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Uwe Wypior coacht in Sachen Inklusion und Behindertenpolitik

Uwe Wypior
Uwe Wypior
Foto: privat

Berlin/Wallenhorst (kobinet) Uwe Wypior ist nicht nur CASCO-Coach und Inklusionsbotschafter, sondern engagiert sich politisch für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention: In Hochschulen, Gewerkschaften und Verbänden gibt er sein Fachwissen zu Bewusstseinsbildung, politischer Teilhabe und das menschenrechtliche Verständnis von Behinderung weiter. Sein Mottto: "Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen." Maria Trümper vom Projekt "CASCO – Vom Case zum Coach“ der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), das 2020 endete führte mit Uwe Wypior ein Interview über sein Wirken.

In dem vierjährigen Projekt wurden insgesamt 32 Menschen mit Behinderungen zu fachlich qualifizierten Referent*innen für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik ausgebildet. Unter http://www.referenten-mit-behinderung.de/ kann man sie für Veranstaltungen, Seminare und Workshops buchen.

Maria Trümper: Lieber Uwe, vielen Dank, dass du die Zeit für ein Interview hast. Meine erste Frage ist, wie es dir momentan geht und wie du soweit durch die Coronazeit gekommen bist. Hat sich etwas in deinem Alltag verändert?

Uwe Wypior: Ich bin zum Glück coronafrei, habe aber seit Längerem das Haus nur zum Einkaufen sowie zur Versorgung und Pflege meiner Mutter verlassen. Bedingt durch die Kontakteinschränkungen haben sich viele zwischenmenschliche Beziehungen verändert. War es zuerst ruhiger in meinem Leben, was mir auch durchaus gut tat, so ist doch auf Dauer, auch aufgrund meiner Beeinträchtigung, langsam der Corona-Blues eingetreten. Die Nicht-Planbarkeit aller Aktivitäten und beabsichtigter Vorhaben machen es mir sehr schwer.

Maria Trümper: Du hast von November 2017 bis Ende Juli 2018 an der CASCO-Weiterbildung teilgenommen – was hat dir gut an der CASCO-Referent*innen-Ausbildung gefallen?

Uwe Wypior: Der Austausch mit den anderen Teilnehmer*innen. Ich habe viel gelernt über Dinge, die mir sonst eher fremd waren. Zum Beispiel Selbstdarstellung und auch von der Expertise anderer den Horizont zu erweitern. Auch fand ich das Format und die Bildungsstätte gut. Alles an einem Ort zu haben, war schon klasse und erleichtert vieles.

Maria Trümper: Warum wolltest du CASCO-Referent werden?

Uwe Wypior: Ich habe in der Vergangenheit oft die Erfahrung gemacht, dass, obwohl ich seit meiner Kindheit selbst von sogenannten „nichtsichtbaren Behinderungen“ betroffen bin, mein Engagement für Barrierefreiheit und Inklusion nicht oder nur unzureichend anerkannt wurde; zumal ich ja keinen akademischen Abschluss habe. Das ich jetzt nach erfolgreicher Absolvierung ein Zertifikat auch zum Vorzeigen habe, erleichtert mir einiges und öffnet Türen, die vorher geschlossen blieben. Daher war meine Anmeldung zur CASCO-Ausbildung folgerichtig, denn in Deutschland zählen eben leider „Scheine“ zum Vorzeigen mehr als eigene Expertise, die man sich auf der Akademie des Lebens erworben hat.

Maria Trümper: Welche Themen als CASCO-Referent sind deine Steckenpferde und wie bist du zu ihnen gelangt?

Uwe Wypior: Meine Sozialisierung in einer Arbeiterfamilie haben mich seit jeher für die Schaffung und Einhaltung von sozialer Gerechtigkeit geprägt und meine Sinne geschärft. Im Berufsleben wurden die Fragen nach gerechter Bezahlung und Einstellung von Menschen mit Behinderungen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse immer mehr zum Thema. Ich habe als gewerkschaftlich organisierter Personalrat und später in der Schwerbehindertenvertretung in meinem Zuständigkeitsgebiet gemerkt, dass es oft auf das persönliche Engagement ankommt und dass das durchaus Erfolge erzielt. Somit musste ich mich auch permanent mit Gesetzen und Verordnungen in Seminaren weiterbilden. Insofern würde ich sagen, dass die Entstehung und Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention im Sinne einer menschenrechtsbasierten Behindertenpolitik meine Steckenpferde geworden sind. Dabei habe ich gelernt und sehe darin den Artikel 8 (Bewusstseinsbildung) als eine Voraussetzung an.

Maria Trümper: Dein Einsatz als Referent mit Behinderungen ist nicht immer ganz einfach, weil oft die Peer-Perspektive (noch) nicht als Expertise anerkannt oder zumindest in Frage gestellt wird. Was ist dein schlagendes Argument, warum überall dort, wo über Behinderung gesprochen wird, auch behinderte Menschen mitreden müssen nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns!“?

