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Zusatzprotokoll zu Zwangsmaßnahmen wird dem Ministerkomitee des Europarat vorgelegt

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Europarat-Zusatzprotokoll zu Zwangsmaßnahmen wird Ministerkomitee vorgelegt
Foto: Julia Lippert

Berlin (kobinet) Psychiatrische Zwangsmaßnahmen im Dickicht europäischer Gesetzgebungsprozesse

Wer als nicht juristisch geschulte Person danach sucht wie europäische Übereinkommen zusätzliche Protokolle erhalten und wer dafür zuständig ist, kann lange suchen. Der folgende Text versucht die Entscheidungsschritte zum Entwurf des Zusatzprotokolls zur Oviedo-Konvention, das psychiatrische Zwangsmaßnahmen an Menschen mit psychosozialen Behinderungen regeln soll, nachzuzeichnen und einzelne Entscheidungsschritte und entsprechende Gremien vorzustellen.

Nicht nur ist die Geschichte lang, sondern sie ist auch intransparent. Letzte Woche wurde im bioethischen Ausschuss des Europarats der Entwurf zum Zusatzprotokoll entschieden und nun dem Ministerkomitee zur Entscheidung vorgelegt. Ein schlechtes Signal.

Die unsäglich lange Geschichte des Zusatzprotokoll zur Oviedo-Konvention

Mit dem „Schutz“ von Menschen mit „Geistesstörungen“ (mental disorder) befasst sich der Europarat seit mehr als 30 Jahren. Das Ministerkomitee [1] des Europarates hatte bereits 1983 eine Empfehlung an die Mitgliedsstaaten über den „rechtlichen Schutz von Personen, die an einer Geistesstörung leiden und als unfreiwillige Patienten untergebracht sind“ (Nr. R (83)2) angenommen.

Im Jahr 1994 wurde dann von der parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) eine „Empfehlung über Psychiatrie und Menschenrechte“ (Recommondation 1235 (1994))) angenommen und das Ministerkomitee aufgefordert eine neue Empfehlung zu verabschieden. In Folge dessen setzte das Ministerkomitee den „Arbeitskreis über Psychiatrie und Menschrechte“ (CDBI-PH) als untergeordnete Einrichtung des Lenkungsausschuss [2] über Bioethik (Steering Committee on Bioethics – CDBI) ein. Dieser Arbeitskreis hatte die Aufgabe rechtliche Richtlinien zu medizinischen Zwangsmaßnahmen, die in eine neue Rechtsurkunde des Europarats eingehen sollen, auszuarbeiten.

Anfang 2000 wurde von diesem Arbeitskreis das “White Paper über den Schutz der Menschenrechte und der Würde von Menschen, die an einer Geistesstörung leiden, insbesondere jener, welche als unfreiwillige Patient*innen in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind“ vorgelegt. Das „White Paper“ wurde damals vom Bundesministerium der Justiz an „interessierte Kreise im Bereich Psychiatrie und Menschenrechte“ mit der Gelegenheit zur Stellungnahme verschickt und stieß in Deutschland sowohl bei Fachverbänden und Psychiatrie-Erfahrenen wie auch in Justiz-Fachkreisen auf erhebliche Kritik. Trotz Kritik, nicht nur aus Deutschland, diente dieses White Paper als Diskussionsgrundlage für die damals noch im Entwurf vorliegende, neue Empfehlung des Ministerkomitees.

2004 hat dann das Ministerkomitee die „Empfehlung an die Mitgliedsstaaten über den Schutz der Menschrechte und der Würde von Personen mit psychischen Störungen“ (Recommendation Rec (2004)10) vorgelegt.

Anfang 2012 wurde der zuständige Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI), im Zuge der Reorganisierung der Behörden, durch den bioethischen Ausschuss (Committee on Bioethics, DH-BIO [3] ) ersetzt. Der bioethische Ausschuss übernahm somit die Aufgaben des vorherigen Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI) und damit auch die Aufgabe weiter an einem Entwurf einer Richtlinie im Auftrag des Ministerkomitees zu arbeiten.

2014 begann dieser Ausschuss mit der Arbeit an einem „Entwurf eines Zusatzprotokolls zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde von Personen mit psychischen Störungen im Hinblick auf nicht freiwillige Unterbringung und Behandlung“ (Entwurf eines Zusatzprotokolls zur Oviedo-Konvention). Dieser Entwurf des Zusatzprotokolls [4] zielt weiterhin darauf ab einen rechtlichen Rahmen für die Zwangsunterbringung und -behandlung von Personen mit psychischen Problemen zu schaffen.

