
Foto: omp
Berlin (kobinet) Heute vor fünf Jahren, am 11. Mai 2016, befand sich die Behindertenbewegung in einer ähnlichen Situation wie heute - mitten im Kampf für ein gutes Barrierefreiheitsrecht. Damals führte die Behindertenbewegung eine 22stündige Ankettaktion in der Bannmeile des Reichstags am Reichstagsufer in Berlin durch. Vor fünf Jahren war es die Reform des Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das im Bundestag zur Entscheidung anstand. Heute ist es das schwache Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 20. Mai zur Abstimmung im Bundestag ansteht. Und heute wie damals geht es darum, inwieweit auch Unternehmen, die öffentliche Produkte und Dienstleistungen anbieten, zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul blickt auf die Aktion vor fünf Jahren am 11. und 12. Mai 2016 zurück.
Bericht von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Für den 12. Mai 2016 stand die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes auf der Tageordnung des Deutschen Bundestages zur zweiten und dritten Lesung und damit zur endgültigen Abstimmung an. Nachdem die Behindertenbewegung schon seit Monaten dafür geworben und gefordert hatte, dass auch Unternehmen, die Dienstleistungen und Produkte anbieten, zur Barrierefreiheit verpflichtet werden, war am 11. Mai klar, dass die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD dieses Ansinnen voraussichtlich ablehnt. Am Morgen des 11. Mai hatten einige Aktive noch einmal versucht, die Mitglieder des zuständigen Ausschusses vor der Sitzung davon zu überzeugen, dass das, was in anderen Ländern wie Österreich, Großbritannien oder in den USA schon längst gesetzlich geregelt ist, auch in Deutschland machbar sein muss. Leider vergeblich. Hinzu kam, dass damals für die Vorschläge für das Bundesteilhabegesetz einige Verschlechterungen vorgesahen, gegen die die Behidnertenverbände massiv protestierten.
Und so erhöhten Aktive aus der Behindertenbewegung den Druck, indem sie sich am Abend des 11. Mai ab 17:00 Uhr am Geländer des Spreeufers in der Nähe des Reichstags anketteten. Da dies der Bereich der Bannmeile um den Reichstag ist, war klar, dass es dabei auch Stress mit der Polizei geben würde. Parallel zur Ankettaktion fand der Jahresempfang der damaligen Bundesbehindertenbeauftragten Verena Bentele statt, wo dann vermeldet wurde, dass behinderte Mesnchen diese Ankettaktion begonnen haben, nachdem der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel seine Rede beendet hatte. Der Aufforderung an die Empfangsgäste, einer Reihe von Aktiven zu folgen, um die Aktion am Reichstagsufer zu unterstützen, waren allerdings nur wenige der Anwesenden beim Empfang gefolgt. Schnittchen und ein lecker Weinchen waren dann doch vielen angenehmer, als am Spreeufer den Abend „bei den Schmuddelkindern“ zu verbringen. Im Laufe des Abends fanden dann aber noch einige den Weg ans Spreeufer und wurden dort freundlich aufgenommen.
Nichts desto trotz versammelten sich in kurzer Zeit über 100 engagierte behinderte Menschen und Verbündete am Reichstagsufer und solidarisierten sich mit denjenigen um Dr. Sigrid Arnade, Raul Krauthausen und mit den anderen, die sich am Geländer der Spree angekettet hatten. Und diese Solidarität war auch nötig, denn es dauerte nicht zu lange, bis die Polizei auftauchte und mitteilte, dass dies nicht gehe und auch nicht angemeldet sei. Nach längeren Verhandlungen ließ die Polizei aber von den Protestierenden ab und zeigte sich im weiteren Verlauf der Aktion bis zum Ende am Nachmittag des 12. Mai gegen 15:00 Uhr äusserst kooperativ und unterstützend.
Mittlerweile hatte sich die Aktion an dem lauen Frühlingsabend zum Happening entwickelt. Mit verschiedenen Redebeiträgen und Aktionen, bestellter Pizza und anderen Leckerein, die Passant*innen bzw. diejenigen, die von der Aktion gehört hatten, vorbei brachten, wurde der Abend und auch später die etwas kühlere Nacht äusserst kurzweilig. Es war eigentlich ständig etwas los und die Aktion machte auf Twitter immer mehr Schlagzeilen. So fanden auch einige Aktive aus der Berliner Szene den Weg ans Spreeufer und solidarisierten sich.
Im Laufe des Abends und dann verstärkt in den frühen Morgenstunden wurden auch die Medien auf die Aktion aufmerksam und sendeten erste Beiträge von der Aktion. Diese Berichte zogen viele weitere Interviews und Rundfunk-, Fernseh- und Zeitungsbeiträge nach sich, so dass die Akteur*innen vor Ort fast non-stop und auf allen Kanälen Interviews gaben. Nach so gut wie keinem Schlaf in der Nacht an der Spree brachte der nächste Morgen noch viel mehr Solidarität und die Verpflegung, die vorbei gebracht wurde, hätte noch viel mehr Menschen ernähren können. Einige Abgeordnete des Bundestages kamen vorbei und stellten sich der Diskussion. Allerdings ohne Erfolg bei der Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD. Am Ende stimmten sie für die Gesetzesvorlage und damit gegen die Verpflichtung von Unternehmen zur Barrierefreiheit ihrer Angebote und Dienstleistungen.
Eine mittlerweile ziemlich müde Truppe harrte bis zur Abstimmung im Bundestag am Reichstagsufer bis nach 15:00 Uhr aus und verfolgte die Debatte und Abstimmung mit zunehmendem Frust über die Argumente und Unbeweglichkeit von CDU/CSU und SPD. Auch wenn damals nicht erreicht wurde, was die Behindertenbewegung angestrebt hat und diese Debatte nun wieder einmal mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz unter ähnlich negativen Vorzeichen vonseiten der Regierenden ansteht, kann der Behindertenbewegung eines nicht genommen werden: Der Stolz und die Beharrlichkeit, die diese damals an den Tag gelegt hat und die die Akteur*innen zusammengeschweißt hat. Und wären wir derzeit nicht in einer Pandemie, in der viele behinderte Menschen besonders gefährdet sind, wenn sie sich infizieren, wäre auch dieses Mal sicherlich einiges um den Deutschen Bundestag los, wenn am 20. Mai voraussichtlich spät Abends über das bisher äußerst unzureichende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz abgestimmt wird. Auch hier mag die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD wieder einmal gegen die Behindertenbewegung siegen, aber mancher Sieg stellt sich später als herbe Niederlage heraus.
Link zum YouTube Video der Kellerkinder zur Aktion vom 11. Mai 2016
Link zum Kommentar in den kobinet-nachrichten vom 13. Mai 2016 über die Aktion