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Existenzsichernder Arbeitslohn in Werkstätten nötig

Porträt: Ulrich Scheibner
Ulrich Scheibner
Foto: Gabriele Scheibner

Winsen a.d. Aller (kobinet) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat vor kurzem den ersten Zwischenbericht einer Studie über das Entgeltsystem in den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) vorgelegt. Darin wird für das Jahr 2019 ein durchschnittliches monatliches Entgelt von 220,28 Euro angegeben. Darüber sprach kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul mit Ulrich F. Scheibner von der virtuellen Denkwerkstatt. Im folgenden Interview befragt er den früheren Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) zu seinen Eindrücken über die ersten Forschungsergebnisse.

kobinet-nachrichten: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hatte auf Beschluss des 19. Bundestages zwei Forschungsinstitute beauftragt, eine Studie über die Werkstatt-Löhne im Arbeitsbereich zu erstellen. Dafür hatte es den beiden Instituten vier Jahre Zeit gegeben. Kommt Ihnen dieser BMAS-Auftrag gelegen?

Ulrich Scheibner: Mit etlichen meiner früheren Kolleginnen und Kollegen in „Werkstatt“-Leitungen frage ich mich, warum sich der Bundestag und das Bundesarbeitsministerium nochmals eine volle Wahlperiode Zeit lassen, um über etwas ganz Selbstverständliches so lange zu forschen: über die Notwendigkeit und Berechtigung eines existenzsichernden Arbeitslohnes in den „Werkstätten“. Man stelle sich vor: Der erste gewählte Vorsitzende der BAG WfbM, Wilfried Windmöller (83), hatte 1984 – also schon vor fast vierzig Jahren – der Bundesregierung folgendes vorgehalten:

„Lange bekannte Schwierigkeiten und Ungereimtheiten lassen sich offenbar doch nicht so leicht zum Guten hin verändern. Die rechtliche Stellung behinderter Menschen im Arbeitsleben der Werkstatt […] und die der Arbeitsleistung unangemessene geringe Entlohnung können hier beispielhaft genannt werden.“

kobinet-nachrichten: Mittlerweile wurden aber doch die ersten Zwischenergebnisse einer Studie zum Entgeltsystem in Werkstätten für behinderte Menschen veröffentlicht. Sind dabei für Sie überraschende Erkenntnisse zu Tage getreten?

Ulrich Scheibner: Überraschend ist, dass die beiden Forschungsinstitute für 2019 einen höheren „Werkstatt“-Lohn ausgerechnet haben als das Bundesarbeitsministerium. Die Wissenschaftler˽innen kommen auf 178 Euro „Werkstatt“-Lohn (Grundbetrag plus Steigerungsbetrag). Beim Ministerium findet man – je nachdem, wie man rechnet – nur 164 oder sogar nur 155 Euro „Werkstatt“-Lohn. Bei 165 durchschnittlichen Arbeitsstunden im Monat sind das bestenfalls 1,08 Euro Stundenlohn oder sogar nur 94 Cent pro Arbeitsstunde.

kobinet-nachrichten: Das ist doch nicht überraschend. Man weiß doch längst, dass die Werkstätten-Szene ein Niedrigstlohn-Sektor sind.

Ulrich Scheibner: Die eine Überraschung liegt darin, dass die Lohnsituation in den „Werkstätten“ noch weit schlimmer ist, als es die Politik bislang wahrnehmen wollte. Die andere Überraschung ist, dass das BMAS durch den besagten Forschungsbericht auf einen ganz zentralen Umstand hingewiesen wurde: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat den Beschäftigten in „Werkstätten“ und ähnlichen Einrichtungen schon 2015 bestätigt, dass sie Arbeitnehmer˽innen sind. Das EuGH-Urteil (Rechtssache C‑316/13) ist hier im Internet zu finden. Seitdem ist die Frage höchstrichterlich beantwortet, ob „Werkstatt“-Beschäftigte Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben: Ja, als Arbeitnehmer˽innen haben sie diesen Anspruch!

kobinet-nachrichten: 220,28 Euro durchschnittliches monatliches Entgelt für Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen, was fällt Ihnen dazu ein, bzw. welche Gedanken haben Sie dazu?