Stand seit letzter Woche

Wie einigen, leider zu wenigen, bekannt, stand nun am 02. November dieser schon seit vielen Jahren kritisch hinterfragte Entwurf zum Zusatzprotokoll zur Oviedo-Konvention vor der Verabschiedung innerhalb des bioethischen Ausschuss und wurde beschlossen.

Folglich wird der Entwurf nun dem Ministerkomitee, trotz massiven zivilgesellschaftlichen Widerstands und auch Widerstand auf EU- und UN-Ebene (siehe unten), zur endgültigen Annahme vorgelegt. Vor der finalen Entscheidung des Ministerkomitees wird das Zusatzprotokoll dem Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) [5] – nicht zu verwechseln mit dem durch den DH-BIO 2012 abgelösten Lenkungsausschuss für Bioethik (CDBI) – sowie der parlamentarischen Versammlung des Europarats zur Prüfung und Erstellung einer unverbindlichen Stellungnahme vorgelegt. Die Entscheidung über den Entwurf erfolgt dann in der Regel im Konsens mit allen Mitgliedstaaten des Europarates.

Kritik aus allen Richtungen

Neben vielen anderen Kritikpunkten legt das Protokoll zum einen an keiner Stelle eine Unterscheidung zwischen stationären und ambulanten psychiatrischen Zwangsmaßnahmen fest. In Deutschland z.B. sind ambulante Zwangsmaßnahmen nicht mehr rechtlich zulässig. Zum anderen bleiben im Protokoll die zu berücksichtigenden Verfahrensweisen im Falle einer Zwangsmaßnahme uneindeutig. So soll z.B. die Entscheidung über eine psychiatrische Zwangsmaßnahme durch ein Gericht oder eine andere Stelle („competent body“) getroffen werden (Draft additional protocol, Rn. 147). Nach der Begriffsfestlegung aus dem Protokoll ist eine zuständige andere Stelle: „eine Behörde oder eine Person oder Stelle, die nach dem Gesetz befugt ist, eine Entscheidung über eine nicht freiwillige Maßnahme“ (Draft additional protocol, Rn. 94) zu treffen. Es ist zu vermuten, dass hier der Unterschiedlichkeit der nationalen Gesetzgebungen Rechnung getragen werden soll. So ungenaue Festlegungen lassen aber die Türen für ersetzende Entscheidungen sperrangelweit offen!

Das Zusatzprotokoll unterwandert somit sowohl die UN-BRK als auch bereits bestehende verschiedene nationale Rechtsbestimmungen zur Zulässigkeit von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen. Deutschland hat die Oviedo-Konvention selbst zwar nicht unterzeichnet und ratifiziert, dennoch ist die BRD im Ausschuss für Bioethik und den anderen Gremien des Europarates vertreten und stimmberechtigt.

Überholte Modelle, undurchsichtige Verfahren und falsche Signale

Auch die, wie oben beschrieben, vor fast 20 Jahren angenommene Empfehlung des Ministerrats stützt sich auf ein veraltetes, medizinisches Modell von Behinderung. Eine große Mehrheit von Ländern hat sich aber seither mit der Ratifizierung der UN-BRK zu einem Menschenrechtsmodell von Behinderung, dass auf den unveräußerlichen Rechten, der Würde und Integrität jedes Menschen ruht, bekannt.

Die Entwicklung rund um das Zusatzprotokoll muss als besorgniserregend gesehen werden. Gerade auch weil die Aufträge, Aufgaben und Mitglieder der Lenkungsausschüsse und deren Entscheidungsschritte sehr schwer nachzuvollziehen sind und zivilgesellschaftlicher Widerstand nur schwer aufzubauen ist. Auch den Aufbau der Annahmeprozesse innerhalb des Ministerkomitees und die daran beteiligten Vertreter*innen sind nur mühselig auszumachen. Diese Prozesse zeigen sich eher als ein undurchschaubares und langwieriges Dickicht, als dass sie in irgendeiner Form transparent seien.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) kritisierte bereits im Vorfeld die im Zusatzprotokoll formulierten Regelungen für die unfreiwillige Behandlung und Unterbringung von „Personen mit psychischen Störungen“. Auch Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen sowie Institutionen auf UN- und EU-Ebene hatten sich deutlich kritisch geäußert und ein Zurücktreten aus dem Prozess gefordert.

