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Zwangsmaßnahmen: UN-BRK in Gefahr

Eine schwarze Linie geht kreuz und quer über das Papier, wie Irrgarten
Langer Weg zum Menschenrecht
Foto: Julia Lippert

Berlin (kobinet) Seit einigen Jahren diskutiert der Europarat ein Rechtsinstrument mit dem Titel „Entwurf eines Zusatzprotokolls zum Schutz der Menschenrechte und der Würde von Menschen mit psychischen Störungen in Bezug auf unfreiwillige Unterbringung und unfreiwillige Behandlung“. Dieses Protokoll ist ein zusätzliches Protokoll zur „Konvention über Menschenrechte und Biomedizin“. Die Konvention ist besser bekannt als Oviedo-Konvention des Europarates und ist ein individueller, rechtsverbindlicher Vertrag im Völkerrecht.

Das möglicherweise entstehende Zusatzprotokoll stellt eine klare Gefahr dar, die UN-BRK und ihre Forderung nach Freiheit und Sicherheit behinderter Menschen, zu unterwandern.

Zur Rechtssituation

Im internationalen Recht gilt die UN-BRK als führende Gesetzesbestimmung. Sie schützt die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 46 von 47 EU-Staaten haben die UN-BRK ratifiziert. Die UN-BRK garantiert Menschen mit Behinderungen das Recht auf die freie Wahl medizinischer Maßnahmen (z.B. Artikel 25 Abs. 3). Außerdem garantiert Artikel 3 a) der UN-BRK die individuelle Autonomie und das unveräußerliche Recht von Menschen mit Behinderungen, eigene Entscheidungen zu treffen. Artikel 14 hält fest, dass Menschen mit Behinderungen das Recht auf Freiheit und Sicherheit unveräußerlich zusteht und es ihnen auch nicht willkürlich entzogen werden kann. Des Weiteren garantiert Artikel 15, die Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung und Artikel 17 den Schutz der Integrität der Person.

Ein weiterer wichtiger Pakt zum Schutz der Menschenrechte, ist die Europäische Menschenrechtskonvention, die auch die Rechte auf Nicht- Diskriminierung, Freiheit, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit schützt (Artikel 5).

Zum Zusatzprotokoll

Das oben genannte Zusatzprotoll bezieht sich wie erläutert auf die Oviedo-Konvention. Die Oviedo-Konvention wurde 1997 zur Unterzeichnung aufgelegt und garantiert den Schutz vor Missbrauch wissenschaftlicher, medizinischer und biologischer Interventionen.

Der Artikel 1 hält fest, dass die Vertragsstaaten, die Integrität und Identität aller Menschen schützen und den Respekt vor der freien und individuellen Wahl aller Menschen gewährleisten müssen. Jedwede medizinische Behandlung darf nur unter gültiger und vollständiger Einwilligung der betroffenen Person stattfinden (Artikel 5). Desweiteren wird der Umgang mit Menschen, die ihre Einwilligung zu einer Intervention nicht geben können, geregelt (Artikel 17).

Das entstehende Zusatzprotokoll soll nun einen Regelkatalog festlegen, welcher bei einer Zwangseinweisung, bzw. -behandlung von Menschen mit „psychischen Krankheiten und/oder geistigen Behinderungen“ zu berücksichtigen ist (und damit Zwangsmaßnahmen legitimiert). Das Protokoll enthält mehrere Artikel, die sowohl von internationalen Rechtsagenturen, als auch von verschiedenen Mitgliedstaaten (Portugal, Nordmazedonien und Bulgarien) abgelehnt werden.

Die Kriterien unter welchen Zwangsmaßnahmen legitimiert werden sind unter Artikel 10 und 11 dieses Protokolls festgehalten. Diese lauten:

– wenn der psychische Gesundheitszustand der Person eine ernsthafte Gefahr für sich und andere darstellt (Artikel 10. i a und b, Artikel 11. i a und b)

– wenn die Zwangsunterbringung einen therapeutischen Zweck erfüllt (Artikel 10. ii und Artikel 11. ii)

– wenn freiwillige Maßnahmen nicht ausreichen, um die Abwendung der Gefahr zu gewährleisten, wie sie in Artikel 10 i und 11 i festgehalten sind (Artikel 10. iii und Artikel 11. iii)

In Artikel 12 des Protokolls werden Verfahren festgehalten, die eine Zwangsunterbringung und -behandlung regeln. Darin heißt es, dass diese Maßnahmen nur auf Grundlage einer Untersuchung durch einen Arzt, mit entsprechenden medizinischen Standards, stattfinden darf und die Durchführung durch ein Gericht oder eine andere zuständige Person, entschieden werden muss.