Ulrich Scheibner: Diese Zahl ist irreführend, wenn man den Zusammenhang nicht kennt. Im Zwischenbericht des BMAS soll sie das bundesweit durchschnittliche Arbeitsentgelt der „Werkstatt“-Beschäftigten im Jahr 2019 darstellen. In Wirklichkeit betrug der „Werkstatt“-Lohn 2019 aber nur 178 Euro, wie es im Bericht heißt (s. S. 12) und war niedriger als im Vorjahr. Auf rund 220 Euro kommt man nur, wenn man das staatliche Arbeitsförderungsgeld hinzurechnet. Das aber ist kein Lohn für die Arbeitstätigkeit.

kobinet-nachrichten: Was ist das Arbeitsförderungsgeld denn dann? Immerhin zahlt der Staat damit monatlich 52 Euro an jede im Arbeitsbereich beschäftigte Person.

Ulrich Scheibner: Das stimmt nicht. Denn erstens bekommt die 52 Euro nur, wer nicht mehr als 299 Euro „Werkstatt“-Lohn aus dem sog. Arbeitsergebnis der „Werkstatt“ erhält. Diese Bestimmung kann man im § 59 SGB IX nachlesen. Und zweitens ist das Arbeitsförderungsgeld kein Arbeitslohn. Es ist eine Ausgleichszahlung des staatlichen Kostenträgers an die „Werkstätten“-Träger. 2001 wurde es mit dem damals neuen SGB IX eingeführt. Denn die staatlichen Kostensätze waren zuvor pauschaliert worden und längst nicht mehr kostendeckend. Die „Werkstätten“-Träger mussten also das erarbeitete Wirtschaftsergebnis zur Deckung ihrer „Werkstatt“-Kosten verwenden. Da blieb für die Beschäftigten kaum noch Geld für deren „Werkstatt“-Löhne übrig. Hier griff der Staat nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Kostenträgern ein. Er kreierte das Arbeitsförderungsgeld und regelte es im damaligen § 43 SGB IX (siehe BT-Drs. 14/5786 und BGBl. 2001 Teil I Nr. 27, S. 1060).

kobinet-nachrichten: Das kommt doch den behinderten Menschen zugute. Was ist da schlecht dran?

Ulrich Scheibner: Der Staat bezahlt die Geschäftsführungen, Leitungen und Angestellten der „Werkstätten“ mindestens nach Tarif. Die Höhe einiger Geschäftsführungsgehälter kann man im Bundesanzeiger in den Jahresabschlüssen der „Werkstätten“-Träger nachlesen. Es ist schon ein kleiner Unterschied, ob der Staat dem Geschäftsführer monatlich 10.000 Euro zahlt und dem behinderten Menschen nur 52 Euro. Dieses Missverhältnis ist ethisch, sozial und politisch nicht zu verantworten. Um das zu erkennen, ist übrigens kein Forschungsprojekt notwendig, sondern ein humanistisches Menschenbild.

kobinet-nachrichten: Die Forderung nach einem Mindestlohn in Werkstätten wird immer lauter, und die Werkstatträte fordern ein Basisgeld. Haben sich hierzu für Sie aus dem ersten Zwischenbericht entsprechende Erkenntnisse ergeben?

Ulrich Scheibner: Der Zwischenbericht stellt die verschiedenen Lösungsvorschläge sachlich und verständlich dar. Doch etliche „Werkstatt“-Beschäftigte, wie zum Beispiel der Aktivist André Thiel, sind eindeutiger. Sie verlangen die Anerkennung ihres Arbeitnehmerstatus. Damit ist zugleich das Recht auf den gesetzlichen Mindestlohn verbunden. Und ihr sozialer Status verändert sich dadurch auch: Sie werden gleichberechtigte Arbeitnehmer˽innen. Hier liegt der wesentliche politische Fortschritt: Gleichberechtigung ist eine Stufe auf der langen Treppe zur Inklusion. Es geht diesen beeinträchtigten Menschen also nicht nur um das Geld, sondern um ihre Anerkennung als gleichwürdig und „gleichwertig“. Übrigens ist es ziemlicher Unsinn, wenn Inklusionsgegner proklamieren, mit der Gleichberechtigung wäre auch eine Gleichverpflichtung verbunden. Menschenrechte anerkennen die Würde, Freiheit und Gleichberechtigung eines jeden Menschen und sind nicht an die Erfüllung vorgegebener Pflichten gebunden.

kobinet-nachrichten: Woran krankt Ihrer Meinung nach das derzeitige System der Werkstätten für behinderte Menschen am meisten?