Leander Palleit, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte macht deutlich, dass „(d)er Ausschuss für Bioethik (…) das Zusatzprotokoll trotz gewichtiger Einwände nationaler und internationaler Expert_innen verabschiedet (hat).“ Außerdem haben „(d)ie Regelungen (…) unmittelbare Auswirkungen auf verschiedene Personengruppen, unter anderem Menschen mit demenziellen Erkrankungen oder psychosozialen Behinderungen. Für sie erhöht sich die Gefahr, von Institutionalisierung und Zwangsmaßnahmen betroffen zu sein.“

Mögliche zivilgesellschaftliche Schritte – ohne Gewähr

Auf der Internetseite www.withdrawoviedo.info/join befindet sich eine Präsentation in englischer Sprache (auf der Startseite runterscrollen). Diese Präsentation zeigt Schritte die unternommen werden können. Derzeit befinden wir uns in „Step 2“ des Prozesses. Dort werden Strategien vorgestellt:

1. Man kann sich an das Präsidium und den Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) wenden. Dort kann man an ihre Rolle als Aufsicht der Menschenrechte innerhalb des Europarats appellieren und darauf verweisen, dass das Zusatzprotokoll der UN-BRK widerspricht und bereits durch diverse Gremien auf EU- und UN-Ebene grundlegend kritisiert wurde.

2. Außerdem kann man um die Gelegenheit bitten seinen Standpunkt in der 95sten CDDH-Plenarversammlung am 23.-26. November 2021 beizutragen. Derzeit ist der bioethische Ausschuss (DH-BIO) Thema Nr. 12 (Item 12: Bioethics). In dem englischen Tages- und Arbeitsplan dieses 95sten Treffens sind alle zuständigen Personen, genaue Zeitabläufe und weitere Meetings zu finden.

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[1] Lenkungsorgan des Europarats ist das Ministerkomitee. Es wird durch die amtierenden Außenminister*innen der 47 Mitgliedstaaten gebildet. Das Ministerkomitee tritt einmal pro Jahr zu einer Plenarsitzung zusammen. An dieser Ministerkonferenz werden aufgrund vorgängiger Verhandlungen getroffene Entscheide offiziell verabschiedet und damit öffentlich wirksam gemacht. Da die eigentlichen Mitglieder des Ministerkomitees nicht das ganze Jahr über in Straßburg anwesend sind, werden sie dort durch ihre Botschafter*innen (Delegierte des Ministerkomitees) vertreten.

[2] Zur Bearbeitung von bestimmten Aufgabengebieten kann der Ministerrat des Ministerkomitees ständige Ausschüsse oder Lenkungsausschüsse einrichten. Diese Lenkungsausschüsse tagen in der Regel zweimal im Jahr als Plenarversammlung. Mitglieder der Lenkungsausschüsse sind nur Vertreter*innen der Regierungen der Mitgliedsländer, beziehungsweise der Staaten mit Beobachterstatus (gemäß Art. 17 Statut des Europarates). Stimmberechtigt sind nur die Vertreter*innen der Mitgliedstaaten. Lenkungsausschüsse werden von einem Vorstand, dem so genannten Büro, geleitet. Die Mitglieder des Büros, Vizepräsident*innen und Präsident*innen werden auf Zeit gewählt. Die Lenkungsausschüsse bereiten „Papiere“ vor, die sich mit einem bestimmten Thema befassen. Arbeitsgruppen wiederum erstellen beispielsweise auf Vorschlag des zuständigen Lenkungsausschusses einen Entwurf für ein „Papier“ und dieser Entwurf wird der Plenarversammlung zur Diskussion vorgelegt.

Der Ministerrat versendet das „Papier“ offiziell an die Regierungen der Mitgliedsländer, an die parlamentarische Versammlung des Europarates und in der Regel auch an das Europäische Parlament. Anschließend wird der Text auf die Homepage des Europarates gestellt, und alle Nichtregierungsorganisationen werden gebeten, Stellung zu nehmen. Nach Beendigung des Konsultationsprozesses und nach erneuter Beratung im Lenkungsausschuss kann dieser dem Ministerrat die endgültige Annahme eines Dokumentes empfehlen. Stimmt der Ministerrat zu, wird dieses Dokument zur Zeichnung durch die Mitgliedstaaten ausgelegt.

[3] Der bioethische Ausschuss (DH-BIO) setzt sich zusammen aus Expert*innen die von den Europarat-Mitgliedstaaten ernannt wurden. Jeder Mitgliedstaat verfügt über eine Stimme im Ausschuss, welcher sich zwei Mal im Jahr zu einer Vollversammlung trifft.

[4] (Zusatz-)Protokolle sind völkerrechtlich verbindlich. Protokolle präzisieren Konventionen, in diesem Fall die Oviedo-Konvention, für einen bestimmten Anwendungsbereich. Eine Unterzeichnung des Zusatzprotokolls setzt die Unterzeichnung der Konvention voraus. Die BRD hat die Oviedo-Konvention nicht unterzeichnet.

[5] Mitgliedschaft Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH): Eine Person pro Mitgliedsstaat „von höchstem Rang“ im Bereich der Menschenrechte. Im Allgemeinen Personen aus den Justiz- und Außenministerien. Mehr Informationen zum Aufbau CDDH und DH-BIO.