Uwe Wypior: Erst aus der Perspektive der Betroffenen selbst, die erlebt, erfahren und manchmal auch erlitten haben, was es bedeutet, mit Behinderungen zu leben, wird manchem oder mancher klar, dass es bei Inklusion nicht nur um „sozialen Klimbim“ geht, sondern um eine Menschenrechtsfrage. Was erleben wir tagtäglich? Entscheidungen werden von Nichtbetroffenen unter Einhaltung von Spar- und Sachzwängen getroffen, oftmals ohne die Folgen abzusehen. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn kein wirklicher Perspektivwechsel stattgefunden hat. Durch authentisches Argumentieren, Bewusstseinsbildung, der Vorstellung, noch heute selber etwa durch einen Unfall oder Ähnliches betroffen zu sein und selbst auf Barrierefreiheit angewiesen sein zu müssen, kann es gelingen, alte Strukturen in den Institutionen und Barrieren in den Köpfen zum Bröckeln zu bringen. Das könnte der Einstieg werden, die Leitidee „Nichts über uns ohne uns!“ mehr zu verstehen und zu leben. Ich persönlich habe aber auch leider die Erfahrung gemacht, dass der Prophet im eigenen Lande nichts gilt. Deshalb wäre es ja so wichtig, uns als Referent*innen gegenseitig ins Spiel zu bringen.

Maria Trümper: Sozusagen: Man ist trotz seiner oder ihrer Beeinträchtigungen in der Lage, anderen Menschen die Bedeutung von menschenrechtsbasierter Behindertenpolitik und damit von Inklusion verständlicher zu machen…

Uwe Wypior: Die Feedbacks haben gezeigt, dass es nicht trotz, sondern gerade wegen meiner eigenen Betroffenheit authentisch ist und somit möglich.

Maria Trümper: Für welches behindertenpolitische Thema brennst du und warum?

Uwe Wypior: Ich engagiere mich für Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen. D.h. Erkenntnisse gewinnen, verinnerlichen und danach handeln. Viele gesellschaftliche Institutionen und Verbände haben nach meinen Erfahrungen noch sehr großen Nachholbedarf, was Barrierefreiheit und damit Selbstreflexion angeht und das versuche ich zu ändern. Manchmal mit Erfolg. Manchmal bedarf es noch eines Anstupsens (engl. nudging). Wo das nicht ausreicht und der Wille nicht vorhanden ist, auch eines Spiegels.

Maria Trümper: Und wenn du nun gesamtgesellschaftlich denkst: Welche sozialen Themen sollen unbedingt (weiter) debattiert werden und warum? Welche Themen sollten endlich auf den Tisch kommen?

Uwe Wypior: Das Thema „Ableismus“ wäre meiner Meinung nach sehr dafür geeignet – gerade im bevorstehenden Bundestagswahlkampf – eine Rolle zu spielen. Ebenso sehe ich den barrierefreien Wohnungsbau dazu geeignet, auf die Tagesordnung zu kommen. Hier könnte ich mir eine Forderung nach Ergänzung der Neubauvorschriften, ähnlich denen des Brandschutzes, gut vorstellen. Das ginge auch und besonders auf kommunaler Ebene, um Aufmerksamkeit oder Öffentlichkeitswirksamkeit (kein leichtes Wort) in Bezug auf Barrierefreiheit zum Nutzen aller herzustellen. Wir müssen die Geschichte der Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen während der Pandemie konsequent aufarbeiten. Wir müssen aus diesen Erfahrungen konkrete Pläne für Krisen und Notsituationen entwickeln, die einem inklusiven Leben behinderter und älterer Menschen – also allen Menschen – gerecht wird. Wir sollten eine Gedenkkultur für die Corona-Opfer entwickeln. Wir brauchen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wichtige Entscheidungen, wie die Triage und Impfpriorisierung, müssen im Sinne einer Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung in Parlamenten entschieden und nicht Fachgesellschaften oder lediglich der Verwaltung überlassen werden.

Maria Trümper: Wo siehst du den größten Aktionsbedarf im Bereich Behinderung?

Uwe Wypior: Was ist hinter verschlossenen Türen in den Heimen passiert? Wir brauchen auch hierzulande Berichte und Diskussionen in den Parlamenten. Wo wurde die Triage in Krankenhäusern angewandt und wo fand eine versteckte Triage statt? Ein Ziel wäre auch, Inklusion als Staatsziel im Grundgesetz festzuschreiben. Ähnlich wie z.B. den Umweltschutz. Damit hätten wir, wie man bei #FridaysforFuture leider sehen kann, noch lange das Ziel nicht erreicht und ein öffentliches gesellschaftliches Engagement nicht überflüssig, aber es wäre ein weiterer Schritt in Bezug auf Verfestigung von Inklusion. Denn wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention heißt: „Alle staatlichen Stellen“ haben dafür zu sorgen und sind zur Verwirklichung der Inklusion auf „allen Ebenen“ verpflichtet. Dazu müssen mehr Menschen mit Behinderungen in die Parlamente. Präventiv wäre es damit auch für alle rechtspopulistischen Regierungen schwieriger und umständlicher, „Experimente wie Inklusion“ (Zitat der AfD), wieder zurückzudrehen.