Ulrich Scheibner: In dieser Sonderwelt gelten die Menschenrechte nicht. Das „Gesetz zum UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ von 2008 macht diesen Sachverhalt deutlich. Das Sondersystem der „Werkstätten“ ist auf Sonderbedingungen aufgebaut: Sonderstatus, Sonderverträge, Sonderlöhne, Sondermitwirkung und ‑mitbestimmung. Und das Wort „sonder“ steht hier immer für: keine oder weniger: zum Beispiel keine echte differenzierte, personbezogene Ausbildung, keine qualifizierte Erwachsenenbildung, keine individuelle Fort- und Weiterbildung, keine tatsächlichen Karrieremöglichkeiten, keine wirklichen personenbezogenen Übergangsmöglichkeiten ins allgemeine Erwerbsleben. „Werkstätten“ sind nach Rechtslage keine Rehabilitationseinrichtungen (s. §§ 51/52 SGB IX) und deshalb nach staatlicher Konzeption grundsätzlich keine Übergangseinrichtungen. Das sind sie nur im Einzelfall.

kobinet-nachrichten: Sehen Sie relativ schnell umzusetzende Alternativen?

Ulrich Scheibner: Sehr kurzfristig ist der Rechtsstatus im „Werkstätten“-System veränderbar. Alle dort Beschäftigten müssen den Arbeitnehmerstatus erhalten, den ihnen § 221 Abs. 1 SGB IX längst zugesteht und das EuGH zugesprochen hat. Das ist aufgrund der Rechtslage zumindest für den Arbeitsbereich sofort zu realisieren. Das bedeutet: Für den Arbeitsbereich müssen die „Werkstätten“-Träger differenzierte, personbezogene Arbeitsverträge anbieten, ihre Leistungen präzisieren und mit staatlicher Mitfinanzierung wenigstens den gesetzlichen Mindestlohn auszahlen. Die SPD-Arbeitsgruppe „Selbst·Aktiv“ der Menschen mit Beeinträchtigungen forderte schon 2019 die Zahlung von Tariflöhnen. Diese Diskussion hat im „Werkstätten“-System noch gar nicht zielgerichtet begonnen.

Im zweiten Schritt müssen rasch alle benachteiligenden Sonderbestimmungen verändert werden: Es muss eine sechsmonatige Probezeit gesichert werden statt einem dreimonatigen „Eingangsverfahren“. Es ist eine mindestens dreijährige individualisierte Berufsausbildung notwendig, statt einer zweijährigen Sonderform des Arbeitstrainings. Und schließlich müssen die Arbeitsverträge befristet werden. Sie müssen die Verpflichtung des „Werkstätten“-Trägers enthalten, qualifizierte und strikt personbezogene Leistungen zu erbringen, die den Übergang ins wirkliche Leben ermöglichen, also auch ins Erwerbsleben.

Was auf Seiten der Politik und der Erwerbswirtschaft zu tun ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber auch dafür liegen seit fast zwanzig Jahren die Forderungen auf dem Tisch.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Lesermeinungen

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Uwe Heineker
03.11.2021 12:51

Hier werden eindrucksvoll undurchschaubare Hintergründe und Schattenseiten von Werkstätten aufgezeigt.

Diese wurden bereits am 13.121981 (!!!). auf dem Dortmunder Krüppeltribunal (als Protestveranstaltung gegen das „Internationale Jahr der Behinderten 1981“) bezüglich folgender Akteure zur Anklage gebracht:

„Die Unternehmer: Der Bereicherung unter dem Deckmäntelchen der Wohltätigkeit
Den Gesetzgeber: Der Mißachtung des Rechts auf menschenwürdige Entlohnung
Die Justiz: Der Verweigerung der Arbeitnehmerrechte für die Werkstattarbeiter
Die etablierten Behindertenverbände: Der Entmündigung der Behinderten
Die Werkstattträger: Der Verschleierung der Verhältnisse nach innen und außen
Die Kostenträger: Der Benutzung des Paragraphen-Dschungels zum Nachteil der Krüppel
Die Arbeitsverwaltung: Der geplanten Untätigkeit
Achtung: Die Angeklagten arbeiten Hand in Hand! Mehrfachtäterschaft ist an der Tagesordnung!“

Die genannten Aussagen des seinerzeitigen Tribunals sind also leider noch erschreckend aktuell.

Außerdem haben Werkstattbeschäftigte 1988 auf ihrem 1. Alternativen Werkstättentag erstmals die schon seinerzeit richtungsweisende Forderung nach der Umwandlung von Werkstätten in Integrationsbetriebe erhoben, die mit der „Deutzer Erklärung“ https://t1p.de/wfbm 2006 unter der 10-jährigen Fristsetzung nochmals bekräftigt wurde – allerdings von der Politik bis heutzutage völlig ignoriert!