Maßgebliche Kritik am Protokoll

Die grundlegende Kritik an diesem Protokoll ist, dass sie die rechtliche Grundlage und damit Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen an Menschen mit psychosozialen Behinderungen und anderen Lernmöglichkeiten gerade erst auslegt und damit rechtfertigt. Das geschieht entgegen der Missbilligung solcher Maßnahmen durch die UN-BRK und entscheidender UN-Gremien:

Dass eine menschenrechtskonforme Unterstützung von Menschen mit psychischen Behinderungen auf den Verzicht von gewaltausübenden Praktiken, unfreiwilligen Unterbringungen und unter Anerkennung der uneingeschränkten rechtlichen Handlungsfähigkeit betroffener Menschen fußt, betonen verschiedene UN-Mandatsträger (A/HRC/39/36, 40.-45.). Die Infragestellung der Alleingültigkeit des biomedizinischen Modells, als Grundlage der Rechtfertigung unfreiwilliger Maßnahmen, ist dabei entscheidend.

Der Sonderberichterstatter für das Recht aller auf das Erreichen des höchstmöglichen Standards für physische und psychische Gesundheit, fordert in seinem jüngsten Bericht (A / HRC / 44/48), dass alle Vertragsstaaten sich darum bemühen müssen, jegliche gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zu ergreifen, einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei der Unterstützung von Menschen mit psychischen Behinderungen zu gewährleisten.

Einen weiteren Aspekt in diesem Kontext, liefert der Sonderberichterstatter zu Folter im März 2020. Dieser besagt, dass psychiatrische Interventionen auch wenn sie aus „medizinischer Notwendigkeit“ oder „im besten Interesse“ der*des Patient*in stattfinden, durchaus Folter bedeuten können (A/HRC/43/49, 37.).

Zusätzlich zu den oben genannten Berichten, hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen am 20. März 2020 die Resolution A/HRC/43/L.19 angenommen. In dieser wird anerkannt, dass Menschen mit anderen Lernmöglichkeiten und Menschen mit psychosozialen Behinderungen mehreren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Dazu gehört, dass bei Zwangsbehandlungen ihre Rechte, ihr Willen und ihre Freiheiten nicht respektiert werden. Alle Staaten werden aufgefordert, Praktiken aufzugeben, die die Autonomie, den Willen und die Vorlieben der Menschen einschränken.

Konflikt des europäischen und globalen Rechts

Es ist offenkundig, dass das Zusatzprotokoll zur Oviedo-Konvention gegen die Rechte von in Europa lebenden behinderten Menschen verstößt und globale Rechtvorschriften, wie die UN-BRK, in Frage stellt. Die Konsequenz der Annahme des Entwurfs eines zusätzlichen Protokolls, würde, anstatt zu helfen, zwei sich widersprechende Grundlagen der Menschenrechtsgesetzgebung schaffen. Ein expliziter Konflikt, zwischen internationalen Normen auf globaler und europäischer Ebene, steht damit aus. Das stiftet Verwirrung und bereits in vielen Ländern eingeleitete Reformen, wären gefährdet.

Der Ausschuss für Bioethik des Europarates, sollte das vorliegende Protokoll zurückziehen und die Mitgliedstaaten auffordern, den Rückzug desselben zu beantragen. Der Europarat sollte die Mitgliedstaaten über alternative Maßnahmen zur Zwangsunterbringung und -behandlung informieren und diese mit entsprechenden Ressourcen unterstützen.

Zivilgesellschaftlicher Widerstand

Gegen diese zweifelhaften Entwicklungen formiert sich europaweit Widerstand. Dennoch werden zivilgesellschaftliche Organsiationen nur unzureichend in diese Prozesse involviert. Dass Organisationen von Menschen mit Behinderungen, gemäß Artikel 4 Abs. 3 der UN-BRK, in diese Prozesse nicht auf sinnvolle und maßgebliche Weise einbezogen werden, ist höchst besorgniserregend.

Mehr Informationen und Handlungsmöglichkeiten sind auf Twitter unter #WithdrawOviedo zu finden. Außerdem veranstaltet Mental Health Europe am 25. März, also nächste Woche, ein Webinar zum Thema (Anmeldung noch möglich). Im Juni dieses Jahres, soll eine finaler Entwurf des Protokolls zur Abstimmung stehen. Autism Europe stellt einige Strategien vor, wie sich dass Protokoll durch zivilgesellschaftliches Engagement möglicherweise verhindern lässt.