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Für ein gemeinschaftliches und achtsames Miteinander im Sinne der Menschenrechte

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Berlin (kobinet) Beim letzten Jahresempfang in dieser Legislaturperiode des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen betonte Jürgen Dusel die Wichtigkeit des gemeinschaftlichen und achtsamen Miteinanders von allen Menschen und zog zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Sprecher*innen des Deutschen Behindertenrates eine Bilanz über Erreichtes und das, was es behindertenpolitisch noch zu tun gibt. Jessica Schröder von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat die Online-Veranstaltung am 17. August verfolgt und berichtet für die kobinet-nachrichten darüber.

Bericht von Jessica Schröder

Der letzte Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Jürgen Dusel, fand zugunsten des Infektionsschutzes digital statt. In seiner Begrüßungsrede betonte Jürgen Dusel die Wichtigkeit des gemeinschaftlichen und achtsamen Miteinanders von allen Menschen, das durch Umsicht und Vernunft geprägt sein sollte, um die Herausforderungen der Corona-Pandemie zu meistern. Die Vernunft und der Solidaritätsgedanke hatten Jürgen Dusel letztlich auch dazu bewogen, den Jahresempfang digital auszurichten und seine Teilnahme an den Paralympics in Japan abzusagen.

Dusels letzter Jahresempfang im Schlusssprint dieser Legislatur der Bundesregierung bildete einen Rückblick und eine Zäsur auf das Handeln und Wirken der Bundesregierung, um die gesellschaftliche Teilhabe von behinderten Menschen zu stärken und die in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Menschenrechte in fortschrittlichen Gesetzen zu zementieren. Inwieweit der Bundesregierung dies gelungen ist, diskutierte Jürgen Dusel mit den Sprecher*innen des Deutschen Behindertenrates. Diese sind:

– Hannelore Loskill von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihrer Angehörigen (BAG SELBSTHILFE), die derzeit Vorsitzende des Sprecherrats ist,

– Adolf Bauer vom Sozialverband Deutschland (SOVD), der aus privaten Gründen seine Teilnahme leider absagen musste,

– Verena Bentele vom Sozialverband VdK Deutschland,

– Horst Frehe von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL).

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hielt anlässlich des Jahresempfangs eine bemerkenswerte Rede, die selbstkritisch die Erfolge und Fehler der aktuellen Regierungskoalition beleuchtete. Musikalische und pantomimische Unterhaltung boten die blinde Sängerin und Songschreiber*in CassMae, der gehörlose Pantomime- Akrobatik- und Fechtkünstler JOMI und der mexikanische Gitarrist und Komponist Hector Zamora.

In seinem persönlichen Rückblick auf diese Legislaturperiode skizzierte Dusel einige wichtige gesetzliche Meilensteine. Sein Herzensanliegen, eine Regelung zur Finanzierung von Assistenz im Krankenhaus, konnte auf den letzten Metern dieser Legislatur in einem Kompromiss zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesministerium für Gesundheit verwirklicht werden, der die Finanzierung der Begleitung von Angehörigen oder Assistenzkräften zwischen den Kostenträgern der Eingliederungshilfe und Krankenkassen aufteilt. Dieser Kompromiss wurde besonders durch das aktive Engagement der Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgehandelt und in einem Gesetz festgeschrieben, das am 17.09.2021 im Bundesrat final diskutiert und mit großer Wahrscheinlichkeit beschlossen wird. Kanzlerin Merkel bedankte sich in Ihrer Rede bei allen Mitwirkenden und für die Sensibilisierung für das Thema durch Jürgen Dusel und bekräftigte, dass dieses „Buch nun auch geschlossen werden könne“. Bei allem Optimismus und einem ersten guten Fortschritt in dieser so lange klaffenden und für behinderte Menschen unzumutbaren Regelungslücke, kritisieren einige Selbstvertretungsorganisationen zu Recht, dass durch die neu geschaffene Regelung längst nicht alle Assistenzbedarfe behinderter Menschen abgedeckt werden und das Gesetz dringend einer gezielten Überwachung und Evaluation bedarf, um zukunftsnah gesetzliche Verbesserungen anzustoßen, die für alle Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Assistenz im Krankenhaus ermöglichen.

