Berlin (kobinet) Marie Lampe studiert deutsche Philologie mit dem Nebenfach Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der freien Universität Berlin und engagiert sich bei den Sozialheld*innen. Vor kurzem wurde der knapp halbstündige Film "Außer sehen kann ich alles" im mdr-Magazin Selbstbestimmt über den bisherigen Lebensweg der 22jährigen blinden Studentin ausgestrahlt. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte nun mit Marie Lampe ein Interview über ihre Erfahrungen und Ziele, indem sie u.a. betont, dass sie froh ist, zuerst einmal inklusiv in ihrer Nachbarschaft aufgewachsen zu sein.
kobinet-nachrichten: Vor kurzem wurde der fast halbstündige Film „Außer sehen kann ich alles“ im mdr-Magazin Selbstbestimmt über Sie und Ihre Aktivitäten gesendet. Wie aufwändig waren die Dreharbeiten für Sie und hat das Ihnen Spaß gemacht?
Marie Lampe: Spaß gemacht hat es mir auf jeden Fall, ich stehe einfach gerne vor der Kamera. Die Dreharbeiten waren schon recht aufwändig, für das Filmteam wahrscheinlich mehr als für mich, weil die aktuellen Szenen ja auch zum Archivmaterial passen sollten. Wir hatten vier Drehtage, der erste fiel auf den Umzug, was ja auch ohne Kamera immer mit Stress verbunden ist. Und auch der Dreh im Büro und auf dem Arbeitsweg war eine kleine Herausforderung, weil ich vorher viel im Homeoffice gearbeitet habe und noch keine wirkliche Routine hatte. Ich bin aber sehr zufrieden mit dem Ergebnis.
kobinet-nachrichten: Im Film werden auch Szenen und Aussagen aus Ihrer Kindheit und Jugend gezeigt. Wie war es für Sie, anfangs inklusiv in der Nachbarschaft und Schule aufzuwachsen und zu lernen? Was war dabei für Sie besonders wichtig?
Marie Lampe: Das war eine extrem wichtige Erfahrung für mich und ich bin froh, so aufgewachsen zu sein. Hätten meine Eltern sich gegen den inklusiven Weg entschieden, wäre ich jeden Morgen mit einem Fahrdienst eine Stunde zur Blindenschule nach Bielefeld und nachmittags wieder zurück gefahren worden. Das blieb mir zum Glück erspart. Stattdessen ging ich mit den Nachbarskindern zur Schule und Nachmittags haben wir uns zum spielen getroffen, so wie mein älterer Bruder auch. Während meine Mitschüler*innen die Schwarzschrift lesen lernten, lernte ich eben die Brailleschrift. Einmal pro Woche kam ein Lehrer aus Bielefeld für zwei Stunden, dann haben wir spezielle Techniken geübt, wie beispielsweise das Zeichnen auf einem taktilen Zeichenbrett. Ich hatte eigentlich nie Probleme, beim Lerntempo mitzuhalten.
Nach dem Wechsel aufs Gymnasium gab es dann leider immer mehr Probleme mit Mitschüler*innen, die vor allem mit den Nachteilsausgleichen zu tun hatten, die mir zustanden. So bekam ich bei Klausuren 50 % mehr Zeit, weil es einfach länger dauert, einen Text in Braille zu lesen. Manchmal durfte ich auch in einem extra Raum schreiben. Und als im Sportunterricht Hockey gespielt wurde, durfte ich mit einer anderen Klasse schwimmen fahren. Mir wurde dann vorgeworfen, ich würde ständig Extrawürste bekommen und meine Blindheit ausnutzen. Ich wusste damit nicht umzugehen und bin schließlich zur neunten Klasse auf eine Blindenschule mit angeschlossenem Internat gewechselt, auch deshalb, weil diese in einer Stadt lag und die Infrastruktur für mich dort besser war als in meinem Heimatdorf. Dort habe ich aber auch nicht so gute Erfahrungen gemacht. Als ziemlich eigenwillige Jugendliche habe ich da einfach nicht reingepasst. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass inklusive Bildung immer der bevorzugte Weg und irgendwann alternativlos sein sollte.
kobinet-nachrichten: Mittlerweile sind Sie mit ihrem Partner in eine eigene Wohnung gezogen und haben mit dem Studium begonnen. Was und wo studieren Sie und wie ist das Studium in Zeiten der Corona-Pandemie für Sie angelaufen?
Marie Lampe: Ich studiere deutsche Philologie mit dem Nebenfach Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der freien Universität Berlin. Ich habe ja schonmal ein Studium angefangen und kenne die Abläufe schon, trotzdem ist es immer wieder aufregend, wie sich Gruppen zusammenfinden und man versucht, einen passenden Stundenplan zu erstellen. Bisher fühle ich mich sehr wohl. Die Vorlesungen und einige Seminare finden online statt und ich habe die leise Hoffnung, dass es auch in den nächsten Semestern Lösungen für Studierende geben wird, die nicht ständig auf dem Campus anwesend sein können/möchten. Ein komplettes Fernstudium wäre trotzdem keine Alternative für mich.
kobinet-nachrichten: Digitale Teilhabe spielt für Sie als blinde Frau also eine besondere Rolle. Was gibt es da aus Ihrer Sicht noch zu tun, dass diese für Sie gleichberechtigt erfolgen kann?
Marie Lampe: Als blinde Nutzerin ist für mich natürlich die Barrierefreiheit von Webseiten und Programmen besonders wichtig. Diese sollte von vorn herein mitgedacht werden. Ich bin gern bereit, Feedback zu geben, möchte aber nicht immer allem hinterherlaufen müssen. Zur Barrierefreiheit gehören auch Alternativtexte beziehungsweise Bildbeschreibungen, vor allem auf Social Media. Hier sind wir zum Glück weiter als vor drei, vier Jahren, aber jedes geteilte Meme ohne Beschreibung ist halt doch ein Stück weniger Teilhabe. Gerade frustriert mich vor allem das Campus Management System meiner Uni, also das Tool, mit dem wir Veranstaltungen und Prüfungen anmelden. Das ist zwar irgendwie nutzbar, aber nicht mit allen Screenreadern und weit weg von barrierefrei, und ich bin bestimmt nicht die erste blinde Studentin hier. Ich bin aber froh, dass es immer mehr digitale Lösungen gibt und sehe darin eine Menge Chancen.
kobinet-nachrichten: Welche Pläne oder Wünsche haben Sie für Ihre Zukunft? Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Marie Lampe: Gute Frage. Ich bin recht sprunghaft, was meine Zukunftspläne betrifft, was Vor- und Nachteile hat. Wie vermutlich viele Menschen würde ich gern von dem leben, was mir Spaß macht, das sind für mich das Schreiben, Sprachen und ein bisschen auch noch die Musik. In jedem Fall möchte ich keine Kompromisse eingehen, nur um „irgendwas“ zu machen. Aber ich glaube, dass ich mit meinem Studium gerade auf dem richtigen Weg bin, und auch die Arbeit bei den Sozialheld*innen macht mir so großen Spaß, dass ich mich dort auch in zehn Jahren noch sehe. Ob ich dann noch in Berlin, in Norddeutschland oder vielleicht sogar im Ausland lebe weiß ich nicht, es bleibt also immer spannend bei mir.
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg auf Ihrem weiteren Lebensweg.