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Berlin (kobinet) Gestern am 20. Mai um 22:45 Uhr wurde das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) von der großen Koalition der Bundesregierung verabschiedet. Ein Gesetz, das es wieder einmal versäumt hat, eine Verpflichtung zur Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft umfassend zu regeln. In den Verhandlungen der Bundestagsausschüsse wurden nur minimale Veränderungen durchgesetzt, die weit hinter den Hoffnungen und Erwartungen behinderter Menschen und Ihrer Organisationen zurückbleiben. Darauf hat die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) mittels einer Presseinformation hingewiesen.
„Es ist zutiefst frustrierend, dass die Bundesregierung das für behinderte Menschen wichtigste und lebensnotwendigste Thema einer umfassenden Barrierefreiheit, die zwingend die barrierefreie Gestaltung der baulichen Umwelt vorschreibt, weiterhin ignoriert und lieber darauf setzt, dass die nächste Bundesregierung lediglich finanzielle Förderanreize schaffen soll. Diese Taktik verkennt die Lebensrealität behinderter Menschen, fördert Exklusion, Diskriminierung und Abhängigkeit und widerspricht jeglichem Menschenrecht der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat“, empört sich Alexander Ahrens, Geschäftsführer der ISL.
Begrüßenswert ist nach Ansicht der ISL, dass das Gesetz die Rechtsdurchsetzung fördert, in dem es beispielsweise die Möglichkeit eines Verbandsklagerechts und die Zuweisung einer Schlichtungsstelle vorsieht, so dass Organisationen behinderter Menschen diese in Klageverfahren aktiv unterstützen können und durch eine vorgeschaltete Schlichtung Rechtsstreitigkeiten auch außergerichtlich geklärt werden können. Leider steckt kaum mehr drinnen, als die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie des European Accessibility Acts (EAA). Alles Weitere, das nur als Empfehlung in einem Entschließungsantrag niedergeschrieben ist, sind bloße Lippenbekenntnisse halbherziger Aufträge an zukünftige Bundes- und Länderregierungen. So sollen die Bundesländer zukünftig beispielsweise behinderte Menschen und ihre Verbände stärker in die Marktüberwachung miteinbeziehen und sie bei der Erarbeitung von Maßnahmen aktiv beteiligen. Auch soll das Thema Barrierefreiheit in Architektur-Studium und -Ausbildung sowie in Ausbildungen von Programmier*innen etc. prominenter werden, aber alles nur verpackt als Spielball, der an die nächsten Bundes- und Länderregierungen weitergedribbelt wird.
„Es ist ernüchternd und so offensichtlich. Behinderte Menschen sind immer noch ein Spielball der Politik. Barrierefreiheit von Privatanbieter*innen wird als ein Aktionsfeld verkannt, welches nicht aktiv und zeitnah angegangen wird. Wir werden weiter vertröstet; umfassende Barrierefreiheit bleibt eher ein Stigma und Wagnis. Also nichts mit Stärkung von Barrierefreiheit. Was bleibt ist nur Stagnation, Enttäuschung und Wut. Aber, wir lassen uns nicht abschütteln“, appelliert Alexander Ahrens zusammenfassend.
Die Chance auf einen wirklichen Wandel hin zu einer barrierefreien und zukunftsfähigen Lebenswelt, die behinderte Menschen nicht mehr ausgrenzt, wurde nach Ansicht der ISL wieder einmal vertan. Diesen bitteren Misserfolg könnten auch keine warmen Worte über die Wichtigkeit von Bewusstseinsbildung kaschieren. Die Zeit des Tröstens müsse endlich vorbei sein. Vor allem brauche es Aktionismus einer Bundesregierung, die sich entschlossen für gleichwertige Lebensverhältnisse behinderter Menschen einsetzt.
„Sozialpsychologischen Untersuchungen zufolge wissen 90% der Bundesbürger nicht, wie sie sich gegenüber Behinderten verhalten sollen – also sind demnach 90% der Bundesregierung verhaltensgestört“ – diesen Satz sprach ich Mitte der 1980er in Essen im Rahmen einer vereinsinternen Talkshow – stilecht neben Alfred Biolek auf einem großen Sofa sitzend – tatsächlich so aus und ist auch heute genau passend zur besagten Gesetzgebung