. Was führte Sie genau dort hin und was machen Sie da genau?

Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Ich bin vom Leiter des Instituts für zeitgenössisches Judentum, des Avraham Harman Research Institute of Contemporary Jewry, eingeladen. Er freut sich, dass dieses für ihn bisher unbekannte Thema erforscht wird. Bereits in einem früheren Forschungsaufenthalt in Jerusalem hatte ich festgestellt, dass die Situation behinderter und kranker jüdischer Menschen im NS-Regime in der Forschung kaum beachtet wird. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem liegt der Fokus auf dem Massenmord an jüdischen bzw. von den Nationalsozialisten als jüdisch konstruierten Menschen, andere Opfergruppen werden kaum erwähnt. Dann hörte ich jedoch von einer Datensammlung kranker und behinderter Menschen, die in Yad Vashem im Archiv sei. Diese möchte ich sichten, jedoch auch weitere Recherche-Möglichkeiten in Israel nutzen, wie zum Beispiel die der Bibliothek der Hebrew University of Jerusalem. Am Donnerstag habe ich einen Termin dort.

Über einen Dienstortverlegungsantrag für das Wintersemester 2021/2022 arbeite ich von der Hebrew University of Jerusalem aus, lehre digital an der Uni Kassel und versuche, mir zeitliche Freiräume für mein kleines Forschungsprojekt zu schaffen.

kobinet-nachrichten: Die Verfolgung jüdischer behinderter bzw. kranker Menschen während der Nazi-Zeit ist wirklich ein Thema, mit dem wir uns bisher kaum auseinandergesetzt haben. Welche ersten Erkenntnisse haben Ihre Forschungen dazu bereits hervorgebracht?

Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Meine erste Erkenntnis ist, dass beide Forschungsfelder – der Massenmord an behinderten und kranken Menschen (Aktion T4/Euthanasie-Mord) und der Massenmord an jüdischen Menschen (Holocaust) – meist getrennt erforscht wurden. Es gibt kaum Fachliteratur zur Verfolgung behinderter jüdischer Menschen – soweit mein erster Stand.

Dies ist in der Forschung vielfach so: Bisher wurde nicht oder nur wenig intersektional gedacht, wie zum Beispiel jüdische homosexuelle Frauen verfolgt und aufgrund welcher Kategorie von den Nazis umgebracht wurden.

kobinet-nachrichten: Warum wurde Ihrer Meinung nach dieses Thema bisher so wenig beleuchtet?

Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Traditionell liegt ein Schwerpunkt auf der Erforschung des Holocaust, inzwischen gibt es eine Entwicklung von Holocaust Studies zu Genocide Studies, die allgemein Genozide oder Massenmorde an bestimmten Bevölkerungsgruppen untersuchen.

Der Massenmord an behinderten und kranken Menschen wurde vergleichsweise erst spät als Forschungsfeld anerkannt. Die Initiative hierzu ist auf die Krüppelgruppen zurückzuführen, die seit Mitte/Ende der 1970er Jahre auf die Lebensverhältnisse und die Menschenrechtsverletzungen an behinderten Menschen hinwiesen. Auch Ernst Klee oder die medizingeschichtliche Forschung sind hier zu nennen.

Die Verbindung beider, also die NS-Verfolgung aus mehreren Gründen, erfordert ein interdisziplinäres Interesse an intersektionaler Forschung. Zudem wird Interdisziplinarität in Forschungsfinanzierung und Wissenschaft zwar betont, Stellen werden jedoch häufig in den klassischen Disziplinen vergeben.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie zurück nach Deutschland kommen, was bringen Sie dann im Rucksack zum Thema, aber auch generell mit?

Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Ich hoffe, Material zu finden, mit dem ich in den deutschen (und österreichischen) Gedenkstätten wie Hadamar oder Brandenburg weiterforschen kann.

Generell nehme ich etwas mit, was ich hier am Institut genieße, mit großem eigenen Interesse zu forschen und zu lehren und hierbei weniger Schwere, sondern eher Gelassenheit zu erleben.

Ansonsten ist die israelisch-palästinensische Gesellschaft jünger, kinderreicher als die deutsche. Sie ist sehr kinderfreundlich, so wurde unser Sohn in seinem fröhlichen Laufen auch schon mal fast vom Tapsen in ein Straßenloch in der Altstadt bewahrt von einer freundlichen Hand, doch dann ist er selbst dem Loch ausgewichen.

kobinet-nachrichten: Was gefällt Ihnen derzeit bei Ihrem Auslandsaufenthalt am meisten und was vermissen Sie?

Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Ich mag meine hiesigen Freund*innen, Kolleg*innen, und natürlich die Wärme, die meinem Rücken sehr gut tut, und die regionalen Köstlichkeiten wie frische Mangos oder auch den Anblick eines Zitronenbaums vor dem blauen Himmel.

Was ich vermisse, sind Freund*innen, Familie und andere nette Kolleg*innen.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Link zu weiteren Infos zum Wirken von Prof. Dr. Marianne Hirschberg