Maria Trümper: Welche Rolle spielen Menschenrechte in deinem privaten Leben und im Arbeitsalltag? Wo erfährst du durch deine Beeinträchtigung Diskriminierung und wirst an der Wahrnehmung deiner Menschenrechte behindert?

Uwe Wypior: Das Eintreten für die Einhaltung von Menschenrechten auch im Kleinen, im Privaten, aber auch in der Öffentlichkeit, erfordert Mut und viel, sehr viel Kraft. Nicht jede*r Arbeitgeber*in, Ärzt*in ist begeistert, wenn sie mit der Tatsache konfrontiert werden, dass zum Beispiel. ihre Praxis- oder Bürozugänge, ihre Homepages, 12 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention immer noch nicht barrierefrei sind. Das aufzuzeigen, ist, so erlebe ich das tagtäglich, eine Lebensaufgabe geworden.

Aber es gibt auch positive Phänomene: So erzählen mir Leute aus meinem erweiterten Umfeld, dass sie jetzt immer mehr Barrieren entdecken seit sie mich kennen. Sie fallen ihnen jetzt immer öfter auf und sie erinnern sich dabei an meinen Slogan „Barrierefreiheit beginnt in den Köpfen“. Dass das sogenannte „universal design“ nicht angewandt wird, wonach Verschlüsse und Verpackungen von Produkten für alle nutzbarer zu machen sind (dies aber leider überwiegend nicht zutrifft), nervt mich ebenso im Alltag wie nicht-barrierefreie Briefwahlunterlagen. Mit Leichter Sprache wäre auch da einiges an Teilhabe am politischen Leben zu entwickeln, was nicht nur für Menschen mit Behinderungen, sondern auch für Menschen nichtdeutschsprachiger Herkunft anbelangt.

Maria Trümper: Welchen aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen, glaubst du, werden wir uns und auch ich mich stellen müssen?

Uwe Wypior: Angesichts des zunehmenden Rechtspopulismus und das nicht nur in Deutschland, der mit Fremden- und Behindertenfeindlichkeit einhergeht, wird es wichtiger denn je, die Stimme für Menschenrechte bei allen sich bietenden Gelegenheiten zu erheben. Mein Appell lautet: Werdet politisch(er), empört und engagiert euch, werdet laut und sichtbar solange es noch geht!

Maria Trümper: Zu guter Letzt schauen wir in die nahe Zukunft: Ist eine Veranstaltung, bei der du als Referent eingeladen bist, für 2021 geplant?

Uwe Wypior: Ja, wenn Corona es zulässt, werde ich wie schon im letzten Jahr erfolgreich in Thüringen geschehen, im Rahmen des von der Hochschule Bremen von Frau Prof. Dr. Hirschberg geleiteten „INAZ-Projekts“ (Inklusive Bildung in der Alphabetisierungspraxis und im System des Zweiten Bildungswegs) als Referent tätig sein. Zielgruppe sind hierbei Kursleitende an Volkshochschulen, die Alphabetisierungskurse oder in Kursen des Zweiten Bildungswegs unterrichten, um diese für das Thema Behinderung zu sensibilisieren und Handlungsmöglichkeiten für die alltäglichen Herausforderungen in der inklusiven Unterrichtspraxis mit heterogenen Lerngruppen zu erarbeiten. Schwerpunkte sind dabei die Bewusstseinsbildung (menschenrechtsbasierte Auseinandersetzung mit den Begriffen Beeinträchtigung, Barrieren, Behinderung und Inklusion und ihrer Bedeutung für die Praxis), die barrierefreie Binnendifferenzierung (Techniken/Methoden für einen barrierefreien und binnendifferenzierenden Einsatz in heterogenen Lerngruppen) und der Umgang mit psychischen Behinderungen (eigenes Bewusstsein über psychische Behinderungen bilden und Unsicherheiten in der Lehr-/Lernsituation im Umgang mit psychischen Behinderungen abbauen).

Maria Trümper: Lieber Uwe, herzlichen Dank für deine Zeit und das Interview! Da wir ja eine CASCO-Interviewreihe sind: Welche*n CASCO-Referent oder Referentin möchtest du für das nächste Interview nominieren und warum?

Uwe Wypior: Mein Vorschlag für die nächste CASCO-Referentin, deren Interview vorgestellt werden sollte, lautet Martina Scheel. Ich habe Martina als verlässliche und kompetente Expertin in Sachen Inklusion kennen und schätzen gelernt. Ihre Erfahrungen, Vielseitigkeit und ihre gute Vernetzung, die sich in unserer Zusammenarbeit in verschiedenen Projekten gezeigt und bewährt haben, bereichern jeden Vortrag und jedes Projekt. Sie kann sich gut auf neue Techniken und Umstände einstellen.

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