Die Verdopplung der Behindertenpauschbeträge im Einkommenssteuerrecht feiert Jürgen Dusel als einen wichtigen Erfolg, der aufzeigt, dass Inklusion nicht nur ein Schönwetter-Konzept ist, dass nur in sorgenfreien Zeiten angegangen wird. Entgegen vieler pessimistischer Stimmen von Behindertenorganisationen, die befürchten, dass die Umsetzung der Menschenrechte der UN-Behindertenrechtskonvention in der Corona-Pandemie völlig ins Stocken geraten sei, bekräftigt Jürgen Dusel das Gegenteil. Gerade diese Krisensituation habe aufgezeigt, wie wichtig ambitionierte Gesetze, gemeinsamer Austausch und Ministerienübergreifendes Handeln sind. Neu beschlossene Gesetze wie das Teilhabestärkungsgesetz, das Angehörigenentlastungsgesetz und das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verdeutlichten, dass die UN-Behindertenrechtskonvention kontinuierlich die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen formt und positiv gestaltet. Dringenden Handlungsbedarf sieht Jürgen Dusel in der Schaffung von barrierefreiem Wohnraum. Sozialer Wohnungsbau ist nur dann sozial, wenn er barrierefrei gebaut und zu bezahlbaren Mietkosten angeboten wird. Barrierefreier Wohnraum schafft Räume für soziales und selbstbestimmtes Miteinander, ist zugleich Gewaltschutz und Gewaltprävention, stärkt die Freiheitsrechte behinderter Menschen und stellt eine wichtige Alternative zu ambulanten und stationären Wohnformen dar, betonte der Bundesbehindertenbeauftragte.

Durch zahlreiche digitale Veranstaltungen hat Jürgen Dusel unterschiedlichste Akteur*innen auf nationaler und internationaler Ebene zu Themen der Barrierefreiheit, Kultur und Digitalisierung zusammengebracht und mit diesen Angeboten aufgezeigt, dass auch auf EU-Ebene die Schaffung eines*r Beauftragten für die Belange behinderter Europäer*innen notwendig ist, um unsere Stimme und Bedürfnisse innerhalb der EU hörbar und durchsetzbar werden zu lassen.

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel erinnerte in Ihrer Ansprache an die Flutkatastrophe und ihre Opfer. Die 12 Bewohner*innen der Behinderteeneinrichtung in Sinzig, die durch das Hochwasser ums Leben gekommen sind, haben die Kanzlerin tief erschüttert und auf tragische Weise verdeutlicht, wie wichtig effektive Frühwarnsysteme und angemessene Präventionsmaßnahmen sind. In ihrer Rede bekräftigte Merkel die gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen als das Grundverständnis gelebter Demokratie. Gelungene Inklusion sei jedoch kein Selbstläufer, sondern erfordert Lern- und Praxiserfahrung, die auch finanziell getragen werden muss, aber laut Merkel am stärksten durch die gesellschaftliche Offenheit, Aufmerksamkeit und den Abbau von Barrieren in den Köpfen, geprägt wird. Wesentlich zu einem Bewusstseinswandel habe die Erarbeitung und weltweiten Ratifizierungen der UN-Behindertenrechtskonvention beigetragen, die grundlegende Menschenrechte auf Leben und Erholung etc. behinderten Menschen ausdrücklich zuerkennt und Behinderung nicht als Defizit einer Person begreift, sondern ein Lebensumfeld mit Barrieren Menschen erst behindert werden lässt.

Als besonders gravierend empfindet Angela Merkel die Arbeitsmarktsituation behinderter Menschen. Gute Maßnahmen, wie das Budget für Arbeit, die Finanzierung von technischen Arbeitshilfen und Assistenz haben bisher leider nicht die gewünschten Erfolge gebracht. Merkel gesteht ein, dass die Beantragung von Unterstützungsleistungen grundsätzlich unbürokratischer ablaufen könnte, dass es oft jedoch an einem Grunndverständnis der Arbeitgeber*innen mangelt, die Potenziale, Fähigkeiten und Talente behinderter Arbeitnehmer*innen zu erkennen. Merkel mahnte an, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement weiter gestärkt werden müsse, um Arbeitsplätze zu erhalten und das Werkstätten für behinderte Menschen weiterhin ihre Daseinsberechtigung haben müssen, aber mit dem Fokus auf eine wertschätzende Entlohnung ihrer Beschäftigten und die Aufhebung der Deckelung des Arbeitsförderungsgeldes ermöglicht werden müsse.

Die Corona Pandemie hat auch die Versäumnisse der Bundesregierung im Bereich barrierefreier Informationsvermittlung verdeutlicht. Durch die wiederholten Appelle der deutschen Gehörlosenverbände sind nun auch die Pressekonferenzen und Videopodcasts der Kanzlerin endlich untertitelt. Auch hier dankt die Kanzlerin für die Sensibilisierung. Merkel bezeichnet Inklusion als einen fortwährenden Prozess, der Aufmerksamkeit, guten Willen und Offenheit aller Beteiligten erfordert. Sie dankte Jürgen Dusel für seine konstruktive und gute Arbeit und versprach Evaluationen und Nachbesserungen an zukünftigen und bestehenden Gesetzen, um Inklusion progressiv umzusetzen.

In der anschließenden Diskussionsrunde mit den Sprecher*innen des Deutschen Behindertenrates, die wie die gesamte Veranstaltung von Ninia La Grande moderiert wurde, wurden bekannte Probleme noch einmal aufgezeigt und Forderungen an die zukünftige Bundesregierung vehement seitens der Sprecherratsmitglieder vertreten. Hannelore Loskill ist der Diskriminierungsschutz ein besonderes Anliegen und eine Weiterentwicklung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, das das Fehlen von Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen klar als Diskriminierung festschreibt, sei dringend notwendig. Horst Frehe ergänzte, dass auch private Anbieter*innen von Waren und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen verpflichtet werden müssen. Zugang zu Mobilität, zum Fernverkehr der Eisenbahn und zu Gesundheitsdiensten müsse endlich konsequent barrierefrei werden und Diskriminierungen in diesem Bereich entsprechend rechtlich geahndet werden. Die Deutsche Bahn dürfe keine Fernverkehrszüge, die nur über Stufen erreicht werden können, mehr einkaufen, mit dem Wissen, dass spanische Modelle mit stufenlosen Einstiegen existieren. Der Bestandschutz für ältere Gebäude müsse endlich aufgehoben werden, damit beispielsweise Arztpraxen, die in diesen Gebäuden angesiedelt sind, endlich barrierefrei werden. Horst Frehe betonte zudem, dass besonders das Bundesgesundheitsministerium noch von antiquierten Rollenbildern geleitet wird, die davon ausgehen, dass behinderte Menschen nur im Heim und Institutionen leben und eine selbstbestimmte Lebensführung undenkbar ist. Bewusstseinsbildung, Interaktion mit behinderten Menschen und bessere Vernetzung zwischen den Ministerien seien hier dringend notwendig. Auch müssten die Gesetzesvorschläge von Behindertenorganisationen unbedingt ernst genommen werden und Länder wie Österreich, in denen eine Verpflichtung privater Anbieter*innen zu angemessenen Vorkehrungen schon lange Realität ist, müssten endlich als Vorbild für nationale Gesetzgebung dienen.

Verena Bentele betonte, dass in dieser Legislaturperiode die wichtige Chance verpasst wurde, die Ausgleichsabgabe für Unternehmen, die keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, zu verdoppeln. Bewusstseinsbildung und Ansprechstellen für Arbeitgeber*innen gäbe es genug und auch angedachte und diskutierte Belohnungssysteme für Arbeitgeber*innen, wenn sie einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, seien unangemessen und wenig zielführend. Andere europäische Staaten, die mit solchen Systemen arbeiten, haben eine extrem niedrige Beschäftigungsquote behinderter Menschen, ergänzte Horst Frehe nachdrücklich. Bentele verwies darauf, dass insbesondere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen am häufigsten Erwerbsminderungsrente erhalten und ihnen der Zugang auf den ersten Arbeitsmarkt extrem erschwert wird. Bessere Reha Angebote, Qualifikation und erleichterte Antragsverfahren von notwendigen Unterstützungsleistungen müssen Ihrer Meinung nach endlich umgesetzt werden.

Jürgen Dusel untermauerte die Aussagen von Verena Bentele mit dem inakzeptablen Umstand, dass Betriebe die Zahlungen der Ausgleichsabgabe steuerlich absetzen können und sie dadurch überhaupt keinen Schaden haben. Sanktionsmaßnahmen müssten stärker greifen, so dass endlich der Eindruck des Freikaufens entkräftet wird. Er zitierte Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil: „Null-Toleranz für Null-Beschäftiger!“

In seinem Abschlusstatement betonte Jürgen Dusel, dass wir auf einem guten Weg sind, auf dem es normal ist verschieden zu sein, es jedoch noch sehr viel zu tun gibt, damit dieser Weg von allen Menschen uneingeschränkt und gleichberechtigt beschritten werden kann.

Der Livestream vom Jahresempfang wird noch eine Weile auf der Internetseite www.jahresempfang-behindertenbeauftragter.de verfügbar sein.

Link zum Redetext von Bundeskanzlerin Angela Merkel

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Uwe Heineker
27.08.2021 00:12

Dieser Kommentar sagt alles aus: https://de.nachrichten.yahoo.com/kommentar-merkel-startet-eine-revolte-und-keiner-hoert-hin-101627581.html?mc_cid=2647c0be87&mc_eid=d7af9cdb73&guccounter=1 Für mich ist es erschreckend, dass die an sich revolutionäre Äußerungen von Frau Merkel so gut wie kein mediales Interesse fand